1918 - Wilhelm und Wilson. Magnus Dellwig

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Название 1918 - Wilhelm und Wilson
Автор произведения Magnus Dellwig
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783874683647



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Was sollen wir nun tun? Sollen wir lamentieren und sagen, dieser oder jener Professor für Volkswirtschaftslehre in Berlin, München oder Heidelberg trage die alleinige Verantwortung?”

      Bauer blickt langsam von Kopf zu Kopf in unserer Runde. Er scheint befriedigt darüber, nicht unterbrochen worden zu sein.

      „Und dasselbe gilt für den Kriegseintritt der Vereinigten Staaten. Wie viele unserer Experten im diplomatischen Korps sicherten uns zu, Wilson und sein Land werde immer hehrere, hochfliegende moralische Vorstellungen von einer gerechten Beendigung des Krieges entwickeln, aber trotz aller Sympathie für die Tommys draußen bleiben. Doch was passiert? Die USA treten in den Krieg ein und die erste US-Division ist bereits an der Marne in die gegnerische Front eingereiht. Und jetzt, sollen die Herren Hindenburg und Ludendorff den Kopf des Staatssekretärs im Auswärtigen Amt fordern, nur weil seine Männer sich geirrt haben? Auch das hülfe uns nicht weiter! Nein, nein, kaiserliche Hoheit, meine Herren der deutschen Wirtschaft. Wir sehen nach vorne, und dann erblicken wir Chancen, ja, die Aussichten sind günstig wie nie! Warum ist das so? Weil das vaterländische Hilfsdienstgesetz greift, meine Herren. In den Fabriken herrscht Ruhe und Disziplin, weil niemand mehr von den älteren Arbeitern an die Front möchte. Und dann das Wichtigste: In Russland nimmt das Chaos seinen Lauf. Unser Freund Lenin mischt die dortigen Revolutionäre auf und predigt den Soldaten: Kehrt zurück auf eure Felder, statt den Krieg der Imperialisten und Kapitalisten auf beiden Seiten zu führen! Generalquartiermeister Ludendorff wird sich immer sicherer, dass in Russland spätestens Weihnachten die Front keine geschlossene Abwehrlinie mehr darstellt. In 1918 werden wir in Russland endgültig siegen. Dann können wir zuerst für den dortigen Kriegsschauplatz Kriegsziele formulieren, wie wir sie uns vorstellen, von Finnland über Polen vielleicht gar bis zur Ukraine. Wenn aber der Frieden mit Russland kommt, werden dort eine bis zwei Millionen Landser frei. Die werden wir, die OHL, dann nach Westen verlegen. Meine Herren, das sind kampferprobte und siegreiche deutsche Soldaten. Pah! Demgegenüber sind die Amerikaner und die Engländer ein nichts! Und wenn wir dann im Westen angreifen werden, bricht Frankreich zusammen und wir gewinnen den Krieg endgültig. - Das, kaiserliche Hoheit, ist der Plan, und er wird funktionieren!”

      Oberst Bauer schwenkt mit einem Lächeln um die Lippen sein Kognakglas in die Runde, trinkt und lehnt sich wie in Zeitlupe zurück. Walther Rathenau, unter uns wohl der beste Kenner der Verhältnisse in unserer Industrie, blickt skeptisch drein, hält sich aber mit einem Wortbeitrag zurück. Ich habe mir zuvor vorgenommen, keinesfalls als erster zu sprechen. Albert Ballin, ein Fan des Kaisers wie des Kronprinzen, sieht diesen unverwandt an und erhofft sich eine Aussage. Kommerzienrat Stinnes dagegen lehnt entspannt und zufrieden im Sofa, pafft an seiner Zigarre, schmunzelt und blickt durch den ausgeatmeten Rauch schräg gegen die hohe Decke des Salons, als Wilhelm spricht.

      „Phänomenal, mein lieber Oberst Bauer. Wohl der Armee, die Männer wie den Generalfeldmarschall, Generalleutnant Ludendorff und selbstverständlich auch sie an ihrer Spitze weiß! Sie haben eine wahrlich große Strategie. Und sie verfolgen diese Strategie konsequent mit allen zu Gebote stehenden Mitteln. Da ist das Hilfsdienstgesetz im Inneren, da war der plombierte Wagon für die Revolutionäre um diesen Lenin und da ist zum dritten die Verlegung von vielleicht an die einhundert Divisionen aus dem Osten nach Frankreich, um endlich auf Paris zu marschieren und die Front an der Marne zu zerreißen!

      Mein lieber Doktor Stresemann, angesichts dieser Konsequenz und Genialität unserer Truppenführer, meinen sie nicht auch, dass wir da auf keines unserer vitalen Kriegsziele für die Gestaltung Europas verzichten sollten? Vor allem nicht auf Land im Westen, auf Belgien und die Rohstoffbasis der französischen Eisenindustrie? Sie brauchen jetzt gar nichts zu sagen. Ich sehe schon, dass sie sich mit Herrn Stinnes da völlig einig sind.

      So, meine Herren, auch wenn es mir heute Abend nicht noch ein zweites Mal gelingen wird, eine so anregende Gesellschaft wie die ihre aufzutun, habe ich doch noch die eine oder andere Pflicht als Quasi-Gastgeber zu erfüllen. Und bevor ich mir einen Rüffel meines wehrten Herrn Papa einhandele, kehre ich nun doch lieber in den Ballsaal zurück und lege nochmals eine beschwingte Sohle aufs Parkett. Bitte entschuldigen sie mich, oder aber noch besser, begleiten sie mich gleich in den Nachbarsalon und stürzen sie sich erneut in die heiteren Gespräche der Ballgesellschaft! Denn nicht ganz Berlin will heute etwas vom Krieg und dem angestrebten Weg zu seinem Ende wissen.”

