Название | Die baltische Tragödie |
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Автор произведения | Siegfried von Vegesack |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783853653296 |
Einleitung
„Was frommt es, dem Verlor’nen nachzuklagen?“ Siegfried von Vegesack – der Dichter des „Unverlierbaren“
Nirgends ist der Himmel so hoch und die Erde so groß,
nirgends sind die Wälder so ohne Ende.
Nirgends die Birken so weiß und so grün das Moos
und so rot am Abend die flammenden Sonnenbrände.
Nirgends ist die Erde so tief und das Wasser so stumm,
tief im bemoosten Brunnenschacht liegt es versunken.
Knarrend hebt sich die Stange, verwittert und krumm –
aber nirgends hab’ ich so gutes Wasser getrunken.
Nirgends ist der Sommer so hell – und so kurz.
Schon dunkeln die Weidenstümpfe, die Stoppelfelder, die müden.
Über dem Moor, immer tiefer zum Horizont, im flügelnden Sturz,
ziehen mit klagendem Schrei die Kraniche nach Süden.
Ein Land, geprägt von der Weite des Raumes, des Himmels, voller Wälder und Moore, Kornfelder und Kiefernstrände, unterbrochen nur von einzelnen, verstreut liegenden Gutshöfen, durchzogen von Lindenalleen, auf denen altmodische Kutschen und Kaleschen fahren: Eine Landschaft im Baltikum, mit Elchen und Störchen, die von der Rigaer Bucht in Lettland bis an den Peipussee an der estnisch-russischen Grenze reicht – Livland. Immer wieder hat der baltendeutsche Dichter Siegfried von Vegesack seine „Nordische Heimat“, wie dieses 1935 von ihm veröffentliche Gedicht heißt, lyrisch besungen. Den großen, inneren Auftrag, jene „versunkene Welt“ wieder ans Licht zu holen, der ihn von da an nie mehr losließ, verspürte er in der Mitte des Lebens, im 45. Lebensjahr. Er bedeutete die Hinwendung zu den Ursprüngen. Insbesondere mit seiner Prosa, allem voran der „Baltischen Tragödie“, hat er ein unverwechselbares Lebenswerk geschaffen und seiner verlorenen Heimat ein wohl einzigartiges Denkmal gesetzt.
Wer war der „Baron mit dem Monokel“ auf dem gesunden Auge, als den ihn seine Nachbarn kannten, und wie fand er zum Schreiben? Mit dem für ihn typischen, hintergründigen Humor schildert der am 20. März 1888 Geborene in seiner (wohl 1932) für die „Rigasche Rundschau“ verfaßten „Drei-Minuten-Biographie“ jenen Abschnitt bis zum dreißigsten Lebensjahr, der die wohl einschneidendsten Veränderungen mit sich brachte: „Auf dem väterlichen Gute Blumbergshof in Livland als neuntes Kind meiner Eltern geboren, wollte ich mit zehn Jahren Missionar werden. Ich las eifrig das Missionsblatt ‚Hosianna‘, lief in den Wald und predigte laut (da keine Schwarzen vorhanden waren) den Tieren und Bäumen. Später schoß ich ebenso eifrig Eichhörnchen, Hasen, Rehe, Füchse und zuletzt sogar einen Elch. Machte das Abitur, ich gestehe es tief beschämt, mit silberner Medaille, studierte (wenn man das so nennen darf) in Dorpat (ich weiß kaum noch was), verlor das linke Auge auf der Mensur, machte mit dem anderen Auge das russische Staatsexamen, setzte das Studium in Heidelberg, Berlin und München fort und war gerade fertig, als der Krieg ausbrach.
Da der russische Staat keine einäugigen Soldaten brauchte, konnte ich ungestört nach Schweden fahren, wo ich mit dreißig Rubeln in der Tasche ankam, mir zwei goldene Trauringe kaufte und mich am nächsten Tag in Stockholm trauen ließ. Ich arbeitete in der Redaktion einer schwedischen Zeitung, dann bei Paul Rohrbach in Berlin, nährte mich in der großen Zeit von Kohlrüben, Tee und Zwieback, den man nach langem Anstehen gegen ärztliches Zeugnis bekam und der aus Sägespänen hergestellt wurde. Als meine Beine blau wurden und die Adern platzten, floh ich mit meiner Frau und der sechs Monate alten Tochter in den Bayerischen Wald.
