1918 - Wilhelm und Wilson. Magnus Dellwig

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Название 1918 - Wilhelm und Wilson
Автор произведения Magnus Dellwig
Жанр Документальная литература
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Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783874683647



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Gründen des Öfteren in der Reichshauptstadt. Hoffentlich könne er ihn manches Mal begleiten, wenn der Heeresdienst ihm auch in Zukunft nochmals Fronturlaub ermöglichen werde.

      Zur gleichen Zeit habe ich mit Albert Ballin und Walther Rathenau am Rande des Tanzsaales zusammen gestanden, bis wir uns im Nachbarsaal eine kleine Sitzgruppe suchten und dort unser Gespräch über die zunehmende Inanspruchnahme der deutschen Kriegswirtschaft durch die Folgen des millionenfachen Fronteinsatzes der erwerbstätigen männlichen Bevölkerung vertieften. Doch wir drei bleiben nicht lange allein. Der Kronprinz betritt den Saal gefolgt von Oberst Bauer und Hugo Stinnes. Als er mich erblickt, kommt er mit freudigem Gesichtsausdruck zu uns herüber. Walther raunt mir zu, am liebsten würde er uns nun verlassen. So wenig Neigung verspüre er zu einer Diskussion mit dem Herrn Kommerzienrat von der Ruhr über die unabdingbare Notwendigkeit der Niederringung der französischen Kohlewirtschaft. Wir erheben uns und begrüßen die Ankömmlinge. Für sechs Personen wäre ohnehin kein Sitzplatz an diesem Tisch gewesen. Doch in der gegenüberliegenden Ecke des kleinen Saales steht eine Sitzgruppe mit zwei Sofas und zwei Sesseln, die uns Platz bietet. Wilhelm geleitet uns dorthin und ruft mit lauter Stimme eine Bedienung herbei, die unsere Bestellung aufnimmt. Ganz ohne Zweifel agiert er hier wie der Hausherr. Schon der Ton seiner Stimme signalisiert mir: Jede Unterredung, die heute noch folgen mag, wird ganz anders verlaufen als im Mai hier in seinem Büro im selben Hause. Der Kronprinz befindet sich hier in der Öffentlichkeit, ganz abgesehen davon, dass die Anwesenheit von Hugo Stinnes nicht ohne Wirkung bleiben dürfte.

      Der Zechenbaron aus Mülheim ist übrigens Mitglied der Partei, deren Reichstagsfraktion zu führen inzwischen meine Aufgabe geworden ist, nachdem mein väterlicher Freund Ernst Bassermann im Juli verstarb. So ist es jetzt an mir, auf Stinnes offen zuzugehen und ihn in unser Gespräch einzubeziehen. Hugo Stinnes strahlt an diesem Abend noch größeres Selbstbewusstsein aus als sonst. Ich kann mir nur einen Reim darauf machen: Die Entlassung von Bethmann-Hollwegs als Reichskanzler vor knapp zwei Monaten schreibt er sich gemeinsam mit seinen Freunden Hugenberg und Co. auf die Fahne. Dass er dabei in engstem Schulterschluss mit der OHL handelte, muss den Triumph in seiner Wahrnehmung nur noch steigern. Die Industriellen von der Ruhr haben schließlich seit dem letzten Jahr so vorbehaltlos wie keine andere Wirtschaftsgruppe Hindenburg und Ludendorff in ihrem verschärften Kurs zur Mobilisierung aller Kräfte unterstützt. Das war zugleich gepaart mit einem signifikanten Verzicht auf Kompromissbereitschaft gegenüber unseren Gegnern im Feld. Hugo Stinnes begrüßt mich außerordentlich freundlich. Als Fraktionsvorsitzender scheine ich auch für ihn trotz mancher Differenzen in der Sache ein respektabler Gesprächspartner zu sein. Etwas anders fällt die Begrüßung meiner Freunde Walther und Albert aus. Völlig distanziert bezeichnet er sie als die Herren des Weltmarktes. Nun bliebe nur noch abzuwarten, ob sie auch noch zu den Verfechtern von Kompromissen mit der Sozialdemokratie avancierten. Dass wir alle drei dazu tendierten, sei immerhin seine feste Überzeugung. Es ist der Kronprinz, dem es gelingt zu verhindern, dass unser Gespräch sogleich unter einem ungünstigen Stern beginnt.

      „Aber, aber, mein lieber Stinnes, ich habe schon so manches Hühnchen mit Herrn Doktor Stresemann im kleinsten Kreise gerupft. Und ich kann Ihnen bestätigen: Seine Auffassungen mögen manches Mal zwischen unkonventionell und mutig schwanken, dennoch ist und bleibt er einer der verlässlichsten vaterländisch gesinnten Politiker unseres Landes. Deshalb möchte ich sie alle an diesem schönen festlichen Abend herzlich bitten, nicht den politischen Streit zu suchen, sondern sich der Annehmlichkeiten des höfischen Lebens mitten im Kriege zu erfreuen.”

      „Kaiserliche Hoheit, wie kommen Sie bloß auf die Idee, zwischen so vaterländisch gesinnungstreuen Nationalliberalen wie Herrn Doktor Stresemann und mich passe auch nur ein Blatt? Wir stehen unverbrüchlich zur totalen Mobilisierung unseres Heeres und unserer Rüstung durch das beherzte Eingreifen der Herren Exzellenzen Hindenburg und Ludendorff. Und wir tun dies für ein großes gemeinsames Ziel in diesem wahrlich großen Kriege: für die Erringung der Vorherrschaft Deutschlands über den europäischen Kontinent einschließlich seiner Schwerindustrie.”