      Wilhelm strahlt uns unbeschwert der Reihe nach an, erhebt sich und lässt mit ausgebreiteten Armen eine weite Geste folgen, um uns allesamt mit in den Ballsaal zurückzugeleiten. Dort bietet sich uns wieder das herrliche Bild eines hell erleuchteten Saales mit fröhlichen Menschen in festlichen Gardeuniformen oder langen Ballkleidern. Ich lasse jeden Gedanken an eine Vertiefung unseres Gespräches mit dem Kronprinzen und Oberst Bauer im weiteren Verlaufe dieses Abends fallen. Mein Blick wandert versonnen durch den Raum bis er an einer Gruppe junger Offiziere und fröhlicher Hofdamen haften bleibt. An deren Rand unterhält sich Oberleutnant Ballin mit einer zierlichen schwarzhaarigen Dame im gelben Kleid. Dann aber wende ich mich Albert und Walther zu mit einer Bemerkung über ein recht belangloses Thema, nämlich wer aus der Berliner Presse womöglich eine Einladung zu diesem Fest erhalten haben mag.

      Nachdem sich Helena von Griechenland und Oberleutnant der Artillerie Ballin zu Gesprächen innerhalb der Gruppe junger Leute voneinander entfernt haben, bittet die Prinzessin den Oberleutnant eine halbe Stunde darauf erneut um einen Tanz. Diese Aufforderung der Dame war zur damaligen Zeit in der Berliner Hofgesellschaft - vielleicht im Gegensatz zum zwangloseren Athen und wohl auch noch mehr als heute 1929 - derart außergewöhnlich, dass die umherstehenden jungen Damen des Hofes die Köpfe zusammen steckten und erneut lauthals tuschelten. Helena erkennt erst jetzt, dass sie wohl eine jener Konventionen missachtet hat, die in Berlin eine starre Gültigkeit besitzen. Zu Hause in Griechenland ist es zwar auch nicht unbedingt üblich, dass beim Ball eine Dame einen Herren auffordert. Doch das gilt eigentlich nur dann, wenn sich die Herrschaften noch nicht kennen. Doch so empfindet sie ihre neue Bekanntschaft zum Oberleutnant der Artillerie aus Hamburg nach nicht einmal zwei Stunden schon nicht mehr. Merkwürdig, stellt Helena für sich fest, Thorsten Ballin, dieser etwas schüchterne Großbürger, dem der Krieg und sein kleines Kommando zugleich eine gehörige Portion Selbstbewusstsein verliehen haben mögen, ist ihr nicht nur sympathisch. Er ist ihr sogar nah!

      Auch Thorsten Ballin freut sich über diese gar nicht einmal so kleine Bekundung von Sympathie seitens seiner Herzensdame dieses Abends. Erneut stellt er für sich das bemerkenswerte Selbstbewusstsein Helenas fest und ist sich inzwischen sicher, dass diese junge Frau über einen besonderen Charakter, über eine erfrischende Offenheit trotz ihrer höfischen Erziehung verfügt. Thorsten Ballin weiß bei dem soeben aufgerufenen Tanz, wie gerne er sie nach diesem Abend wiedersehen würde. Er nimmt sich vor, ihr eine Einladung nach Hamburg auszusprechen, wenngleich das nun keineswegs üblich ist und wenngleich er natürlich nicht weiß, wann er selbst in der nächsten Zeit überhaupt in seiner Heimatstadt und nicht bei seinem Artillerie-Regiment weilen wird. Doch vorerst sind seine Gedanken abgelenkt. Nach dem Tanz gesellen sich Helena und er erneut zu der kleinen Gruppe junger Leute, der sie eben bereits angehörten. Zwei junge Männer, ebenso wie Oberleutnant Ballin Offiziere in Gardeuniform, beglückwünschen ihn zu seiner guten Tanzpartnerin. Schnell kommt man ins Gespräch über das jeweils eigene Regiment und die Heimatstadt. Thorsten Ballin überlässt Prinzessin Helena erneut und unbeschwert den Damen des Hofes, bis sich die jungen Damen und Herren zu einer größeren, gemeinsamen Gesprächsrunde zusammenfinden.

      Als kurz darauf der Kronprinz aus dem Nachbarsalon kommend den Ballsaal betritt, zieht dies Thorsten Ballins Aufmerksamkeit auf sich. Ursache ist die kleine Gruppe von Männern, die ihn begleiten. Sein Vater ist dabei, dessen Freund Stresemann und zwei prominente Herren der deutschen Wirtschaft, der Kohlenindustrielle Stinnes und der Präsident der AEG Rathenau. Haben sie wohl über die weiteren Aussichten des Krieges gesprochen, über die Steigerung der Rüstung oder gar über den neuen Feind Amerika? Thorsten Ballin nimmt sich fest vor, seinen Vater auf der Rückfahrt nach Hamburg danach zu fragen. Jetzt fürs Erste aber will er sich eine Strategie ausdenken, Prinzessin Helena sowohl seinen Wunsch nach einem Wiedersehen als auch eine Kontaktmöglichkeit zu übermitteln, bevor der Abend zu Ende geht. Inzwischen haben sich seine beiden Gesprächspartner aus dem Staub gemacht, um eine neue Tanzpartnerin aufzufordern. Das gibt Thorsten Ballin die Gelegenheit, wieder zu Helena aufzuschließen.

      „Ist