Der erste Landammann der Schweiz. Georges Andrey

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Название Der erste Landammann der Schweiz
Автор произведения Georges Andrey
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783039198467



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recht ungute Nachrichten, aber am heimischen Feuer besänftigt sich alles. Mein Vater ist überlastet. Das spürt er sehr wohl und will dennoch keine Entlastung. Insoweit denken wir nicht gleich.»

      Der Sohn schien dem Vater wahrlich keine grosse Hilfe zu sein. Am 17. Februar 1792 gab sich Louis offen fatalistisch:

      «Wir geniessen das Glück der Anarchie, aber bei vollem Bewusstsein betrachtet, ist es ein gemeines Glück. Trotzdem hindert es mich an nichts, heute Abend speise ich wie gewohnt in der Stadt. Man gewöhnt sich an alles. Allerdings wäre ich froh, wenn das alles endlich vorbei wäre.»

      Am 22. Februar teilte er seiner Schwester mit, «hier wird der Wirrwarr von Tag zu Tag schlimmer». Und stellt ironisch fest, «die Morde vervielfachen sich in Paris, dass es eine wahre Freude ist.» Am Ende drückte er die Hoffnung aus, bald wieder bei der lieben Schwester zu sein: «Gott weiss wann! Ich wünschte, man wendete in Prehl das Heu nicht ohne mich.» Am 7. März 1792 erhielt Brigadegeneral d’Affry gleichzeitig mit Maillardoz das Grosskomturkreuz des Ordens von Saint Louis oder, wie man es damals nennt, den zweiten militärischen Auszeichnungsgrad.130 Und wie üblich unterrichtete er davon am 11. März den Grossrat von Freiburg und empfing dessen Glückwünsche. Zu der Zeit verhielt er sich derart diskret, dass Pierre de Zurich anlässlich seiner Recherchen über Louis d’Affry am 6. Januar 1932 im Historischen Dienst nachfragte, was Louis zwischen dem 29. Juni 1791, als er den Posten in Huningue verliess, um nach Neubreisach zu gehen, und dem 10. August 1792, wo er zum Urlaub in seinem Anwesen in Prehl bei Murten eintraf, denn wohl getrieben haben könnte.131

      Am 4. April 1792 verkündete Louis seiner Schwester, sein Vater habe «allerdings noch gesundheitlichen Kummer, der einzig mit seinem Alter zu tun hat. Der Lauf der Dinge und seine Position sind ihm ein Horror. Er möchte alles in der Hand behalten, aber die Ereignisse überrollen ihn.» Höchste Zeit, sich vom Pariser Sumpf zu lösen, schrieb Louis seiner Schwester am 25. April: «Ich habe immer noch vor, am 2. Mai abzureisen, sofern, wie ich hoffe, nichts dazwischenkommt. Ich warte wie auf heissen Kohlen aus Sorge, ich könnte mich nicht auf den Weg machen. [...] Wir befinden uns in einer ernsthaften Krise.» Als er von der ersten französischen Niederlage bei Tournai erfuhr, bedauerte d’Affry am 2. Mai, nicht schon weg zu sein. Am 9. Mai befand er sich immer noch in Paris und «tobt innerlich». Am 16. Mai teilte er seiner Schwester mit, die Nationalversammlung versuche, das Schweizergarderegiment aus Paris zu entfernen: «Ich weiss nicht, wie das alles noch enden wird, bin aber darauf gefasst, dass es für uns bald etwas Neues gibt.»

      Der Sohn d’Affry war von den Ereignissen höchst enttäuscht und wurde von ihnen überrollt. Vielleicht begriff er nicht, warum sein Vater unbedingt in Frankreich bleiben wollte, und zweifellos entgingen ihm teilweise auch die Feinheiten seiner Politik. Der Administrator der Schweizer Truppen regelte allein die wesentlichen Aspekte des Frankreichdienstes und schien seinen Sohn nur selten ins Vertrauen zu ziehen, vielleicht aus Angst, ihn zu kompromittieren. Ob er damals grundsätzlich anderer Meinung war als sein Vater, lässt sich nicht sagen. Der zwangsläufig bald ins 19. Jahrhundert eintretende Sohn d’Affry schien den neuen Ideen gegenüber nicht so aufgeschlossen gewesen zu sein wie sein Vater. Wobei man die Modernität des Letzteren auch nicht überbewerten darf.

      Zu guter Letzt traf d’Affry Sohn, der es nicht erwarten kann, sich endlich zu «erholen» – sprich, sich auf seine Ländereien zurückzuziehen, um dort über das Unglück seiner Zeit nachzudenken, am 24. Juni 1792 in Freiburg ein.132 Soeben hatten die Revolutionäre den Tuilerienpalast gestürmt und damit gewissermassen die Generalprobe zum 10. Mai geliefert. Wie heiss kündete sich der Sommer in Paris an, und wie strahlend an den Ufern des Murtensees! Louis würde in aller Ruhe heuen können.

