Название | Der erste Landammann der Schweiz |
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Автор произведения | Georges Andrey |
Жанр | Документальная литература |
Серия | |
Издательство | Документальная литература |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783039198467 |
Louis verbrachte die Kindheit zusammen mit seiner älteren Schwester Madeleine, mit der ihn ein Leben lang tiefe Zuneigung und Einverständnis verband, wie nachstehende muntere Episode ihrer kindlichen Spiele auf dem Lande veranschaulicht:
«Ich fühlte mich besonders zu Pferden hingezogen und hatte mir ein bizarres Spiel mit ihnen angewöhnt, an dem auch meine Schwester mit gutem Erfolg teilnahm. Wir begaben uns gemeinsam auf die Wiesen, auf denen die Pferde des Dorfes weideten; jeder von uns beiden hielt etwas Brot in der Hand, und in der Tasche versteckten wir ein kleines Zaumzeug. Wir waren noch zu klein, um auf die Pferde zu springen, die sich vom Brot anlocken liessen, von dem wir zwei Stücke auf den Boden legten; sobald sie es aufnahmen, setzten wir uns ihnen rücklings auf den Hals, und wenn sie den Kopf hoben, sassen wir auf. Dann trabten wir, mit oder ohne Zaumzeug, auf ihnen kreuz und quer, solange sie Lust hatten; wollten sie nicht mehr oder waren wir müde, sprangen wir ab, fest entschlossen, das Spiel am nächsten Tag zu wiederholen. Die braven Tiere gewöhnten sich problemlos an den vorübergehenden Verlust ihrer Freiheit, und wenn sie uns kommen sahen, rannten sie schon herbei, weil sie sich an unser Brot gewöhnt hatten. Diese Fabel kann den Menschen eine Lehre sein, sie haben es im Allgemeinen nötig.»
Wen wundert es, dass Madeleine und Louis ihr Leben lang eine Vorliebe für die Freuden eines einfachen Landlebens im Schoss der Familie bewahrten? Während seiner militärischen Laufbahn in Frankreich wird Louis auf seinem Halbjahresurlaub bestehen, der es ihm erlaubt, zum Heuen und zur Weinlese in die Schweiz zu kommen, sogar im tragischen Sommer 1792, der die Vernichtung des Regiments der Schweizergarden mit sich bringt.
Sein in Versailles geborener Vater entscheidet, es sei an der Zeit, seinen Sohn aus dem Freiburger Landleben herauszunehmen. Die erste Phase seines Daseins beschreibt Louis so: «So lebte ich unter den Augen meiner Mutter, die mich zärtlich liebte, bis zu meinem zehnten Lebensjahr, als ich nach Paris abreisen musste, wohin mich mein Vater rief, damit ich dort meine Ausbildung beginne.» In Lons-Le-Saulnier trifft er seinen Vater, der ihm aus Paris entgegengekommen ist. Eine seltene Gelegenheit für die Familie, ein paar Tage zusammen zu erleben. In Dijon muss er sich von seiner Schwester trennen, die ins Lyzeum der Ursulinen eintritt, gleich danach von seiner Mutter, die nach Freiburg zurückkehrt. Erstmals sieht er Paris aus der Kutsche seines Vaters, in der er in die Stadt der Lichter einfährt, nicht ohne eine gewisse Beklemmung:
«Die Kutsche meines Vaters erschien uns herrlich, hatte sie doch einen goldenen Fond, wie damals üblich. Mein Erstaunen war gross, denn bis dahin hatte ich nur Pillers Freiburger Kutsche gekannt, die Jahr für Jahr Offiziere aus dem Halbjahresurlaub nach Paris zurück beförderte, und bislang hatte ich geglaubt, schönere könne es nicht geben [...]. Wir genierten uns etwas über unser Aussehen. Ich trug einen roten Plüschanzug. Auf meinem Kopf thronte eine grässliche und völlig unfrisierte Perücke, die man mir in Freiburg verpasst hatte, um meinen kahlen Schädel zu verdecken, den man mir nach einer Krätze rasiert hatte, an der ich sterben zu müssen meinte.»39
Der kleine Louis findet sich in einer komplett fremden Welt wieder. Bei der Ankunft gleich neben der Porte des Feuillants in der Rue St. Honoré, wo sein Vater damals wohnt, sieht er diesen im Gespräch mit einem sehr schönen Mann, den das Kind für den König von Frankreich hält, weil er ein blaues Ordensband trägt; es ist aber Fürst Ludwig von Württemberg, Generalleutnant im Dienste Ludwigs XV., «der mit meinem Vater sehr verbunden war, sehr gelehrt», wie Louis erkennt, aber «von philanthropischen Gedanken beherrscht». Die Naivität des Jungen veranlasst den Vater, ihm schon am Tag der Ankunft einen Streich zu spielen:
«Mein Vater, der sich an unserem Erstaunen und unserer Unwissenheit ergötzen wollte, nahm uns noch am selben Abend in seinem schönen Gefährt mit, um uns die grossartige Beleuchtung der Quais zu zeigen. Sie bestand aber aus nichts anderem als den Laternen, die damals Paris beleuchteten und nicht mehr hergaben als den Schein der armseligen Kerze, die in ihnen steckte; mit dem geringen Erstaunen, das das in uns hervorrief, war Vater ganz und gar nicht zufrieden. Er wollte es am nächsten Tag dadurch gutmachen, dass er uns ein Spektakel sehen liess, von dem wir keine Vorstellung haben konnten. Er führte uns in die Oper. Diesmal war seine Idee ein voller Erfolg. Ich verstand zwar rein gar nichts, war aber trotzdem entzückt. Abbé Prin, der an sich schon der Umgebung in unserer Loge ein Schauspiel war, meinte, die Ballette würden von Engeln getanzt, und sagte zu meinem Vater, was er sehe, vermittle ihm eine Vorstellung vom Paradies. Meinen Vater freute das überaus und er lachte sein Leben lang jedesmal, wenn die Rede darauf kam.»
