Harrys geträumtes Leben. Hans H. Lösekann

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Название Harrys geträumtes Leben
Автор произведения Hans H. Lösekann
Жанр Биографии и Мемуары
Серия
Издательство Биографии и Мемуары
Год выпуска 0
isbn 9783957442116



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seiner Tage auf der Intensivstation. Er versuchte, seinen Gemütszustand nach diesem geträumten Fingerzeig Gottes – „Vergeude dein Leben nicht, nimm es dir“ – deutlich zu machen. Er versuchte, klarzumachen, wie sich ihm der Vergleich zwischen einem Leben, auf Jahrzehnte vorgezeichnet in festen gleichmäßigen Bahnen, und einem Leben, wie er, Señor Jerez, es geführt habe, prall gefüllt mit Abenteuern in der Legion und dann erfüllt mit einem erfolgreichen Jurastudium und einer anschließenden Karriere bis zum Richter, aufgedrängt hatte. Er gestand, dass es schon in seiner Schulzeit sein geheimer Wunsch gewesen war, Rechtsanwalt zu werden, es aber aufgrund der so begrenzten finanziellen Verhältnisse seiner Eltern völlig unmöglich war, bis zum Abitur zur Schule zu gehen, jeden Monat Schulgeld zu bezahlen und dann noch jahrelang zu studieren.

      Señor Jerez sah ihn schweigend und durchdringend an, nahm einen Schluck Kaffee und legte ihm freundschaftlich die Hand auf die Schulter. „Ja, Harry, so in etwa habe ich mir das schon vorgestellt nach unserem Telefongespräch. Einiges hatte ich nicht verstanden, aber jetzt verstehe ich dich. Ich verstehe deine Empfindungen. Ich habe für mich irgendwann das Lebensmotto ‚carpe diem‘, ‚ergreife den Tag‘, gefunden. Das entspricht ja ziemlich genau dem Fingerzeig ‚vergeude dein Leben nicht‘. Ich kann dir versichern, ich möchte meine Zeit in der Fremdenlegion nicht missen Aber ich war zehn Jahre dabei und das ist eindeutig zu viel. Viel zu viel. Aber nur durch diese lange Zeit, dazu mit viel Glück, mit vielen glücklichen Fügungen des Schicksals, aber auch mit Mut, manchmal sogar Tollkühnheit, habe ich es als einer der ganz wenigen Ausländer, also Nicht-Franzosen, geschafft, Offizier in der Legion zu werden, als Colonel sogar höherer Offizier. Nur so fand ich Zugang zu einem Führungszirkel um General Massou, mit dem mir auch außerhalb der Legion alle Türen offen standen, und das nicht nur in Frankreich. Auch mein anschließendes Studium und meine juristische Karriere wurden davon sehr positiv beeinflusst. Wenn man solch einem einflussreichen Kreis einmal angehört, dann verlässt man ihn auch nicht wieder, und ich gehöre ihm auch jetzt noch an. Du bist ein intelligenter junger Mann, und vor allem: Ich mag dich. Ich kann dir einige Türen öffnen. Ich habe schon diverse Telefongespräche geführt. Es ist möglich, dir ein Stipendium für ein Jurastudium an einer spanischen Universität zu verschaffen, nicht für dieses Studienjahr, das gerade begonnen hat, aber für das nächste. Dein Realschulabschluss und deine abgeschlossene Berufsausbildung entsprechen dem spanischen bachillerato, also dem Abitur oder einem vergleichbaren Abschluss. Natürlich müsstest du noch ein Prüfungsverfahren, eine Selectividad, durchlaufen. Aber das schaffst du schon. Ja, mein Lieber, und was das Abenteuer betrifft, da ist die Legion schon eine gute Sache. Aber wenn du keine militärische Karriere machen willst, dann bleib dort so kurz wie möglich. Die normale Mindestverpflichtungszeit beträgt fünf Jahre. Das ist zu viel. Ich habe aber als Mitglied des Führungszirkels der Legion, auch wenn ich schon lange nicht mehr aktiv dabei bin, die Möglichkeit, einen Protegé als Praktikanten zu empfehlen. Als Praktikant kannst du nach neun Monaten entscheiden, ob du dich weiter verpflichten willst oder nicht. Als Protegé-Praktikant bekommst du sogar einen wesentlich höheren Sold, nämlich den eines Sergents. Ja, mein Lieber, das sind die Türen, die ich dir öffnen könnte. Du darfst nicht glauben, dass ich das für jeden mache. Ich rede nicht darüber und es weiß auch praktisch keiner. Aber du bist mir ans Herz gewachsen, schon vor fünf Jahren, und als du jetzt angerufen und dich nach so langer Zeit an mich gewandt und Rat und Hilfe gesucht hast, da hat es mich einfach gepackt und ich habe mir gesagt, der Junge ist es wert, noch einmal meine Verbindungen spielen zu lassen.“

      Harry war sprachlos. Er wäre seinem väterlichen Freund am liebsten um den Hals gefallen. Das war ja traumhaft. Das waren genau die Möglichkeiten, die er sich erträumt hatte, ohne sie selbst detailliert benennen zu können. Abenteuer, Weiterbildung, Studium und dann steht die Welt offen. Er war begeistert und das sagte und zeigte er seinem Freund auch.

