1918 - Wilhelm und Wilson. Magnus Dellwig

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Название 1918 - Wilhelm und Wilson
Автор произведения Magnus Dellwig
Жанр Документальная литература
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Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783874683647



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ist doch nicht wahr! Das denke ich. Diese Falken von der Ruhr geben sich immer blumigeren Illusionen hin, was die materielle Fähigkeit unseres Heeres zu Offensiven anbelangt. Und das angesichts der größeren Mannschaftsstärke unserer Gegner. Und das angesichts des Zurückbleibens unserer Industrieproduktion hinter dem Vorkriegsstand. Und dann auch noch angesichts der wachsenden sozialen Unruhe im Land, auf die der letzte Hungerwinter und die Revolution in Russland erheblich verschärfend wirken. Was sollte da erst werden, falls die Vereinigten Staaten wirksam in den Krieg eintreten wollten? Ich bin sauer auf Hugenberg und seine Bande. Diese Ignoranz, immer nur in einem Korridor zu denken, der zwei Leitplanken hat. Die eine heißt: Was nicht sein kann, das nicht sein darf. Die andere lautet: Sieg und vorwärts! Da wir ja zu Hause an der Ruhr mit der Arbeiterschaft auch keine Kompromisse schließen, braucht es das Reich in der Welt erst recht nicht! Meinen stillen Ärger unterbricht der Kronprinz mit einer sehr offenherzigen Aussage.

      „Dass Hugenberg Bethmann loswerden will, dass pfeifen die Spatzen in Berlin ja seit Monaten von den Dächern. Aber was will er denn anders haben? Ich bin ja nun bekanntermaßen auch kein Freund des Reichskanzlers. Doch mein Herr Papa hält schließlich an ihm fest. Wenn ich etwas unternehmen wollte, dann würde ich mir Herrn Ludendorff bei der Hand nehmen und beim Kaiser vorsprechen. Schließlich kann nur er ihn entlassen. Und dennoch weiß ich nicht, ob Hugenberg den geraden Weg, unverhohlen seine Forderung vortragend, in den letzten Wochen gegangen wäre.”

      „Ich ebenfalls nicht, kaiserliche Hoheit. Doch die Idee finde ich gut, dass wir beide um eine Audienz bei ihrem Herrn Vater nachsuchen und sagen: Bethmann ist gegen die totale Mobilisierung der deutschen Wirtschaft für den Krieg. Bethmann hat überhaupt keine Idee mehr, wie er den Krieg gewinnen und beenden will, weder politisch noch militärisch. Das Land versinkt allmählich in Trostlosigkeit, schlimmer als dass, in Lethargie und Trott. So kann man doch nicht alle Kräfte zusammen bündeln für das große Finale! Wenn ich Bethmann etwas Entscheidendes vorwerfe, dann ist es das: Er ist einfach nicht in der Lage dazu, dass ein Ruck durch Deutschland geht, vom Stahlarbeiter bis zum Junker. Ich meine einen kräftigen Ruck, der alle zusammenschweißt für die große letzte Anstrengung zum Sieg.”

      „Sehr verehrter Herr Generalquartiermeister, ich bitte sie darum, nicht all zu leichtfertig den Parolen aus Essen zu folgen, die letzte große Offensive sei möglich und werde den Feind bis an die Pyrenäen treiben.”

      „Aber, aber, mein lieber Doktor Stresemann, ich bin verantwortliches Mitglied der OHL. Ich will und ich muss an die Kraft der deutschen Waffen, an unsere Fähigkeit glauben, eine den Krieg zu unseren Gunsten entscheidende Offensive auszuführen. Das gebieten mir mein Amt und mein Ethos als deutscher Offizier. Sie wollen doch wohl nicht behaupten, das Reich könne sich nur noch verteidigen, es könne aber nicht mehr vorrücken.”

      „Nein, nein, verehrter Herr Generalleutnant, ich meine das anders. Wir haben noch viele Chancen und Optionen. Nur schwindet unsere Kraft, im Westen den vollständigen Sieg zu erringen. Davon, ob wir hier in diesem Raum diese Beurteilung teilen, davon, ob wir uns das eingestehen, hängt so viel ab! Davon wird unsere Bereitschaft geprägt, unsere objektiven Sicherheitsbedürfnisse und Interessen mehr nüchtern zu analysieren und dann festzustellen: Das Reich kann auch dann die erste Macht Europas bleiben und an Gewicht gewinnen, wenn wir uns nicht vollumfänglich durchzusetzen vermögen sollten.”

      „Das geht in Ordnung, lieber Stresemann. - Ich muss ein wenig auf die Uhr achten, meine Herren. Sie sind mir als Gäste lieb und teuer. Selten habe ich ein so anregendes und vielfältiges Gespräch geführt. Doch meine liebe Gattin wartet an diesem Abend noch auf mich, da ich endlich wieder einmal für mehrere Tage in Berlin weile. Private Pflichten, ein Dinné mit meinem Herrn Papa, sie verstehen. - Und doch, bevor wir auseinander gehen: Lieber Herr Doctor Stresemann, sie haben da eben etwas angedeutet. Wie sieht ihre Vorstellung von einem Frieden im Westen aus, der unsere Position in Europa und der Welt verbessert, ohne dass der Feind restlos geschlagen ist, ohne dass die Ziele von Herrn Hugenberg allesamt auf dem gedruckten Papier des Friedensvertrages stehen werden?”

