Harrys geträumtes Leben. Hans H. Lösekann

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Название Harrys geträumtes Leben
Автор произведения Hans H. Lösekann
Жанр Биографии и Мемуары
Серия
Издательство Биографии и Мемуары
Год выпуска 0
isbn 9783957442116



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kleinen Gruppe einheimischer und überwiegend verschleierter Frauen folgte und dieser harmlose Anzüglichkeiten zurief. Urplötzlich zogen die Frauen Schnellfeuerwaffen unter ihren Schleiern hervor und mähten die Soldaten in Sekundenschnelle nieder. Anschließend zogen sie Dolche hervor und schnitten, so suggerierte es jedenfalls der Film, den noch lebenden Soldaten die Kehlen durch, stachen Augen aus und schnitten Ohren und Nasen ab. Über den Film wurde heftig diskutiert. Jedem war klar, dass die gezeigten Grausamkeiten nachgestellt waren. Aber den Neulingen wurde sehr ernst glaubhaft gemacht, dass es ähnliche entsetzliche Vorkommnisse durchaus wirklich gegeben hat und gibt.

      Sehr nachdenklich ging Harry über den Kasernenhof zurück zur Unterkunft. Etwas überspitzt ausgedrückt hatten die Instrukteure den Neulingen vermittelt, in diesem Land gebe es Millionen von Einheimischen, die potentielle Rebellen, Verbrecher und Mörder seien und die den relativ wenigen Guten gegenüberstehen, nämlich den etwa 300.000 französischen Soldaten und Legionären. Harry war übermüdet, total verschwitzt und missmutig. Da kann doch etwas nicht stimmen. Was soll ich hier, ich habe damit doch absolut nichts zu tun? Woher nahmen die Franzosen die Berechtigung, ein ganzes Land, ein ganzes Volk von über zwanzig Millionen Menschen zu unterjochen, es zu beherrschen und die vielen Millionen als Menschen zweiter Klasse anzusehen, die in erster Linie dafür da sind, den Eindringlingen zu dienen. Harry hatte kein gutes Gefühl dabei, dass er sich verpflichtet hatte, den Unterdrückern dabei zu helfen.

      Aber er war jung und konnte unangenehme Gefühle bald wegschieben. Was soll’s. Ich habe ein Ziel und das ist nicht die Legion. Ich bin nur für neun Monate dabei und davon habe ich schon fast die Hälfte rum.

      Er hatte auch kaum Zeit, unangenehmen Gefühlen nachzuhängen. Die nächsten Tage waren vollgestopft mit Aktionismus. Es gab eine harte, komprimierte praktische und theoretische Ausbildung zur präventiven und praktischen Bekämpfung von Terroristen, wie es im offiziellen Ausbildungsplan hieß. Insbesondere das Vorgehen in Aufklärungs- und Erkundungstrupps mit spontanen Kampfaktivitäten wurde immer wieder geübt, in voller Kampfausrüstung im Gelände und im Unterrichtsraum in der Kaserne mit Planspielen und Taktikvarianten.

      Nach einigen Wochen erhielten Harry und auch Ian einen Versetzungsbefehl nach Mascara. Von dort aus sollten sie als stellvertretende Gruppenführer in Erkundungstrupps eingesetzt werden. Die Kaserne von Mascara befand sich mitten in der Stadt, umgeben von einer hohen Mauer mit mehreren Wachtürmen. Irgendwie wirkte sie wie ein Fremdkörper. Es war wie eine aufgezwungene Trutzburg mit fremden Eindringlingen in einem Meer von Einheimischen. Das Kasernengelände war nicht groß, mit dem vierstöckigen Hauptgebäude, dem Kasernenhof, dem Fahnenmast, dem Wachgebäude, der Küche und den Nebengebäuden hatte es kaum größere Ausmaße als ein Fußballplatz. Das klotzige vierstöckige Gebäude in der Mitte wirkte wie eine Festung in der Festung. Mascara war keine Ausbildungskaserne, sondern eine Art Hauptquartier für kleine Kampf- und Aufklärungseinsätze.

      Harry und Ian wurden im Unteroffizierslogis in einem Nebengebäude neben der Funkstation und dem Büro der Militärpolizei untergebracht. Schon am nächsten Tag wurden beide verschiedenen Erkundungstrupps als stellvertretende Gruppenführer zugeteilt. Die verschiedenen Gruppen sollten unabhängig voneinander, aber koordiniert und mit Funkkontakt untereinander ein größeres Gebiet im Dreieck von Douny Fououaila, Djebairia und Hassi-Dahou aufklären und, wie es hieß, gegebenenfalls von Rebellennestern säubern. Mit Militär-LKWs wurden die Gruppen an verschiedenen Ausgangspositionen abgesetzt. Harry hatte ein mulmiges Gefühl, als er sich mit der zwanzig Mann starken Gruppe im Gelände vorwärts bewegte. Es war still, menschenleer. Ihre schweren Militärstiefel wirbelten Sand und trockenen Staub auf. Die Sonne brannte vom tiefblauen, völlig wolkenlosen Himmel. Schon nach kurzer Zeit waren alle total verschwitzt. Die schweren Stiefel, der Kampfanzug und der Stahlhelm drückten und klebten am Körper. Der Tornister alleine wog zwanzig Kilogramm. Dazu kamen der Karabiner, die Wasserflasche, zusätzliche scharfe Munition und Handgranaten. Als stellvertretender Gruppenführer verfügte Harry zusätzlich über eine Pistole und einen Feldstecher. Am schwersten zu schleppen hatte der Funker mit seiner klobigen Ausrüstung. Immer wieder suchten der Gruppenführer und Harry den Horizont nach verdächtigen Bewegungen, Ansammlungen und getarnten Unterständen ab. Es gab nichts. Diese Welt schien menschenleer, auch ohne Tiere zu sein. Eine staubige heiße Hölle, die keinen interessierte und die keiner haben wollte.

