Harrys geträumtes Leben. Hans H. Lösekann

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Название Harrys geträumtes Leben
Автор произведения Hans H. Lösekann
Жанр Биографии и Мемуары
Серия
Издательство Биографии и Мемуары
Год выпуска 0
isbn 9783957442116



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verabschiedet hätte.

      Ohne es zu wollen, drängten sich ihm jetzt, in der Zeit des erzwungenen Innehaltens, auch Vergleiche auf. Ein Leben als kaufmännischer Angestellter ist nicht schlecht. Morgens um acht Uhr im Büro, abends um achtzehn Uhr zu Hause. Tag für Tag und Jahr für Jahr. Kein Haiangeln in der Hitzehölle im Golf von Akaba, kein Manövrieren eines großen Schiffes als Rudergänger durch den Suezkanal, die Themse, die Elbe, die Weser, den Guadalquivir, durch sturmgepeitschte See, kein Erfahren, Erfühlen, Erlernen der Mentalität fremder Länder und Menschen, keine Abenteuer in den Souks von Casablanca, Tripolis, Algier oder Aden. Ja, so ein Leben als Seemann war abenteuerlicher, intensiver. Doch auch wenn sich die Vergleiche jetzt ungerufen aufdrängten, auch wenn er fühlte, dass er eindeutig zu Abenteuern, zu dem immer wieder Neuen, zu den nicht eingefahrenen Bahnen tendierte, war die Seefahrt keine Alternative. Harry bekam keine Gesundheitskarte mehr. Bei der Gesundheitsüberprüfung, die alle zwei Jahre vorgeschrieben war, war auf einem Auge Kurzsichtigkeit festgestellt worden. Das war das endgültige Aus für seine Laufbahn als Seemann, als Nautiker.

      Auch als er das Krankenhaus verlassen konnte und wieder zu Hause war, kreisten seine Gedanken weiter. Drei Wochen war er noch krankgeschrieben, weitere drei Wochen Resturlaub hatte er noch. Dieses Infragestellen war neu für ihn, aber er hatte ja keinen Zeitdruck.

      Während er seine Kräfte mit Spaziergängen, Fahrradfahren oder Schwimmen wieder aufbaute, kamen auch Gedanken an ehemalige Schulkameraden, die mit ihren Eltern in ferne Länder ausgewandert waren. Nach Kanada zum Beispiel oder sein bester Freund aus der Grundschule sogar nach Australien. Er dachte auch an Nina, die von Spanien aus zu ihrer Tante nach Argentinien gezogen war, um in Buenos Aires Medizin zu studieren. Wie sie in ihrem letzten Brief schrieb, würde sie in zwei Jahren promovieren. Und was ist mit mir, soll ich hier versauern?, übertrieb er in Gedanken. Zaghaft versuchte er, mit seinen Eltern darüber zu sprechen, dass er lieber erst etwas anderes machen wollte, irgendwo auf der weiten Welt, als gleich weiter ins Büro zu gehen. „Meinen Abschluss habe ich. Damit kann ich auch in einigen Jahren jederzeit als kaufmännischer Angestellter anfangen zu arbeiten“, argumentierte er. Natürlich waren seine Eltern ablehnend, aber sie ließen ihm die Entscheidung.

      Immer wieder huschte die Erinnerung an seinen Traum auf der Intensivstation durch seine Gedanken. In diesem Traum hatte der liebe Gott ihn gewarnt. Das konnte sich nur auf die Alkoholunverträglichkeit beziehen. Na gut, danach würde er leben. Aber er hatte auch mit erhobenem Zeigefinger gesagt: „Harry, vergeude dein Leben nicht. Nimm es dir.“ Ja, nimm es dir, und das konnte doch nur bedeuten, die ungeheure Fülle von Möglichkeiten, die das Leben einem jungen Mann bot, auch zu nutzen und nicht einfach in der bequemsten Spur zu verharren.

      Noch etwas lastete wie ein dunkler Schatten auf ihm. Vor einem halben Jahr war er zur Musterung zitiert worden. Das Ergebnis war: „Voll wehrdiensttauglich.“ Der Sachbearbeiter hatte notiert, dass Harry im letzten Lehrjahr war, und ihm gesagt, dass er nach Ende der Ausbildung kurzfristig mit der Einberufung rechnen müsse. Nun hatte Harry zwar eine pazifistische Einstellung, aber eine sehr moderate. Grundsätzlich hatte er nichts gegen die Vorstellung, Soldat zu werden. Das löste auch erst einmal abenteuerliche Vorstellungen in ihm aus. Aber er hatte noch sehr genau den Bericht seines Schwagers über seinen vor einem Jahr beendeten Wehrdienst im Ohr. Der berichtete von achtzehn Monaten gähnender Langeweile und Gammelei, und zwar bei einem Sold, der kaum für die Zigaretten reichte. Das wollte Harry vermeiden. Für ihn war genau das ein Beispiel dafür, das Leben zu vergeuden.

      Aber um dem zu entgehen, müsste er Deutschland bald für längere Zeit verlassen. Er dachte an Señor Jerez. Bei ihm und seiner Frau hatte Harry in Gandia gewohnt, als er nach dem Unfall bei einem Rettungsmanöver auf seinem Schiff für eine Reise aussetzen musste. Was waren das für interessante Gespräche, wenn Señor aus seinem Leben erzählte. Was hatte er nicht alles erlebt. So in etwa stellte Harry sich den Fingerzeig des lieben Gottes aus seinem Traum – „Vergeude dein Leben nicht, nimm es dir“ – vor.

