1918 - Wilhelm und Wilson. Magnus Dellwig

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Название 1918 - Wilhelm und Wilson
Автор произведения Magnus Dellwig
Жанр Документальная литература
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Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783874683647



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der Westfront. Und heute Abend dürfen sie ein Fest mit der kaiserlichen Familie und mit allen Annehmlichkeiten, wie sie uns sonst nur der Frieden zu bieten vermag, feiern.”

      „Tatsächlich, es ist faszinierend. Und auch ich empfinde diesen Ball als etwas unwirklich. Kommt man von der Front zurück in die Heimat, dann bekommt man Schwierigkeiten mit jeder Form der Normalität im Alltag. Für mich jedenfalls ist nicht dieser Ball die Normalität, sondern mit meinen Kameraden in Wind und Wetter an unseren Geschützen zu stehen. Ich habe aber, damit sie das nicht falsch verstehen, jedes Verständnis dafür, wenn eine junge königliche Dame vom Hofe zwar an den Krieg das eine oder andere Mal denkt, aber als ihre Welt dann doch eher solch schöne Bälle der kaiserlichen Familie empfindet.”

      Helena lächelt Oberleutnant Ballin bei dessen Worten an, als habe sie auf so etwas nur gewartet.

      „Ganz so bin ich aber doch gar nicht, Herr Oberleutnant Ballin. Ich verschließe nicht die Augen vor dem Leiden an der Front, vor der Furcht der Frauen und Kinder daheim, ob die geliebten Männer gesund zurückkehren mögen. Ich sehe sehr wohl auch die harte Wirklichkeit für das normale Volk.”

      „Wenn das so ist, Prinzessin, wünsche ich mir von ihnen einen Besuch bei mir in Hamburg. Dann könnten wir uns die sehr unterschiedlichen Wohnviertel meiner Heimatstadt erwandern und ein Gespür dafür entwickeln, wie sich das Leben der einfachen Familien durch den Krieg verändert hat. Sehr gerne würde ich sie in meiner Heimat Hamburg begrüßen und genügend Zeit haben, ihnen die Stadt zu zeigen.”

      „Vielen herzlichen Dank für Ihre Einladung, Herr Oberleutnant. Grundsätzlich nehme ich mit Freuden an. Doch ich kann noch nicht absehen, ob meine kaiserliche Herrin es für mich als schicklich erachtet, zu ihnen nach Hamburg zu reisen.”

      „Oh, da machen sie sich mal keine zu großen Sorgen. Mein Vater ist mit dem Kronprinzen und sogar mit dem Kaiser persönlich recht gut bekannt, ich sehe daher gute Chancen, sie einmal nur für kurze Zeit der Obhut ihrer kaiserlichen Hoheit zu entziehen.”

      Helena lacht und nickt.

      „Ja, dann bleibe ich sehr gespannt darauf, wie ihre Einladung ausfällt, mein lieber Herr Oberleutnant Ballin. Falls sie Erfolg haben sollten, dürfen sie mir gerne ihr schönes Hamburg zeigen.”

      Diese Antwort ist mehr als Thorsten Ballin für heute zu hoffen gewagt hat. Er ist mit sich und Helena durchaus zufrieden und bringt sogar die Gelassenheit auf, fortan seiner Herzensdame wieder von der Seite zu weichen. Für den weiteren Abend wechseln Helena und Thorsten sowie die übrigen jungen Leute ihrer Gruppe das Thema und wenden sich so banalen Dingen zu wie dem Tanz, dem Essen oder gar so großen Dingen wie dem Studium und der Arbeit oder auch dem Gedanken an eine - stets standesgemäße und großartig gefeierte - Eheschließung samt Familiengründung nach diesem Kriege.

      Zur gleichen Zeit an jenem Abend, es war bereits eine Stunde vor Mitternacht, geriet Albert Ballin in eine Unterredung zwischen zwei Parteifreunden. Hugo Stinnes und ich tauschten uns gerade über die Leistungen des heute Abend abwesenden Generalquartiermeisters aus. Albert Ballin stellte, wie er mir kurz darauf gestand, fasziniert fest, wie ruhig und selbstbewusst sein beinahe zwanzig Jahre jüngerer, seit der Übernahme des Fraktionsvorsitzes im Juli überaus einflussreicher Freund, wieder einmal agierte. Ihm persönlich war Stinnes arrogantes Auftreten, sein zur Schau getragener Anspruch auf die unbedingte Führungsrolle der Ruhrindustrie innerhalb der deutschen Wirtschaft, suspekt, unsympathisch, ja mehr als das. Ballin mied instinktiv das Gespräch im kleinen Kreise mit einem Mann, dem der Ruf vorauseilte, er kaufe jede Steinkohlenzeche auf, wenn sich nur eine Gelegenheit dazu biete. Ballin nahm Stinnes übrigens als einen Bruder im Geiste von Alfred Hugenberg wahr, der zweiten unbestrittenen Führungsfigur der Ruhrindustrie. Der Vorstandsvorsitzende von Krupp war wichtigster Financier sowohl des Alldeutschen Verbandes als auch der Nationalliberalen Partei. Trotz ihrer wirtschaftlichen Erfolge mit der HAPAG und der AEG konnten er, Ballin, und unser gemeinsamer Freund Walther Rathenau da keinesfalls an Einfluss mithalten. So spürte Albert Ballin seit der Berufung der dritten OHL ein wachsendes Unbehagen. Die Falken von der Ruhr mit ihren manches Mal überhand nehmenden Forderungen nach Land und deutscher Macht im Westen wie im Osten gewannen zuletzt zu viel Einfluss auf das politische Leben, auf Organisationen, die der militärischen wie der zivilen Reichsleitung nahe standen. Hinzu trat offenbar zu allem Überdruss die große Nähe in der Sache zwischen den Ruhrindustriellen und Erich Ludendorff. Angesichts der augenscheinlichen Behäbigkeit des Generalfeldmarschalls war der Quartiermeister bereits damals im September 1917 sicherlich die entscheidende Figur des Heeres. Die Übereinstimmung jener Herren darin, den Arbeitern sowohl im Betrieb als auch in Preußen nicht mehr Mitsprache einzuräumen, der feste Wille, dass der Krieg innenpolitisch nicht als Katalysator für Reformen wirken möge, vollzog Albert Ballin persönlich nicht nach. Seine monarchische Gesinnung, seine vaterländische Haltung hielten ihn nicht davon ab, die Zukunft Deutschlands gerade auch durch Reformen im Inneren zu sichern.