      Was machen wir denn hier, was soll das?, ging es Harry durch den Kopf, als sie am Mittag Pause machten und sich aus ihren Kampfrationen stärkten. Zwei der Soldaten hatten zusätzlich zu ihrer Ausrüstung Reserve-Wasserschläuche zu schleppen und waren froh, als die zusätzliche Last leichter wurde, nachdem alle Feldflaschen frisch aufgefüllt waren.

      Bald entdeckten sie, wie vorher auf dem Einsatzplan vorgesehen, in der Ferne eine kleine trostlose Ansammlung von Hütten. Der Truppführer informierte, dass das das Dorf Bjetierasa sei. Es bestehe der Verdacht, das Kaff sei ein Rebellenversteck. Wir haben Befehl, jede Hütte genau zu durchsuchen. Beim Näherkommen nahm Harry das Dorf ins Visier seines Feldstechers. Es bestand aus genau sieben armseligen Hütten und ein paar Scheunen oder Tierunterkünften. Er konnte im Fernglas einige Hunde, Ziegen und Hühner zwischen den Hütten sehen. Einige Kinder wuselten zwischen den Hütten umher. In einiger Entfernung vom Dorf konnte er wenige Bauern in sackähnlichen Gewändern bei der Landarbeit entdecken. Als der Trupp, mit entsicherten Karabinern nach allen Seiten sichernd, die so entsetzlich öde und armselige Ansammlung von Hütten erreichte, war es menschenleer. Keine Kinder, keine Ziegen. Ein paar Hühner gackerten und zwei furchtbar räudige Hunde kläfften. Aber kein Mensch, auch die Berber auf den nahen Feldern in ihren nachthemdähnlichen grauen Umhängen waren verschwunden. Das Ganze wirkte unheimlich, bedrohlich, aber auch lächerlich. Zwanzig schwer bewaffnete Männer gegen zwei kläffende Köter und einige Hühner.

      „Zwei mal vier Mann zum Durchsuchen der Hütten, die anderen bleiben zum Sichern zurück“, lautete der Befehl des Gruppenführers.

      Als Harry mit seinem Vier-Mann-Suchtrupp die erste Hütte betrat, schüttelte er innerlich den Kopf. Mein Gott, wie kann man bloß so leben. Die Strohhütte war wirklich trostlos. Die nackte Erde als Boden, einige Kisten als einziges Mobiliar und eine primitive Feuerstelle – und völlig leer. Bei der zweiten Hütte dasselbe. In der dritten saßen sie, dicht aneinandergedrängt. Etliche Frauen, Kinder, Ziegen und zwei uralte Männer, alle stumm und angstvoll zu den bewaffneten Eindringlingen starrend. Nach mehreren vergeblichen Versuchen kam eine minimale Art der Verständigung zustande. Einer der alten Männer sprach etwas Französisch. Er war allerdings nur sehr schwer zu verstehen. Nicht nur wegen seines fehlenden Wortschatzes, sondern auch wegen seiner Aussprache. Der Greis hatte keinen einzigen Zahn mehr im Mund, so kam jedes Wort nur tuschelnd und zischend. So zerknittert, so faltig, so ganz und gar zahnlos wirkte er entsetzlich hilflos und schutzbedürftig. Aber es half nichts, er war der Einzige, der einigermaßen Auskunft geben konnte. Nein, hier seien keine Rebellen. Nein, sie haben auch noch nie welche gesehen. Die Männer auf den Feldern? Ja, sie haben sich sicher aus Angst hinter den wenigen Büschen am Rand des Feldes versteckt. Aber es seien nur einfache Bauern, sie alle haben nichts mit den Rebellen zu tun. Harry glaubte dem Alten. Aber er wusste auch aus den vielen Instruktionen, wie trickreich die Rebellen waren, wie gut sie sich tarnten und wie grausam sie sein konnten.

      Die Durchsuchung der weiteren Hütten und Ställe ergab nichts. Die Männer wurden hinter den Büschen gefunden. Sie gaben sich devot, angstvoll zitternd und versicherten mit einigen französischen Brocken, dass hier keine Rebellen seien und sie nichts mit ihnen zu tun haben.

      Schließlich zog die Aufklärungsgruppe weiter. Es war schon später Nachmittag und bis zum vereinbarten Treffpunkt mit den anderen beiden Gruppen lagen noch gute zehn Kilometer vor ihnen. Es war heiß, öde und ereignislos. Die Männer trotteten missmutig dahin. Die trostlose Landschaft war steinig. Kleine Felsansammlungen wechselten mit sandigen Abschnitten ab. Es gab kaum Vegetation. Hin und wieder kleine vertrocknete Grasbüschel und in größeren Abständen ein paar grau-braune und vertrocknet aussehende Buschansammlungen. Harry selbst fühlte sich auch vertrocknet und von einer grau-braunen Staubschicht überzogen. Die Kameraden sahen nicht anders aus. Verklebt, verdreckt und ausgetrocknet zwangen sie sich zu jedem Schritt. Innerlich stöhnend trank Harry ein paar Schlucke warmes Wasser aus seiner Feldflasche. Verdammt, sie war fast leer. Bis zum Treffpunkt, zu dem ein LKW auch Wassernachschub bringen würde, würde es noch