      Louis d’Affry verfolgte die letzten Monate der alten Monarchie aus der Ferne, während sein Vater ihrem dramatischen Sturz in vorderster Reihe beiwohnte. Louis, der Sohn des Obristen, und Charles, dessen Enkel, wurden rechtzeitig vom Schauplatz der Ereignisse entfernt. Louis d’Affry hatte Frankreich in der zweiten Maihälfte 1792 verlassen, während sein Sohn Charles am Vorabend des 10. August in die Normandie entsandt wurde. Kein d’Affry fand also den Tod in den Tuilerien. Wie ist es nach den Ereignissen vom 10. August zu verstehen, dass der Regimentsoberst und die übrigen Familienmitglieder, die doch alle wichtige Funktionen im Garderegiment ausübten, nicht als «wahre Patrizier»133 an der Spitze ihrer Truppen starben? Der Vater von Oberst d’Affry, Generalleutnant François d’Affry, hatte beim siegreichen Angriff an der Spitze seines Regiments in der Schlacht von Guastalla am 19. September 1734 den ruhmreichen Heldentod erlitten. Dass seinen Sohn 1792 nicht das gleiche Schicksal ereilte, hätte nicht ins Bild gepasst. Darum galten die d’Affrys, einer nach dem andern, lange Zeit logischerweise als im Kampf gefallen.134 So sehr kam es Revolutionsfreunden wie -feinden gleichermassen anfänglich gelegen, sie für tot auszugeben. Aufseiten der Revolutionäre, die dem Volk den Umfang des, wie es damals hiess, «Verrats» der Schweizer vor Augen führen wollten, ging es gar nicht anders, als deren Chef mit einzubeziehen.135 Auf Schweizer Seite schmälerte das Überleben des Schiffskapitäns den Opfergang der Offiziere. Nach den September-Massakern wurde d’Affry Vater in der Schweizer Presse erneut als gefallen ausgegeben.136

      

      16 Das Stadthaus in Freiburg erwarb Louis d’Affry im Jahr 1777. Es war die offizielle Residenz des ersten Landammanns der Schweiz.

      Die Erwähnung des Todes eines d’Affry-Sohns am 10. Mai reichte bis in eine anonyme, maschinenschriftliche Seite im persönlichen Dossier des Generalleutnants d’Affry im Kriegsarchiv in Vincennes hinein.137 Diese Legende hielt sich so hartnäckig, dass sogar der Autor der Notiz über seinen Sohn, der künftige Landammann der Schweiz, berichtete, «von Gefühl und Schmerz über den Verlust eines seiner beim Angriff auf die Tuilerien gefallenen Sohnes gebrochen, zog sich Augustin d’Affry in sein Schloss in Saint-Barthélémy zurück.»138 Nun hatte d’Affry nur zwei Söhne, von denen einer 1782 starb. Der am 4. November 1751 geborene Vicomte Jean Pierre Nicolas Charles Joseph d’Affry war am 15. Juli 1766 als 2. Unterleutnant in der Kompanie Castella ins Regiment der Schweizergarden eingetreten und hatte dann am 12. Oktober in die Generalleutnantskompanie gewechselt.139 Er heiratete mit Ehevertrag vom 4. Oktober 1780140 in Paris die 1763 geborene Adélaïde Louise Perrette Gigot de Garville, die ohne Nachkommen 1799 in Créssier starb; sie war die Tochter von Pierre François Claude Symphorien Gigot de Garville und Marguerite Charlotte Justine Soubeyran.141 Am 16. Januar 1780 erhielt er das Patent als Hauptmann der nach Graf d’Affry fortbestehenden Obristenkompanie des Regiments.142 War er wie geschaffen für das angebliche Opfer des 10. August? Unmöglich, denn er starb am 23. Oktober 1782 in Bern und wurde am 25. Oktober in Freiburg in der Familiengruft der d’Affry im Franziskanerkloster Freiburg beigesetzt.143 Es war also sehr wohl der künftige Landammann, den man für am 10. August 1792 gefallen ausgab. Nun befand sich aber Louis d’Affry während des ganzen Sommers offiziell auf Urlaub am Murtensee, während sein Sohn Charles an einer Eskorte in die Normandie teilnahm. Was Generalleutnant d’Affry anbelangt, so befand er sich am 10. August nicht etwa in den Tuilerien, sondern im von ihm gemieteten Haus von «Pont l’abbé» in der rue des Saint-Pères Nummer 9.144 Vermutlich meinten die Augenzeugen beim Anblick der Ordensbänder von Maillardoz und Bachmann, einer der beiden könne nur der Gardeoberst sein. D’Affry wurde zu seinem Schutz zum Sektionskomitee der Vier Nationen geschickt, wo man ihm riet, sich im Gefängis Abbaye als Gefangener zu stellen. Am selben Abend wurde d’Affry verhaftet, wiederum, um ihn vor dem wütenden Volk zu schützen, und an einen geheimen Ort verbracht.

      

      17 Erinnerungstafel am Stadthaus von Louis d’Affry, angebracht zum 200-Jahr-Jubiläum der Mediation am 10. März 2003.

      Am 19. August 1792 bringt der «Vertreter der Anklage der zweiten Sektion des für die Ermittlungen über die Ereignisse vom 10. August eingesetzten Gerichts» schwere Vorwürfe gegen d’Affry Vater vor: «Nach