Der erste Landammann der Schweiz. Georges Andrey

Читать онлайн.
Название Der erste Landammann der Schweiz
Автор произведения Georges Andrey
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783039198467



Скачать книгу

hatte sich gezeigt, dass man der Truppen nicht mehr sicher sein konnte, sodass die Schweizer nach Grenoble zu Hilfe gerufen werden mussten.100 Auf den Marktplätzen werden die Schweizer weitgehend dazu eingesetzt, die völlig überforderten Polizeiwachen zu unterstützen. Nach dem 28. Juni 1788 zieht das Regiment Sonnenberg in Grenoble ein, wo am 2. Juli 1788 das Regiment Steiner zu ihm stösst.101 D’Affry nimmt seinen Sohn Charles als Adjutanten mit. «Im Fort Barreau errichtete er sein Hauptquartier und befriedete das Land mit mehreren geschickten Manövern. Seine Aufgabe war ungemein schwierig. Zusammenstösse sowohl mit der Menge als auch mit aufrührerischen französischen Einheiten waren an der Tagesordnung. Eine eiserne Hand im Samthandschuh war vonnöten. D’Affry war tolerant und höflich, wusste sich aber zu behaupten. Mal stellte er seine Stärke zur Schau, um sich ihrer nicht bedienen zu müssen, mal gab er nach, um in mehreren erfolgreichen Schritten wieder die Oberhand zu gewinnen.»102 Am 3. Oktober musste das Regiment Steiner den Abmarsch von 200 Mann des Burgunder Regiments decken, «die die Volksmasse nicht weglassen wollte.» Ein anderes Mal wird er von Luckner beauftragt, drei Meilen von Grenoble entfernt den Staatsanwalt von Nogaret zu verhaften, was die Schweizer «nicht ohne Mühe erledigten, da sie mehrfach von Horden von Bauern und Bäuerinnen angegriffen wurden, die sie mit Kolben- und Bajonettstössen zurücktrieben». Im November 1790 wurden Truppenteile zur Grenzkontrolle nach Savoyen entsandt, insbesondere nach Echelles, um den heimlichen Getreideexport zu unterbinden. Am 24. Dezember 1790 schreibt der Syndikus und Generalprokureur an den Verwalter des Distrikts Grenoble, Margot, und bittet ihn, nach Entre-Deux-Guiers zu kommen, wo auf Befehl des Departementdirektoriums eine Schweizer Abteilung lagert, die den Getreideschmuggel mit Savoyen verhindern soll. Er teilt ihm mit, die Bevölkerung und die Behörden der Gemeinde versuchten, «den Schweizern dieser Garnison das Leben schwer zu machen, indem sie ihnen die nötigen Lieferungen verweigern [ ], anstatt die braven Soldaten, die man ihnen geschickt hat, dankbar aufzunehmen». Da «wir wissen, wie wichtig es ist, diese Abteilung an der Grenze zu halten», fordert er ihn auf, den Schweizern alles Nötige zukommen zu lassen.103 Unter diesen problematischen Umständen spielt d’Affry Sohn eine höchst diskrete Rolle. Ganz wie sein Vater schickt er sich an, dem revolutionären Sturm zu trotzen, ohne sich zu exponieren.

      Man weiss nicht recht, wer zu Beginn der Revolution tatsächlich das Schweizergarderegiment befehligte, Vater d’Affry oder Major Karl Joseph von Bachmann (1734–1792), denn Baron de Besenval ist seit seiner Entlassung aus dem Gefängnis kaum noch im Rennen. Ohnehin stirbt er im folgenden Jahr. Um die administrative Seite kümmert sich im Wesentlichen Oberstleutnant Jean-Roch de Maillardoz. Als sich im Spätsommer 1789 der Sturm einigermassen gelegt hat, bemüht sich d’Affry, sein Regiment nicht vorzeitig abziehen zu lassen. Wenn Major Churchill vorbringt, «der alte Graf d’Affry, der den neuen Ideen zuneigt und offenbar zu den Freimaurern gehört, [habe] praktisch das wirkliche Kommando über sein Regiment abgelegt»,104 übersieht er, dass d’Affry seine Funktionen delegiert, aber dennoch über die Elite der Schweizer Truppen in Frankreich die Oberhand behält, denn sie ist sein bester Trumpf. So weigert sich d’Affry, als das Schweizer Regiment von Unruhen erfasst wird, es trotz der «allgemeinen Verwirrung», wie Hauptmann de Loys schreibt, aus Paris abzuziehen.105 D’Affry verfügte über ein engmaschiges Netz familiärer, persönlicher und obrigkeitlicher Beziehungen. Seine ganze Familie wird herangezogen. Sein Sohn Louis, der künftige Landammann, soll als Mittelsmann zwischen ihm und Lafayette gedient haben, der die Nationalgarde befehligt und mit dem er in Briefwechsel tritt, um Befehle «für das Regiment» zu erlangen, während Marquis de Maillardoz, ein Neffe d’Affrys, darauf beharrt, sie persönlich auszuführen.

