Название | Der erste Landammann der Schweiz |
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Автор произведения | Georges Andrey |
Жанр | Документальная литература |
Серия | |
Издательство | Документальная литература |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783039198467 |
STURZ DES CORPS HELVÉTIQUE (1798)
Zunächst musste ein Schlussstrich unter die Schweiz in ihrer ursprünglichen Gestalt gezogen werden. Dem Marschall d’Affry war bewusst, dass die Revolution, hätte sie erst einmal Einlass in die Schweiz gefunden, durch nichts mehr aufzuhalten sein würde und dass sein Vater lediglich Zeit gewann, indem er das Unvermeidliche hinauszögerte. Fünf Jahre Zeit, die kein Mensch dazu nutzte, irgendwelche Reformen einzuleiten. Louis d’Affry wurde zum herausragenden Akteur des Zusammenbruchs des Ancien Régime in Freiburg. Wie sehr musste es dem Kanton Freiburg an geeigneten oder mindestens zur Übernahme einer gewissen Verantwortung bereiten Männern mangeln, wenn man sich dazu entschloss, seine Dienste in Anspruch zu nehmen! Als sich die französische Bedrohung konkretisierte, hielten die drei Kantone Freiburg, Bern und Solothurn in Zofingen Kriegsrat ab, um die Verteidigung vorzubereiten. Dorthin begab sich Louis d’Affry am 10. Januar 1798 in Begleitung von Generalmajor Nicolas de Weck. Ihr Auftrag geschah in grösster Heimlichkeit. Fred von Diesbach rief uns in Erinnerung, dass die beiden Offiziere «ermächtigt waren, mit den Verbündeten einen gemeinsamen Verteidigungsplan aufzustellen, ohne dabei einem kompromittierenden Versuch des Staates Freiburg die Hand zu leihen und ohne sich den von Bern getroffenen Massnahmen anzuschliessen. Diesen strengen Massnahmen stand Freiburg ablehnend gegenüber. Die Republik erwies sich mal als hochfahrend und fest entschlossen, dann wieder als von Unentschlossenheit gelähmt und politisch gespalten.»195 Von seinem Vater wusste d’Affry um die traditionelle Unentschlossenheit der Kantone und gab sich darum hinsichtlich ihres kollektiven Abwehrwillens keinen Illusionen hin. Anfang 1798 breitete sich der Waadtländer Aufstand wie eine Pulverspur auf die Freiburger Vogteien aus. Louis d’Affry erhielt den Oberbefehl über die am 23. Januar von der Freiburger Regierung zur Verteidigung der Stadt und der Altländer ausgehobenen Truppen und nahm an den Beratungen des Geheim- und des Kriegsrats teil, der am 30. die Aushebung der Miliz dekretierte. Angesichts der Gefahr eines französischen Einmarsches beschloss der Freiburger Grosse Rat eine Verfassungsänderung, welche die Volkssouveränität zur Grundlage machte. Louis d’Affry gehörte also am 28. Januar 1798 dem Kriegsrat und dem Geheimen Rat an. Am selben Tag verabschiedete der Grosse Rat die Revision der für Freiburg gültigen Verfassung im Sinne der Volkssouveränität. Als sich die Waadtländer Kontingente am Stadteingang einfanden, verhinderte d’Affry, dass sich irgendjemand zeigte, und untersagte das Trommelrühren. Er liess sich gemeinsam mit Ignace de Montenach den Auftrag geben, mit den Ankömmlingen als Parlamentäre zu verhandeln, und zog danach «ein Lied trällernd» ab, wie ein Zeuge berichtet. Er redete mit den Waadtländern, gewann ihr Vertrauen durch Lieferung einiger Nahrungsmittel und erreichte, dass sie sich entfernten. Sie zogen in Richtung Belfaux ab. Freiburg atmete auf. Aber wenn es einem an Stärke fehlt, muss man diplomatisch zu handeln wissen. Indem er das Waadtländer Bataillon des Kommandanten Alioth aus Vevey zum Abmarsch bewegte, zögerte d’Affry eine vom Zusammenstoss zwischen Waadtländer und Freiburger Patrioten ausgelöste revolutionäre Bewegung um einige Wochen hinaus. Hier stellte d’Affry die ihm eigene, meisterhafte Kunst aus Umsicht und Geschicklichkeit unter Beweis, die er dazu benutzte, seiner Heimat die Geissel des Bürgerkriegs so weit wie möglich zu ersparen. Man fühlt sich an seinen Vater erinnert, dessen erprobte Rezepte er sichtbar angewendet hat, aber damit endet der Vergleich auch schon. Was ihm damals noch fehlte, war die politische Genialität. Dass d’Affry herbeigerufen wurde, zeigt, wie unverzichtbar er war. Als Mitglied des Geheimen Rates und Befehlshaber der Freiburger Truppen gab er sich alle Mühe, Freiburg die Schrecken eines nutzlosen Kampfes zu ersparen. Er wollte das schaffen, was seinem Vater am 10. August versagt blieb. Max von Diesbach unterstrich, «seiner charakteristischen Mässigung und seines ungebundenen Geistes wegen wurde er dazu berufen, mit dem kommandierenden General Brune zu verhandeln».196 Aber Ménards Nachfolger Brune brachte es fertig, die Regierenden einschliesslich Louis d’Affry einzuschläfern. Letzterer besass eindeutig nicht das Format