      Kronprinz Wilhelm hat recht. Im Westen wird der Krieg entschieden. Jetzt allemal, da die Russen im Zuge ihrer Revolution die Kampfmoral allmählich einbüßen und wir darauf spekulieren dürfen, mit ihnen einen Sonderfrieden zu schließen. Das kann schon dann eintreten, sobald die neue Regierung von der Sorge umgetrieben wird, die Front könnte zusammenbrechen und wir uns anschließend die Gebiete holen, die wir besetzen können. Vielleicht sogar die Ukraine einschließlich! Im Westen werden wir aber, davon bin ich seit dem letzten Hungerwinter und auch nach den nur marginalen Erfolgen der Produktionssteigerung durch das Hilfsdienstgesetz zutiefst überzeugt, den vollständigen Sieg nicht mehr erreichen. Auf dem Boden dieser Erkenntnis sollte unser Reich fortan Politik treiben. Wie wichtig wäre es, Wilhelm und Ludendorff für meine Position einstimmen, besser noch einnehmen zu können!

      „Kaiserliche Hoheit, verehrter Herr Generalquartiermeister, Oberst Bauer, sie alle drei sind erfahrene und kompetente Militärs. Das bin ich nicht! Und doch muss ich mir als führendes Mitglied einer bedeutenden vaterländisch gesinnten Reichstagsfraktion meine Gedanken über den zukünftigen Kriegsverlauf im Westen machen. Bitte, hören sie mir zunächst einfach zu und wir erörtern anschließend, wo sie mir meine Sorgen nehmen können:

      Zahlenmäßig sind uns Briten und Franzosen leicht überlegen. Was Disziplin und Kampfkraft betrifft, ist der deutsche Landser dagegen nicht zu schlagen. Doch fast drei Jahre Krieg haben uns eines gelehrt: Der moderne Krieg ist ein Abnutzungs- und Materialkrieg. Durch einen kühnen strategischen Erfolg lassen sich wenige Kilometer Gelände gewinnen, aber den Zusammenbruch des Gegners erreichen wir dadurch nicht. Warum aber ist dies so? Der moderne Massenkrieg kennt erstmals die geschlossene Front über hunderte von Kilometern. Da gelingt es nicht mehr, durch eine Entscheidungsschlacht die militärische Macht des Feindes vollständig zu schwächen. Und das technische oder strategische Instrument, die Front zu durchbrechen und anschließend regelrecht aufzurollen, das ist leider noch nicht erfunden.”

      „Na, wer weiß? Ich möchte nicht ausschließen, dass die englischen Tanks so weit verbessert werden könnten, dass sie den Krieg revolutionieren würden.”

      „Aber mein lieber Bauer, machen sie mir bloß keine Angst. Ich möchte die Zeit noch erleben, dass ich als Kaiser in einem glorreichen Frieden herrschen darf.”

      Ludendorff und ich müssen lachen. - Ich werde mich etwa ein Jahr später an Oberst Bauers denkwürdige Worte erinnern und sie werden mich im Ringen um den Frieden einmal mehr zum Handeln bewegen. Doch zurück zur Frage des Kronprinzen. Wie steht es im Westen?

      „Hinzu kommt, dass wir, um vom Kanal bis zu den Alpen anzugreifen, Millionen mehr an Soldaten bräuchten. Die Front ist heute schon etwa 900 Kilometer lang. Bei einem Durchbruch über die Marne und einem Vorstoß auf Paris würde sie sehr bald über 1.000 Kilometer lang. Vielleicht kämpfen auf der Seite der Entente bald auch noch Amerikaner mit. Auf jeden Fall ist die Rüstungswirtschaft des Gegners dazu fähig, mehr Geschütze und Flugzeuge herzustellen als unsere eigene. So kommt es, dass der Zivilist Stresemann, der große Stücke auf unsere Landser hält, für den Fall eines Friedens im Osten partielle Erfolge im Westen für möglich, die vollständige Niederwerfung der Feinde und die vollständige Besetzung Frankreichs aber für einen nicht mehr wahrscheinlichen Ausgang dieses fürchterlichen Ringens der Völker hält.“

      Ich schweige und lasse das Ungeheuerliche meiner Worte im Raum stehen, auf meine Zuhörer wirken. Schließlich wären die Konsequenzen aus dieser Einsicht von fundamentaler Tragweite.

      „Was aber, wenn wir im Westen unsere letzten großen Reserven ohne durchgreifenden Erfolg opfern? Wie kommen wir dann noch aus diesem Kriege heraus?

      Meine Herren, aller spätestens hier kommt der Zivilist Stresemann wieder ins Spiel. Denn meine doch recht maßgebliche Reichstagsfraktion wird die erste sein, von der die zivile Reichsleitung und Seine Majestät, der Kaiser, einen regelrechten Spagat erwarten dürfen. Es wird darum gehen, Kriegsziele mit zu formulieren, die das kleine Wunder vollbrächten, sowohl dem Feind nicht unzumutbar für Verhandlungen zu erscheinen als auch unserem eigenen Volk nicht zu enttäuschend nach langen Jahren eines unvorstellbar entbehrungsreichen Krieges. Wollen sie nun meine Ideen hören?”

      „Viel lieber würde ich ihnen