      Alles in allem spielt Louis eine zurückhaltende Rolle. Aus Grenoble zurückgekehrt, nimmt er seinen Dienst bei den Schweizergarden wieder auf, wo er die 2. Kompanie des 2. Bataillons kommandiert. Man glaubt, eine gewisse Enttäuschung zu spüren. Als gewiefter Beobachter immer schwerer zu beherrschender Ereignisse entdramatisiert er, gibt sich aber keiner Täuschung hin. Am 4. November 1789 schreibt er aus Paris an seine Schwester, die Gräfin von Diesbach, nach Courgevaux: «Die Nationalversammlung hat dekretiert, der Besitz des Klerus gehöre der Nation. Das erweckt grosses Aufsehen. Die Nationalversammlung hat den Parlamenten des Königreichs jede weitere Funktion untersagt. Auch das erregt grosses Aufsehen. [...] Über vieles tröste ich mich mit den italienischen Possenreissern hinweg, die die Weltbesten sind, aber wegen Dir und der Meinigen bin ich in grosser Sorge. Radau ist mir verhasst, und ich befinde mich mitten drin», klagt er wenig später. «Ich rauche meine Pfeife und bleibe zu Hause, soviel ich kann. Es regnet in Strömen, und gleich reite ich los. Wir nähern uns der Entscheidung. Noch weiss ich nicht, welche Rolle ich in dem sich abzeichnenden Stück spielen werde.»106 Louis d’Affry scheint sich abwartend zu verhalten. Inzwischen legt er Distanz zwischen sich und Paris und kehrt erst Anfang Oktober 1790 aus dem Urlaub zurück. Am 4. Oktober lässt er seine Schwester wissen, er habe den Vater «im Grunde bei guter Gesundheit, aber doch sehr geschwächt» angetroffen. «Er braucht Ruhe, und ich hoffe, er kann sie sich verschaffen.» Doch noch ist das Schlimmste nicht vorüber. Oberst d’Affry kann fortan allmählich auch auf seinen Enkel Charles Philippe, 3. Graf d’Affry, zählen, der am 7. April 1772 in Freiburg als Freiburger Bürger geboren wurde und 1786 seine militärische Laufbahn als Kadett bei den Schweizergarden beginnt. Dort wird er am 7. April 1787 Fähnrich und danach Adjutant seines Vaters in der Dauphiné (1788/89), am 8. Juni 1789 2. Unterleutnant der Oberstenkompanie, am 22. Mai 1791 1. Unterleutnant der Generalkompanie. Anfang August 1792 wird er sich bei der Lenkung der in die Normandie entsandten Abteilung der Schweizergarden besonders hervortun.

      Um den Mann, den ein Berner Offizier des Regiments Ernst 1791 «Papa d’Affry» nannte, ranken sich zahlreiche Legenden.107 Eine der hartnäckigsten, die den Beteiligten selbst während der Revolution ergötzte und die er mit Vergnügen kolportierte, ist die vom ruhmreichen, gichtgeplagten alten Trottel, der seinen Aufgaben nicht mehr nachkommen konnte. Wenn der sieche d’Affry seine Krankheit dazu benutzte, um bei Besuchern Eindruck zu schinden, hatte er sich offenbar Voltaire zum Vorbild genommen. Bis zum letzten Atemzug besass d’Affry weitgehend seine geistige Klarheit, wie Augustin de Forestier, Schatzmeister und Quartiermeister der Schweizergarden, in einem Brief vom 20. Juni 1793 an Beat Fidel Zurlauben bestätigte.108 Der kränkliche Greis verstand es hervorragend, sein Alter und seine Gichtanfälle so zu dosieren, dass er sich nicht kompromittierte oder – neben seinen persönlichen Belangen – seinen Auftrag gefährdete, nämlich die Schweizer Interessen in Frankreich zu verteidigen, kurzum: das französisch-schweizerische Bündnis, die territoriale Integrität und die Neutralität der Eidgenossenschaft inmitten des aufgewühlten Europa zu bewahren. Am 1. April 1791 wurde ihm die schwere Aufgabe übertragen, die Militärdivision von Paris und der Ilede-France zu befehligen. Wie auch immer, 1792 fiel das Alter des Generalleutnants im Verhältnis zur Unersetzlichkeit seiner Persönlichkeit kaum ins Gewicht, war er doch der einzige Schweizer, der die unterschiedlichen Tendenzen, die sowohl Frankreich wie seine Heimat spalteten, zu meistern verstand. In einem Schreiben des französischen Aussenministeriums vom 25. April 1792 (fünf Tage nach der Kriegserklärung an Österreich) wurde vorgeschlagen, «d’Affry zum Marschall Frankreichs zu ernennen und ihm die Administration der Schweizer Regimenter zu übertragen, die gegebenenfalls die Grenzen zu verteidigen haben.»109 So war dieser unersetzliche Freiburger von Versailles praktisch der einzige Schweizer, dem diese höchste Ehre für einen Soldaten zuteil wurde.110

      Damals wünschte sich Louis ein Kommando, das seinem Dienstgrad entsprach, wobei er zum Generalleutnant aufzusteigen hoffte, wie er am 12. Januar 1791 von Paris aus seine Schwester wissen liess. Er schrieb: «Die Ungewissheit des Schicksals von Herrn de B[esenval] bedeutet eine grosse Unsicherheit für das meinige. Ich werde mich je nach den Umständen verhalten.» Er reichte seinen Rücktritt aus der 17. Militärdivision ein. Am 9. Dezember 1790 wandte sich der des Stationsdienstes überdrüssige d’Affry an Kriegsminister Du Portail (Duportail) mit der Bitte um Ernennung in der Armee und er erhielt am 1. Januar 1791 die Beauftragung als Brigadegeneral in der XVIII. Militärdivision beim Oberbefehl über die im Departement Haut-Rhin stationierten Truppen. Damit befand er sich am Samstag, 22. Januar 1791, an der Spitze der Militärregierung