Sehr erstaunt ist Louis darüber, dass man um drei Uhr isst. «Ich weiss noch, wie lächerlich ich es fand, dass man in Paris um drei Uhr dinierte, weil ich meinte, am selben Tag habe in Freiburg alle Welt um elf Uhr gespeist.» Aber «die Zeit der Vergnügungen und Abwechslungen dauerte nur ein paar Tage.» Die zwei folgenden Jahre verbringt Louis in Pension bei Herrn Renoir in Picpus. Marie, die Tochter des späteren Landammanns, hat uns eine Beschreibung des Verhaltens ihres Grossvaters in der Familie hinterlassen: «Er war ein geistvoller Zuchtmeister, verfügte über grosse Mittel und verdankte die bedeutende Stellung, die er erlangte, seiner Intelligenz und seinem Geschick. Nach den Mahlzeiten liess er seine Kinder und die Offiziere, die sich bei ihm zum Dienst befanden, seine schlechte Laune spüren.»40 Und über den Voltairianer fügt sie hinzu: «Die Angelegenheiten, mit denen er sich befasste, und die Gesellschaft der Philosophen hatten die religiösen Prinzipien seiner Kindheit geschmälert.»
Louis wird in das angesehene Jesuitenkolleg Louis-le-Grand eingeschult, das über 3000 Schüler hat, darunter Mitglieder des königlichen Geschlechts und Söhne sehr hoher Herren. Dort erhält er eine solide humanistische Bildung und lernt sittliche Werte achten, ebenso erlernt er die französische Redekunst und Lebensart, Höflichkeit und Raffinement, die im Übrigen seinem Charakter entgegenkommen; später heben zahlreiche Zeitgenossen sein Taktgefühl und seine «Zartheit», Diskretion und Aufmerksamkeit anderen gegenüber hervor. Während seiner Ausbildung bei den Jesuiten zusammen mit dem Prinzen de Conti setzt sein Vater seine brillante militärische Laufbahn fort, die auch seinem Sohn zum Vorteil gereichen wird. Andere Einflüsse bilden ein Gegengewicht zu denen der Jesuiten und sorgen dafür, dass sich bei ihm jener Geist der Offenheit und des Ausgleichs heranbildet, der ihm später erlaubt, schwierige Entscheidungen zu treffen. Als sein Vater 1755 zum ausserordentlichen Gesandten in Holland ernannt wird, wird Louis der Fürsorge von Madame Geoffrin41 anvertraut, die einen der grössten literarischen Salons von Paris unterhält; dort verkehrt er mit Gelehrten und Philosophen. So darf man sich den jungen Burschen vorstellen, wie er aufmerksam den Worten des 25 Jahre älteren Herrn d’Alembert lauscht. Später geht im Stadthaus der d’Affry in der Rue du Bac der gesamte Adel ein und aus, ein wahrer Reigen von Herzögen: Rohan, Cossé, Quélen, Damas, die Herren von d’Aumont, die Villequier sowie einige vielversprechende Generalpächter. Bald wird er den Umgang mit ebenso vielen Politikern und künftigen Ministern pflegen: Vergennes, Malesherbes, Turgot, Montmorin, Necker, Loménie de Brienne, mit Diplomaten, darunter einem Nuntius, mit dem Residenten von Genf in Paris, zahlreichen höheren Offizieren, unter anderem dem Grafen von Saint-Germain, mit Luckner, Narbonne, La Fayette, dem Marschall von Biron, den Louis Auguste d’Affry freitags anlässlich des militärischen Diners empfängt, des sogenannten «Wisc», an das sich Musik und Spiele anschliessen; Umgang auch mit Schriftstellern, Gelehrten und Künstlern: Raynal, Mallet-Dupan, Delille, Barthélemy und Dr. Tronchin, die der Vater mittwochs empfängt. Das Konversationsvergnügen setzt sich bei Tischgesprächen fort, und allezeit gibt es Neues zu hören, das bei d’Affry nicht auf taube Ohren stösst.42 Auf diese