Hier fanden wir einen alten Raubritterturm mit Spuk und Gespenstern, der seit Jahren leer stand und deshalb für ein Butterbrot zu haben war. Mit vierundsiebzig Bierseideln (die einzige Hinterlassenschaft der alten Raubritter), sechs steinernen Kanonenkugeln und einem ungeheuren runden Tisch richteten wir uns gemütlich ein. Dann kauften wir uns eine Ziege, dann eine Kuh. Ich lernte das Mähen (zwei Sensen flogen dabei in Stücke), meine Frau das Melken, wir aßen Pilze, Beeren, Brennesseln und wurden gesund.“
Die Frau, die Vegesack in seiner Kurzbiographie erwähnt, ist seine erste Ehefrau, die schwedische Arzttochter und Schriftstellerin Clara Nordström (1886–1962). Sie ist es, die ihn zu seinem künftigen Schriftstellerberuf ermutigt, sie leitet ihn an. Kennengelernt haben sich die beiden im Frühjahr 1914 in München: Die Schriftstellerin in der Schwabinger „Pension Gisela“ ist die Tischnachbarin des Studenten bei den gemeinsamen Mahlzeiten. Bald verloben sie sich, und der Historiker kehrt mit ihr in die Heimat zurück, wo er mit einer Anstellung an der „Rigaschen Rundschau“ rechnet. Aber der Ausbruch des Ersten Weltkriegs durchkreuzt ihre Pläne: Clara Nordström muß das Baltikum verlassen. Vegesack folgt ihr nach Schweden; am 16. 2. 1915 heiraten sie.
Ein Jahr später ziehen sie zurück ins deutsche Kaiserreich. Da wegen Vegesacks russischem Paß Schwierigkeiten bei seiner Einwanderung nach Deutschland drohen, bürgt Ferdinand Graf Zeppelin, „der Luftschiffonkel“, der mit dessen Tante Isabella verheiratet ist, für ihn. Gemeinsam mit anderen Exilbalten arbeitet der Frischvermählte in der Pressestelle des Auswärtigen Amtes unter Paul Rohrbach in Berlin. Im „Ausschuß für deutsche Ostpolitik“ gibt er Korrespondenzen, Briefe und Bücher über die Baltische Frage und das Verhältnis zwischen Deutschland und Rußland heraus. Von Anfang an setzt sich der blonde junge Mann für eine Verständigung mit den Esten und Letten ein. Auf diese Tätigkeit bezieht sich jene Stelle in der „Baltischen Tragödie“, in der er die deutschen Gutsherren und Barone über sich sagen läßt: „Daß aber ein livländischer Edelmann sich dazu hergibt, für diese Kullen in Berlin Propaganda zu machen […] – das ist schon die Höhe! Was mag das für ein Vegesack sein? Sitzt in Berlin und will uns belehren.“
Mit den ersten politischen Artikeln erscheinen auch die ersten Gedichte. „Siegfried von Vegesacks zarte, leise und manchmal auch etwas spöttische Verse haben einen Unterton von versteckter Müdigkeit und überwacher Verträumtheit: Sie verbergen viel und verkleiden es mit seltsamen Masken“, urteilt Bruno Goetz in seinem Vorwort zu der Anthologie „Die jungen Balten“ (1916). Auch die ersten großen literarischen Arbeiten, die Vegesack schreiben wird – expressionistische Theaterstücke mit solch programmatischen Titeln wie „Die tote Stadt“, 1923 in Cottbus (ungedruckt), und „Der Mensch im Käfig“, 1926 in Prag mit Paul Hörbiger recht erfolgreich uraufgeführt – stehen noch ganz unter dem Einfluß seiner Berliner Zeit.
Im vorletzten Kriegsjahr verläßt die junge Familie Berlin und siedelt in den Bayerischen Wald über, wo der Dichter 1918 mit dem Geld seiner Schwiegermutter für 1800 Reichsmark jenes mittelalterliche Gemäuer erwirbt, das ihm zur neuen Heimat wird: seinen „Turm“, den ehemaligen Getreidespeicher der Burgruine Weißenstein oberhalb von Regen. Hier wird er fast fünfzig Jahre wohnen, hier schreibt er den Großteil seiner Werke. Im selben Jahr erlangt er die deutsche Staatsbürgerschaft. – „Nach dem grauenhaften Emigrantendasein in der Stadt, im Büro, auf fremden Gütern, ist hier dieses Leben gerade das richtige für mich! Die meisten wollen sich ja gar nicht hier in Deutschland einleben, sie hoffen auf das alte Rußland, sie sitzen zwischen zwei Stühlen in der Luft. Es gibt doch nur zwei Möglichkeiten. Entweder man bleibt in der alten Heimat, ordnet sich dort in die neuen Verhältnisse ein, oder man kommt nach Deutschland und wird hier nicht nur auf dem Papier Reichsdeutscher!“ läßt er den baltischen Baron Kai von Torklus, die stark autobiographisch gefärbte Hauptfigur seines ersten Romans, später sagen. Aber noch 1923 muß er sich gegen die Behauptung, er sei „kein Deutscher“, die über ihn in Regen im Umlauf