1918 - Wilhelm und Wilson. Magnus Dellwig

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Название 1918 - Wilhelm und Wilson
Автор произведения Magnus Dellwig
Жанр Документальная литература
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Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783874683647



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bekennen.

      Denn am 6. April, ein Tag vor der Osterbotschaft Wilhelms II., hatten die Vereinigten Staaten dem Deutschen Reich den Krieg erklärt. Dazu wäre es kaum gekommen, hätte das Reich nicht am 1. Februar den 1916 eingestellten uneingeschränkten U-Boot-Krieg wieder aufgenommen. Ich sage es heute frei heraus. Auch ich, Gustav Stresemann, war damals ein unbedingter Befürworter dieser Strategie. Wie viele in Deutschland war ich doch so zuversichtlich, dass England kriegswirtschaftlich zusammenbrechen würde, falls es uns gelänge, die Zufuhr von Rohstoffen und amerikanischen Fertigwaren über den Atlantik zu unterbinden. Wie viele schloss auch ich nicht aus, dass die USA als hauptsächlich betroffene neutrale Macht vielleicht gegen die Monarchien in Berlin und Wien später einmal in den Krieg eintreten würden. Schließlich stand die Nation unter der Leitung eines von der missionarischen Sendung zur weltweiten Ausbreitung der Demokratie erfüllten Präsidenten. Und als es dann am 6. April tatsächlich geschah, da beruhigte ich mich wie viele andere mit der trügerischen Gewissheit, es werde Jahre dauern, bis die USA in nennenswertem Umfang Truppen mobilisieren, ausbilden und nach Frankreich schicken könnten. Zu lange würde das auf jeden fall dauern, um noch Einfluss auf den Kriegsausgang im Westen nehmen zu können. Mein Gott, wie hatte ich damals den Parolen anderer leichtfertig glauben geschenkt! Mein Gott, wie hatte ich mich doch geirrt, wenn ich all mein heutiges Wissen um den Verlauf des Jahres 1918 hinzunehme!

      Erzberger setzte mit seinem Textentwurf für eine Friedensresolution des Deutschen Reichstags vor allem auf Eines: Bethman-Hollweg hatte bei einer Konferenz mit dem Kaiser und der OHL am 23. April 1917 in Bad-Kreuznach die Pläne Ludendorffs kritisiert. Diese beinhalteten weiterhin umfassende direkte Annexionen in Frankreich sowie aus dem ehemaligen Zarenreich und dann die Einverleibung ganz Belgiens in das Reich. Das war über Kreise der Heeresleitung an die Presse und in die Öffentlichkeit gelangt. Ganz Deutschland spekulierte so seit Mai, wie der Konflikt wohl eskalieren werde. Gerade weil sämtliche Reichstagsfraktionen in Machtfragen ein Übergewicht beim Militär erblickten, gerade weil wir im Parlament den Kaiser als zunehmend entscheidungsschwach wahrnahmen, musste etwas passieren, das weit über die bisher öffentlich wahrgenommenen politischen Debatten hinauswies. Zentrum, Sozialdemokraten und Fortschrittler wollten der OHL mit Hindenburg und Ludendorff an der Spitze durch eine breite Mehrheit für einen Verhandlungsfrieden einen kräftigen Dämpfer verpassen. Der Kaiser sollte erkennen, dass die Mehrheit der deutschen Öffentlichkeit nicht mehr länger bereit war, für umfassende Kriegsziele millionenfaches Hungern und zigtausendfaches Sterben auf weiterhin unabsehbare Zeit in Kauf zu nehmen.

      Doch es kam anders: Die am 6. Juli eingebrachte Resolution forderte einen Frieden ohne Eroberungen, da keine Aussicht mehr auf den militärischen Sieg bestehe und das deutsche Volk nach dem Frieden verlange. Die Resolution erhielt nach zweifacher Lesung am 19. Juli die gewünschte breite Mehrheit. Allerdings stimmten meine Nationalliberalen dagegen. Es blieb bei der Zustimmung der Parlamentsmehrheit der drei sogenannten demokratischen Parteien. Statt den schwachen Reichskanzler Bethmann unter einem schwächer werdenden Kaiser zu stärken, oder aber den Kaiser zur Berufung eines energischen Nachfolgers mit Friedensambitionen zu veranlassen, wurde Bethmann-Hollweg nach acht Jahren Kanzlerschaft entlassen. Allein die sich abzeichnende Parlamentsmehrheit für die Resolution bewirkte die Forderung Hindenburgs und Ludendorffs nach Entlassung des Reichskanzlers am 11. Juli. All dies bewog den Kanzler schließlich zu seinem Rücktrittsgesuch vom 13. Juli. Unter dem Einfluss der OHL nahm der Kaiser an. Bethmanns Nachfolge wurde schon am 14. Juli Georg Michaelis. Der galt als vorsichtiger Beamter und gerüchteweise als von Gnaden Hindenburgs und Ludendorffs in das neue Amt eingesetzt.