      „Wir an der Ruhr sind sehr froh darüber, mit welcher Ernsthaftigkeit seine Exzellenz, der Generalquartiermeister, unsere nationalen Interessen in der Reichsleitung, gegenüber dem Reichskanzler und auch dem Kaiser vertritt. Zum Kronprinzen soll er, wie man so hört, ebenfalls beste Drähte unterhalten. Da können wir Nationalliberalen doch wohl augenblicklich recht zufrieden sein, nicht wahr, verehrter Herr Doktor Stresemann?

      „In der Tat, ich bin, was die Kommunikation mit der Reichsleitung anbelangt, derzeit recht gut gestimmt. Ich persönlich stelle ebenso fest, dass die maßgeblichen Herren das Gespräch mit dem Fraktionsvorsitzenden durchaus suchen. Besonders wichtig ist mir aber, dass wir uns als Partei und als gesamte Nation noch mehr als bisher mit der Bestimmung dessen befassen, was denn nun die unverzichtbaren nationalen Interessen sind, die uns in den Frieden führen müssen.”

      „Unverzichtbar, das ist, mit Verlaub gesagt, das falsche Wort, das falsche Maß, Herr Doktor Stresemann. Es geht doch nicht um das, was wir als Mindestmaß festlegen. Es geht doch wohl darum, was wir wollen, um Europa in Zukunft zu beherrschen. Der natürliche Vorsprung der deutschen Industrie gegenüber unseren Nachbarn in West und Ost muss durch den Frieden auf unabsehbare Zeit gefestigt werden. Da wollen wir doch nicht zu klein denken!”

      „Verehrter Herr Kommerzienrat Stinnes, da haben sie vollkommen Recht und mich womöglich nur ein klein wenig missverstanden. Selbstverständlich wird das Deutsche Reich nur dann einem Friedensschluss zustimmen, wenn dieser die Lebensgrundlagen unserer Nation festigt und ausbaut. Wir sind das größte Volk Europas und unsere Industrie ist nach derjenigen der Vereinigten Staaten die größte und modernste der Welt. Das gibt uns das Recht, für die Zukunft Märkte zu erstreben, die den Wohlstand von 70, 80, irgendwann einmal 100 Millionen Bürgern unseres Reiches sicher stellen. So weit herrscht ganz ohne Frage Einigkeit zwischen allen maßgeblichen Herren der Nationalliberalen Partei, und allen Männen in der Wirtschaft, die uns unterstützen. Worüber wir aber vielleicht noch eindringlicher reden müssen, sind die Gegebenheiten, die abzuwägenden Eventualitäten, verehrter Herr Kommerzienrat, unter denen der Feind sich an den Verhandlungstisch mit uns setzen wird.”

      „Mein lieber Doktor Stresemann, ihre Vorsicht und Weitsicht in allen Ehren. Sie sind Politiker und nicht Wirtschaftsführer, deshalb steht es ihnen vielleicht zu, derartige Überlegungen anzustellen. Ich sehe das hingegen - übrigens in völliger Übereinstimmung mit meinen Freunden Alfred Hugenberg und Albert Vögler als den Sprechern der Nordwestdeutschen Eisen- und Stahlindustrie - dann doch eher so wie Herr Generalleutnant Ludendorff. Bei meinem letzten Besuch im Großen Hauptquartier in Spa eröffnete er uns, Longwy und Briey seien bald, sehr bald deutsch. Das Hilfsdienstgesetz greife und es erhöhe sich die Produktion an Munition und Waffen. Vor allem aber gelte dies nicht für die Franzosen. Und die Engländer litten unter unserer U-Boot-Blockade. In dem Moment, in dem wir zig Divisionen aus dem Osten abziehen könnten, weil Russland zusammenbreche, sei auch im Westen der Krieg entschieden. Sie sehen, lieber Doktor Stresemann, ihre Sorgen um den Frieden sind nun wirklich unbegründet. Wir werden bekommen, was wir verlangen. Mehr als das, wir werden bekommen, was unser Volk für seine große Zukunft so dringend benötigt. Achten sie als unser Fraktionsvorsitzender eher einmal darauf, dass die Reichsregierung Michaelis nicht genau so zaudert wie dieser Bethmann-Hollweg. Es war unentschuldbar, dass der Reichskanzler a.D. ständig auf die restlose Durchsetzung der berechtigten Ansprüche Deutschlands