      „Es freut mich, dass dir dieser Weg gefällt. Dann werde ich alles in die Wege leiten. Wenn du in einer Woche wieder zu Hause bist, wirst du bald eine Einladung von der Legion zu einem Aufnahmegespräch, einem Test und einer Untersuchung nach Aubagne bei Marseille erhalten. Wenn du das bestehst, und davon bin ich überzeugt, erhältst du gleich deine Kommandierung. Ich werde dir dann in Ruhe einen Studienplatz mit Stipendium besorgen, nach Möglichkeit in Valencia, das ist nicht weit von hier und wir könnten uns öfter mal sehen. Und wie ich das sehe, könntest du mit dem nächsten Studienjahr dann mit deinem Jurastudium beginnen. Harry, ich freue mich für dich.“

      Bis zur Rückfahrt mit dem Reisebus hatte Harry noch fünf Tage Zeit. Entspannt, freudig erregt und manchmal wie auf Wolken schlenderte er durch die lieb gewonnenen Straßen Gandias. Er verbrachte eine angeregte Plauderstunde mit Ninas Mutter. Der Vater war mit seinen Kunstwerken wieder auf einer Verkaufstour. Nina befand sich in der Endphase ihres Studiums. Sie wollte als Ärztin zunächst einige Jahre in Argentinien arbeiten.

      Am nächsten Tag traf er zufällig seinen alten Kumpel Juan. Sie begrüßten sich herzlich und suchten sich zum Plaudern einen Platz in einem Straßencafé. Harry hatte Juan vor fünf Jahren bei den Ladearbeiten von Apfelsinenkisten kennengelernt, als er das erste Mal mit seinem Schiff, der „Jason“, Gandia angelaufen hatte. Juan war Vorarbeiter der Ladekolonne. Später hatten sie sich auch privat angefreundet und Harry war bei einigen der nächsten Reisen auch hin und wieder als gern gesehener Gast bei Juans Familie eingeladen worden. Harry erzählte von seinen letzten Jahren. Den jetzigen Aufenthalt bezeichnete er als reinen Freundschaftsbesuch bei der Familie Jerez. Juan berichtete strahlend, seiner Frau und seinen Kindern ginge es gut. Allgemein sei das Leben in Spanien etwas leichter geworden. Auch die körperliche Arbeit für die Lösch- und Ladearbeiten am Hafen war nicht mehr so schwer. Es gab mehr Gabelstapler, Laufbänder und maschinelle Hilfen.

      „Aber weißt du, Amigo, alles hat zwei Seiten. Vielleicht erinnerst du dich daran, dass ich früher regelmäßig Doppelschichten gemacht habe. Das gibt es jetzt nur noch selten. Dadurch verdiene ich trotz Lohnerhöhung weniger. Es ist schwieriger geworden, die Familie zu ernähren. Jede Extraausgabe tut weh. Gerade heute habe ich einen Steuerbescheid für mein großes Grundstück am Wasser bekommen. Ich weiß gar nicht, wie ich in diesem Jahr die Grundsteuer bezahlen soll. Ich würde das Land ja gerne verkaufen, aber wer will das schon haben. Anbauen kannst du da nichts, es ist ja alles felsig. Habe ich es dir eigentlich schon einmal gezeigt?“

      Juan organisierte ein zweites Fahrrad und sie fuhren gut eine Stunde, bis sie das außerhalb des Ortes liegende Grundstück erreichten. Es war eine sanft ansteigende Felswand von gut 3.000 Quadratmetern mit nur einigen Hundert Quadratmetern Plateau bis zur Grundstücksgrenze, einem Pinienwald. Die Begrenzung zur anderen Seite war ein Strandstreifen direkt am Mittelmeer.

      „Traumhaft schön“, staunte Harry.

      „Ja, aber für mich ein Albtraum“, stöhnte Juan. „Jedes Jahr kommt ein Steuerbescheid, so wie heute. Da hatte ich den Wachtraum, wie schön es wäre, wenn mir jemand 5.000 oder vielleicht sogar 10.000 Pesetas dafür zahlen würde und ich es los wäre.“

      10.000 Pesetas waren damals, in den sechziger Jahren, etwa 2.000 D-Mark. Siedend heiß durchfuhr Harry die Erinnerung an eine Situation, die erst einige Wochen zurücklag. Er war bei seinem Jugendfreund Peter zum Geburtstag eingeladen. Peters Vater, ein gut situierter Inhaber eines kleinen Bauunternehmens, schwärmte gegenüber seinem Nachbarn von seinem Herzenswunsch, am Mittelmeer ein Traumgrundstück zu kaufen, sich dort eine kleine Villa zu bauen und sich damit ein eigenes Paradies für den Urlaub und den späteren Ruhestand zu schaffen.

      „Du, Juan, ich kenne da jemanden in Deutschland, der dafür vielleicht infrage kommt. Aber ich weiß natürlich nicht, ob der nicht schon etwas anderes gefunden hat.“

      „Hombre, bitte versuch es. Ich muss diesen Klotz am Bein und die jährlichen Steuerbescheide loswerden.“

      „Gut. Ich werde versuchen, den Mann telefonisch zu erreichen.“

      Nach dem Abendessen saß Harry schweigend und tief in Gedanken versunken im Patio. Señor Jerez schmauchte mit Genuss seine Pfeife und sah immer mal wieder fragend zu Harry. Der aber war völlig in sich gekehrt und merkte es gar nicht. Schließlich brach der väterliche Freund das Schweigen.

      „Harry, nun sprich schon. Ich sehe doch, dass du Probleme wälzt. Vielleicht kann ich dir helfen.“

      Also