      Deutschland gab sich von nun an und fortdauernd der Illusion hin, ein „Weiter so!“ im Sinne des Septemberprogramms Bethmann-Hollwegs von 1914 werde irgendwann schon zum Siege führen. Aber wie dorthin gelangen? Ich selbst teilte diesbezüglich gewisse Hoffnungen der Spitzenmilitärs, die früher oder später auf den Zusammenbruch der Russen setzten. In Petrograd war am 21. Juli Fürst Lwow zurückgetreten und endlich vom starken Mann der Regierung, Kriegsminister Fürst Kerenski, ersetzt worden. Nun musste sich zeigen, ob es der Regierung gelingen würde, die Kontrolle über die Armee zurückzuerlangen. Falls nicht, waren zwei Entwicklungen möglich: die Auflösung der Front und der baldige deutsche Sieg im Osten, dann aber auch der Sieg des Revolutionärs Lenin im Inneren über die republikanische, liberale Regierung! Beim Gedanken daran wurde mir ganz anders! Ich dachte im August 1917 manches Mal an Goethes Faust. Würde es uns gelingen, die Geister, die wir mit dem plombierten Wagon gerufen und in ihm nach Petersburg geschickt hatten, wieder zu bändigen, geschweige denn wieder los zu werden? Und dann kam der Monat September.

      Der Tag von Sedan! Ich persönlich empfinde ihn als den höchsten nationalen Gedenktag des Deutschen Reiches. In Ehrerbietung vor dem Sieg der deutschen Waffen in der Entscheidungsschlacht des deutsch-französischen Krieges von 1870/71 wird nicht nur der Gefangennahme Kaiser Napoleons III. und der Einschließung großer Teile seiner Armee gedacht. Mehr noch begehen wir Preußen, jedoch alle Deutschen einmütig mit uns, die Ablösung Frankreichs als größter Macht Kontinentaleuropas durch das neu gegründete Deutsche Reich. Immerhin hatte die Suprematie der Grande Nation 1648 mit dem Ende des Dreißigjährigen Krieges begonnen und über 200 Jahre gewährt. An diesem 2. September 1917 hielt Seine Majestät vor ausgewählten Mitgliedern von Reichstag, Regierung und Heeresleitung, von diplomatischem Korps und nationaler wie internationaler Presse eine nun wahrlich nationale Rede. Wilhelm II. rühmte die Tapferkeit und die Kampfkraft unserer Truppen. Er dankte allen gesellschaftlichen Gruppen für den Burgfrieden und bezeichnete den Zusammenhalt der deutschen Gesellschaft als unerreicht, wenn wir uns mit den Gegnern verglichen. Daher, so seine Schlussfolgerung, sei das Reich unbesiegbar trotz einer Welt voller Feinde. Amerika erwähnte Wilhelm nur mit einem lapidaren Satz:

      „Die größte Landmacht der Welt zeigt Respekt vor den großen Leistungen des amerikanischen Volkes, insbesondere auf wirtschaftlichem Gebiete.“

      Mit anderen Worten: Das Militär gehöre schließlich nicht zu den Stärken der USA und flöße uns daher keine Angst ein. Seine Majestät fuhr mit unvermindert prägnanter Rhetorik fort. Deutschland sei trotz zahlreicher Opfer in genau drei Jahren Krieg zum ehrenvollen Frieden für alle Krieg führenden Parteien bereit. Es müsse ein Frieden sein, der die Sicherheit des Reiches in Europa gewährleiste. Ins Detail ging er nicht. Alle Gäste, die Orientierung in Fragen der Kriegsziele oder des Wahlrechts in Preußen erwartet hatten, blieben enttäuscht zurück.

      Anschließend hatte der Kaiser zum Ball anlässlich des Sedan-Tages geladen. Das Berliner Stadtschloss war festlich in schwarz-weiß-rot geschmückt. Die Ehrengarde hielten Offiziere des Kürassier-Regiments Kronprinz von Preußen. Hunderte Gäste aus dem gesellschaftlichen Leben von Hauptstadt und Reich kamen zusammen. Für mich war es eine helle Freude, nach nunmehr fast zwei Monaten der auch reisebedingt langen Unterbrechung unserer regelmäßigen Zusammenkünfte die Freunde Walther Rathenau und Albert Ballin wiederzusehen. Albert war mit seinem Sohn Thorsten angereist. Die Ehe der Ballins war kinderlos geblieben. Auf die Adoption von Mariannes und Alberts Tochter Irmgard 1893 folgte 1896 die Adoption Thorstens, ebenso wie Irmgard ein Kind aus einem verarmten Zweig der großen Verwandtschaft von Mariannes Familie Rauert.

      Der junge Mann, frisch beförderter Oberleutnant der Artillerie und von daher mit der Gunst von einer Woche Erholungsurlaub belohnt, genoss den anstehenden Ball ganz besonders. Die vielen eleganten Menschen, darunter Offiziere aller Waffengattungen in ihren Paradeuniformen, ein Orchester, das Walzer und ein weites Spektrum an Tanzmusik präsentierte und dann selbstverständlich die festlich in langen Ballkleidern sich präsentierenden Damen des Hofes versetzten Thorsten Ballin in Begeisterung.

      Seine Majestät hielt eine kurze Ansprache und eröffnete den Ball. Dabei betonte er die Stärke der deutschen Waffen, die Tradition preußisch-deutscher Siege in den Waffengängen von Friedrich II. bis Sedan. Disziplin und Mut des deutschen Landsers, Gehorsam und Befehlsgewalt des deutschen Offiziers würden von keiner Armee der Welt erreicht. Deshalb sei ihm nicht bange vor den Prüfungen, die Deutschland bis zum endgültigen Siege über sämtliche seiner Feinde noch bevorstünden. Und dann kamen die Sätze, die mich aufhorchen ließen:

      „Der Eintritt der Vereinigten Staaten von Amerika in den Krieg gegen uns beweist mir, zu welchen Handlungen der Hörigkeit gegenüber den Massen eine Demokratie sich zuweilen hinreißen lässt. Daraus, meine sehr verehrten Damen und