seines Vaters. Fred von Diesbach schrieb: «Er liess sich von den Verhandlungen täuschen, die Brune mit ihm und seinen Nachbarn führte, um Zeit zu gewinnen. Für den Franzosen war das aber eine blosse ‹Finte›. Die Berner liessen sich trotz den Protesten ihrer Generäle einwickeln. Ihre Abgesandten, Schatzmeister Frisching und Oberst de Tscharner de St. Jean, kamen in Payerne an. Die Freiburger, Louis d’Affry mit dem Kanzler der Republik Simon Tobie de Raemy und Nicolas de Gady, gingen ebenfalls in die Falle. Ihre Weisungen waren nach Aussage Gadys ‹vage, fast sinnlos› und ‹liefen lediglich darauf hinaus, den General dazu zu bringen, dass er nicht in den Kanton Freiburg einmarschiere›, und er fügte hinzu, ‹Herr d’Affry legte unter diesen Umständen eine grosse Energie an den Tag, aber vergebens. Wir kehrten zurück, ohne ein anderes Ergebnis vorweisen zu können als die Gewissheit eines bevorstehenden Einmarsches in die Schweiz.›»197
Der zur 18. Halbbrigade der Invasionsarmee in die Schweiz gehörige spätere französische General Jean Baptiste Materre schrieb anlässlich der Einnahme Freiburgs im März 1798 über d’Affry: «Nach den üblichen Aufforderungen wurden einige Kanonenkugeln abgefeuert; das veranlasste die Einwohner, zum Kommandeur der französischen Division einen Bevollmächtigten zu entsenden, um mit ihm die Übergabe der Festung auszuhandeln; sie delegierten Herrn d’Affry, vor der Revolution Oberst eines Schweizer Regiments im Dienste Frankreichs, einen versierten Höfling, geübt in Intrige und Versteckspiel, der die Freimütigkeit unseres Generals [Pijon] geschickt auszunutzen verstand, um ihn hinzuhalten, die Dinge in die Länge zu ziehen und damit seinen Auftraggebern die Zeit zur Evakuierung der Festung zu verschaffen, das Schönste und Beste wegzubringen und den Rest praktisch einsatzunfähig zu hinterlassen. General Pijon merkte ein wenig zu spät, dass ihn dieser gerissene Unterhändler an der Nase herumführte, liess Sergeant Barbe den Schutzwall ersteigen, sich beim Kommandanten die Stadtschlüssel beschaffen und befahl uns die Aufstellung in Marschkolonne zum Einmarsch.»198 «Gerissener Unterhändler» – der Begriff war geboren. Freiburg fiel wie eine reife Frucht oder genauer wie eine teigige Birne. Als die Franzosen am 2. März endlich vor Freiburg auftauchten, oblag es wiederum d’Affry, die Übergabe auszuhandeln. Er übernahm das hässliche Geschäft, das ihm nur schaden konnte. Aber das gesamte Patriziat hatte sich gedrückt, nur d’Affry sprang ein. So hob sein Biograf hervor: «Ihm wurde oft vorgeworfen, Freiburg unverteidigt übergeben und so der Berner Armee die linke Flanke geboten zu haben.»
Wie hätte er denn die Verteidigung vorbereiten sollen, da er doch Chef der Kontingente und Unterhändler zugleich war? Selbst wenn er die Zeit gehabt hätte, einen Plan zu entwerfen, wäre dieser durch die Desertion der Vogteien, das Zögern der Verbündeten, die Langsamkeit der bis mitten in die Schlacht andauernden wirren Verhandlungen zunichte gemacht worden. «In Erkenntnis der Nutzlosigkeit eines bewaffneten Widerstandes verhielt sich d’Affry sehr umsichtig und trug dazu bei, seiner Geburtsstadt die Übel des Krieges und insbesondere jene zu ersparen, die in der Krise dem Zusammenprall der Parteien zu erwachsen pflegen.» Dieses sehr ausgewogene Urteil äusserten de Stapfer und d’Usteri, zwei seiner Gegner, in ihrem Artikel in der Biographie universelle.199 M. Michaud schrieb: «Er machte sich die den Umständen angemessene Schmiegsamkeit zu eigen und erreichte einige Erleichterungen bei der Kapitulation Freiburgs.»200 Im Klartext: Er lieferte die Stadt den Franzosen aus und rettete sie so vor der Zerstörung. Sein Biograf Fred von Diesbach bemerkte dazu: «D’Affry wollte gerade aus dem Romont-Tor heraus, als ein Soldat auf ihn schoss, ihn aber zum Glück verfehlte. Die Unterhaltung geschah im Châtelet, einem kleinen Pavillon auf einer Anhöhe ausserhalb der Schutzwälle. D’Affry zeigte sich ungemein flexibel, höflich, bester Manieren und erlangte damit ehrenhafte Bedingungen. Nicht nur das, sondern er brachte den französischen General dazu, die ihm erteilten Weisungen etwas abzumildern. Es wurde vereinbart, dass die Stadttore von den Franzosen bewacht, die Freiburger Milizen entlassen, der Sieger aber die notwendigen Truppen in der Stadt belassen würde, um dort die Ordnung sicherzustellen, die Religion, das Besitztum und die Personen unangetastet zu lassen. Die zur Garnison gehörigen Berner und Sensler konnten mitsamt ihren Waffen die Stadt verlassen und waren an die Kantonsgrenze zu bringen.»201
Kaum war die Stadt am 2. März 1798 eingenommen, trat d’Affry für ein paar Tage in die provisorische