      „Wenn sich Ihre Skepsis, verehrter Herr Kommerzienrat, nicht gegen Ihren Parteifreund Stresemann richtet, dann werden ja wohl Herr Doktor Rathenau und ich die unsicheren Kantonisten sein, zu denen sie sich hier schweren Herzens gesellt haben.” Der Kronprinz schlägt sich mit beiden Händen auf die Schenkel und lacht laut auf.

      „Herrlich, meine Herren, das nenne ich einen humorvollen, offenen Schlagabtausch unter gestandenen deutschen Männern! Aber auch Sie, lieber Herr Ballin, werden kaum bezweifeln, dass Kommerzienrat Stinnes und mit ihm die gesamte führende Gruppe der Männer von der Ruhr mit großer Weitsicht und völlig zu Recht die nachhaltige Schwächung der französischen Schwerindustrie anstreben, um nach dem Kriege auf Dauer Macht, Wohlstand und Arbeit für Deutschland zu sichern. Ich verstehe übrigens auch gar nicht, warum sich Männer der Wirtschaft seit Monaten darüber streiten, ob nun der Mitteleuropäische Zollverein und freie Märkte das Allheilmittel für die Nachkriegszeit bereithalten oder aber die Angliederung Belgiens und des Erzbeckens von Longwy / Briey an das Reich. Machen wir es uns doch nicht unnötig schwer, meine Herren! Im Friedensvertrag werden wir beides durchsetzen!”

      Wilhelm lächelt daraufhin voller Zufriedenheit über seinen eigenen Humor, um sogleich Oberst Bauer fest in die Augen zu blicken.

      „Oder ist unser glorreiches Herr etwa nicht dazu in der Lage, einen solchen Frieden zu erkämpfen, lieber Oberst Bauer?”

      Bauer kennt seine kaiserliche Hoheit selbstverständlich viel zu lange und zu gut, um über diesen Schwenk überrascht sein zu können. Im Gegenteil strahlt er Ruhe, Gelassenheit, und Selbstbewusstsein aus, nippt am soeben servierten Kognak und lässt sich hinreißend viel Zeit mit seiner Antwort.

      „Meine Herren, Hoheit, sie lassen mir viel zu viel der Ehre angedeihen, dass ich nun für die Oberste Heeresleitung sprechen soll. Doch wir dürfen wohl den Aufwand tatsächlich scheuen, zur Beantwortung dieser Frage Herrn Generalfeldmarschall von Hindenburg aus dem großen Ballsaal zu uns herüber zu holen.”

      Wie im Mai bin ich fasziniert von der angenehmen Schlagfertigkeit des Obristen. Ich amüsiere mich mit einem kurzen Kichern und die übrigen Mitglieder unserer Tischrunde tun es mir gleich.

      „Also will ich mein Bestes geben, um Ihnen zu antworten, kaiserliche Hoheit. Das deutsche Heer ist heute das beste der Welt. Im Osten siegen wir über einen zahlenmäßig überlegenen Gegner und rücken immer weiter vor. Im Westen halten wir einem sowohl zahlen- auch als ausrüstungsmäßig überlegenen Feind seit fast drei Jahren mutig, diszipliniert und erfolgreich stand. Somit ist eure Zuversicht, kaiserliche Hoheit, vollständig gerechtfertigt. Doch wenn ich in die fragenden Gesichter der Herren Ballin, Rathenau und Kommerzienrat Stinnes blicke, so lese ich dort die Worte: Standhalten ist ja gut und schön. Aber wie wollen sie gewinnen, Bauer? Auch auf diese Frage hat die dritte OHL eine überzeugende Antwort, so überzeugend, dass wir an unseren als unverbrüchlich richtig und notwendig erkannten Kriegszielen gänzlich und ohne Abstriche festhalten sollten. Excellenz Ludendorff und seine Mannen in der OHL sind sogar davon überzeugt, das Reich müsse in Verantwortung vor Gott, der Nation und der Geschichte all seine Kriegsziele vollumfänglich durchsetzen!”

      Oberst Bauers große, sogar theatralische Worte haben uns andere ein wenig eingeschüchtert, und zudem unsere Spannung gesteigert, mit welcher Konklusion er jetzt aufwarten werde. Heißt die Lösung wohl wieder U-Boot-Krieg oder vielleicht doch inzwischen eher Russland? Mit diesem Gedanken sehe ich zu Walther Rathenau, der neben mir im Sessel sitzt. Walther lächelt mich an, beugt sich leicht nach vorn und flüstert kaum hörbar.

      „Jetzt kommt wieder England.“

      Ich presse die Lippen leicht aufeinander und wiege ebenfalls fast unmerklich den Kopf. Ich meine Oberst Bauer inzwischen so gut beurteilen zu können, dass ich ihm mehr zutraue als bloß die Standardantwort seiner beiden obersten Vorgesetzen Hindenburg und Ludendorff aus den zurückliegenden zwölf Monaten zu repetieren.

      „Als das Jahr 1917 begann, setzten wir in der Obersten Heeresleitung unsere gesamte Zuversicht in die verheerende Wirkung unserer U-Boot-Waffe auf England. Experten aus Wirtschaft und Seehandel prophezeiten uns, England werde den Verlust kriegswichtiger Importe, von Rohstoffen und amerikanischen Halbzeugen nicht lange verkraften. Nach spätesten