      Zehn Jahre seines Lebens hatte Señor Jerez in der französischen Fremdenlegion gedient. Er war einer der sehr wenigen Ausländer in der Legion, die einen hohen Offiziersrang erreicht haben. Zum Glück war er vor den vernichtenden Niederlagen der Legion in Vietnam ausgeschieden. In seiner Heimat Spanien hatte er anschließend eine ganz andere Karriere gemacht. Er war ein angesehener Richter geworden. Aus welcher Phase seines Lebens er auch erzählte, es war immer spannend und aufregend.

      Als Harry mal wieder in diesen Erinnerungen gebadet hatte, fasste er den Entschluss, bei ihm in Gandia anzurufen und ihm seine Empfindungen zu schildern. Vielleicht konnte der ihm die richtigen Impulse geben. Es war damals noch umständlich, eine Telefonverbindung nach Spanien zu bekommen, aber schließlich hatte er den Señor am Hörer. Der hörte sich Harrys recht zusammenhanglose Berichte über „Seefahrt zu Ende, kaufmännische Lehre abgeschlossen, Krankenhaus, drei Tage Koma, Bundeswehr“ geduldig an. Schließlich meinte er: „Weißt du was, Harry, das kann man am Telefon nicht besprechen. Du sagst, du bist noch krankgeschrieben und hast anschließend Urlaub, also viel Zeit. Komm doch einfach ein paar Tage zu uns. Wir würden uns über ein Wiedersehen freuen. Es kommen doch jetzt so viele Touristenbusse und auch Flugzeuge von Deutschland, da wird es doch günstige Reisemöglichkeiten geben. Dann besprechen wir alles in Ruhe.“

      Harry war begeistert und begann sofort, preiswerte Reisemöglichkeiten zu suchen. Ein Bremer Busunternehmer bot regelmäßig günstige Bus-Pauschalreisen nach Benicasim inklusive einer Woche Hotelaufenthalt an. Harry erfuhr, dass der nächste Bus nur schwach besetzt war. Nach einigem Verhandeln vereinbarte er für die Busfahrt, ohne Hotel, für die Hin- und Rückfahrt einen Preis von 120 D-Mark.

      Wenige Tage später stand Harry mit seiner Reisetasche auf dem Bahnhofsvorplatz von Gandia. Es war früher Abend und die Sonne schickte sich an, hinter den Bergen zu versinken. Noch zwinkerte, blitzte sie ihm zwischen den großen Palmenwedeln zu. Genussvoll atmete er tief durch. Er liebte das mediterrane Flair, liebte diesen Duft von heißen Kastanien und gebrannten Mandeln. Ein Schwarm Tauben flog gurrend über ihn hinweg, ihre Flügel machten ein Geräusch wie ein flatterndes Tuch, und Harry sah ihnen nach, ihren schillernden Hälsen, bis sie das imposante Bürgerkriegsdenkmal umflogen und außer Sicht gerieten. Er hatte eine lange Reise hinter sich, aber er fühlte sich ganz leicht und entspannt, als er gemächlich zu dem Haus der Familie Jerez schlenderte. Das Willkommen war so herzlich wie für einen verlorenen Sohn mit Umarmung, Wangenküssen und immer wieder Schulterklopfen. Er fühlte sich wie zu Hause. War es wirklich fünf Jahre her, seit er zuletzt hier war? Stolz wurde er in „sein altes Zimmer“ geführt. Als er sich frisch gemacht hatte, war schon der Tisch gedeckt. Es wurde gegessen, geredet, getrunken. Harry merkte, wie sein eingerostetes Spanisch immer besser und fließender wurde. Als er bei dem obligatorischen „Vino tinto“ dankend ablehnte und „solo agua, por favor“ – nur Wasser, bitte – erbat, zog Señor Jerez erstaunt die Augenbrauen hoch, sagte aber nichts. Sie plauderten leicht und locker, als wenn sie alle paar Tage zusammensitzen würden. Harry erzählte in groben Zügen von dem Erzwungenen aus seiner nautischen Karriere, von seiner abgeschlossenen kaufmännischen Ausbildung und, ohne auf Einzelheiten einzugehen, auch von seinem Krankenhausaufenthalt mit den drei Tagen Bewusstlosigkeit.

      „Das und einige Fingerzeige haben mich nachdenklich gemacht. Ich möchte mehr vom Leben haben, mir mehr erarbeiten oder auch ertrotzen als einen für Jahrzehnte festgelegten immer gleichen Tagesablauf.“

      Der Hausherr meinte engagiert: „Darüber reden wir morgen ganz ausführlich. Ich habe mir nach unserem Telefongespräch so einige Gedanken gemacht.“

      Sie redeten über die Veränderungen in Spanien in den vergangenen fünf Jahren, über den einsetzenden Tourismusboom, darüber, dass es den meisten Menschen deutlich besser gehe und dass auch die Franco-Regierung sich immer mehr dem restlichen Europa annähere, was neben der wirtschaftlichen Besserung auch mehr Freiheit bedeute. Es wurde ein entspannter Abend mit harmonischer Plauderei, liebevollen kleinen Geschichten aus der Umgebung, Erinnerungen und Bildern vom Tagesgeschehen.

      Am nächsten Vormittag verabschiedete sich die Señora, weil sie eine Freundin besuchen wollte, und Harry und Señor Jerez setzten sich mit einer Tasse Kaffee in den Patio. Jetzt berichtete Harry sehr viel genauer von seinen letzten fünf Jahren, insbesondere aber von den letzten Wochen, seinem Krankenhausaufenthalt,