Harrys geträumtes Leben. Hans H. Lösekann

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Название Harrys geträumtes Leben
Автор произведения Hans H. Lösekann
Жанр Биографии и Мемуары
Серия
Издательство Биографии и Мемуары
Год выпуска 0
isbn 9783957442116



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nicht die festgesetzten Mindestrestmengen enthielten.

      Bei jeder Buschansammlung nahm die Aufmerksamkeit der Truppe automatisch zu. Oft genug waren ihnen während der Ausbildung die Gefahren eines Hinterhalts eingetrichtert worden. Der Gruppenführer und auch Harry suchten immer wieder das Gelände mit ihren Ferngläsern ab. Es war eine willkommene Unterbrechung der Monotonie, als sie in einiger Entfernung eine Mini-Karawane, bestehend aus ein paar bepackten Eseln und zwei Eseltreibern, entdeckten. Die beiden Berber sprachen kein Wort Französisch. Gestenreich versuchten sie, zu erklären, dass sie nur landwirtschaftliche Erzeugnisse transportieren. Aber es half nichts, alles musste abgeladen werden. Penibel durchwühlten die Soldaten jeden Sack, rissen Kohlköpfe und wurzelähnliches Gemüse auseinander. Es fand sich nichts, außer dem kargen Boden in mühseliger Arbeit abgerungene Produkte. Harry sah sich um, als die Gruppe weitermarschierte. Finster und feindselig starrten ihnen die beiden Berber nach. Etliche Produkte waren beschädigt, sie würden auf dem nächsten Markt weit weniger erlösen als erwartet. Harry dachte insgeheim: Vielleicht haben wir ja mit unserer Aktion erreicht, dass die Rebellenarmee demnächst um zwei fanatische Kämpfer wächst.

      Endlich erreichten sie den Treffpunkt, fassten frisches Wasser, erhielten ein vom Nachschub-LKW mitgebrachtes Essen und konnten dann ihr Nachtbiwak errichten. Die Aufklärung der anderen beiden Gruppen war ähnlich ereignislos verlaufen wie die ihre.

      Nachts wurde es bitterkalt. Harry schlief schlecht auf dem nackten harten Boden und fror entsetzlich. Den meisten seiner Kameraden erging es ähnlich. Mit entsprechend wenig Elan starteten sie ihre zweite Route der Aufklärungsaktion. Die Tagesetappe war etwa dreißig Kilometer weit. Beim abendlichen Ziel sollten die Gruppen sich wieder treffen und dann per LKW zurück in die Kaserne fahren.

      Jetzt, am noch frühen Vormittag, war die Kälte der Nacht vergessen. Die Sonne brannte bereits erbarmungslos auf die öde Landschaft. Bald waren die Soldaten wieder genauso verschwitzt, verklebt und verdreckt wie am Vortag. Nach einigen Stunden erreichten sie, wie vorgesehen, wieder ein kleines Dorf, eine Ansammlung armseliger Hütten, die überprüft werden sollte. Wieder fanden sie die Bewohner ängstlich und schutzsuchend zusammengedrängt in einer Hütte und die Männer auf dem Feld. Das Ergebnis nach über zwei Stunden war ohne jedes Resultat, genau wie am Vortag. Etwas später erwischten sie noch einen einsamen, hoch bepackten Eselskarren. Wieder Durchsuchung, wieder ohne Resultat. Aber jedes Mal, ob bei dem Abmarsch aus dem Dorf oder nach der Durchsuchung der Karren, folgten ihnen verzweifelte, finstere und vor allem feindselige Blicke.

      Am Nachmittag marschierten sie auf eine etwas größere Gruppe struppigen grau-braunen Buschwerks zu. Sofort wurde die Aufmerksamkeit größer, die Karabiner wurden von der Schulter in Vorhalte genommen, die Schritte energischer und weniger schleppend. Der Gruppenführer und Harry nahmen die Büsche durch das Fernglas genau ins Visier. Aber da war nichts. Erleichtert passierten sie die Stelle. Die Schritte wurden wieder schleppender, alles war leer, öde, staubig. Die Sonne brannte.

      Plötzlich peitschten Schüsse. Schmerzensschreie zerrissen die triste Landschaft. Volle Deckung. Aber wo, das Gelände war flach. Beim Hinwerfen hatte Harry Bewegung im Buschwerk gesehen. Der Gruppenführer ebenfalls. Der brüllte jetzt: „Wir haben hier keine Deckung. Sturmangriff auf die Büsche. Dauerfeuer! Harry, Roberto, Piotr, Handgranaten. Auf, marsch, marsch.“ Das Denken war ausgeschaltet. Die Legionäre waren keine Einzelwesen mehr, sie wurden zu Automaten. Auch Harry. Automatisch sprang er auf, rannte drei, vier Schritte, schmiss sich wieder hin. Sprang wieder auf, machte einen Haken, riss im Rennen eine Handgranate von seinem Gürtel, zog automatisch die Sicherung heraus, schmiss sie weg und legte dann all seine Kraft in seinen Wurf, hinein in das Gebüsch, dort, wo er die Bewegung gesehen hatte. Sofort tauchte er wieder ab in volle Deckung. Er spürte einen brennenden Schmerz in seinem Wurfarm. Hatte er so viel Wucht in den Wurf gelegt, dass er sich den Arm gezerrt hatte? Keine Zeit zum Denken. Auch die Handgranaten der anderen beiden Werfer schlugen im Gebüsch ein und dröhnten bei der Explosion. Von den Seiten peitschten die Schüsse der anderen Kameraden. Es stank nach explodierender Munition, nach berstenden Granaten. Ein Inferno unter brennender Sonne. Auch Harry packte jetzt seinen Karabiner, um zu feuern, obgleich aus dem Gebüsch keine Antwort mehr kam. Aber sein rechter Arm wollte ihm nicht gehorchen. Der Gruppenführer schrie den Befehl zum Feuereinstellen. Alle lagen in voller Deckung, schussbereit, und warteten. „Harry mit zwei Mann Feindüberprüfung. Vorsichtig anpirschen. Alle anderen schussbereit sichern.“ Sie pirschten sich an. Harry hatte den Karabiner in die Linke genommen, der rechte Arm brannte und gehorchte nicht so richtig. Langsam und bedächtig krochen sie vor, immer wieder spähend und sichernd. Harry sah es zuerst, Fleisch- und Stofffetzen an den braunen Zweigen der Büsche. Drei Leichen lagen in einem zwischen den Büschen ausgehobenen Deckungsloch. Ein Körper war total verstümmelt. Brust und Bauch waren eine einzige blutige Höhle und die fehlenden Teile hingen als grauenhafte blutige Fleischfetzen und Stoffreste im Gebüsch. Die Legionäre durchkämmten das Gebüsch, aber es gab keinen Feind mehr. Die drei Rebellen hatten in einem vorbereiteten Deckungsloch zwischen den Büschen abgewartet, bis die Kolonne passiert hatte, und dann von hinten das Feuer eröffnet. Drei Legionäre wurden sofort getroffen und lagen noch an der Überfallstelle. Einer hatte einen Arm- und einer einen Schulterdurchschuss. Sie waren, wenn auch unter Schmerzen, bald wieder auf den Beinen. Zandor, ein junger Ungar, lag immer noch ohne Bewusstsein am Boden. Seine rechte Brustseite war an der Stelle, wo das Geschoss wieder ausgetreten war, eine einzige matschige, blutige Fläche. Aus den kräftigsten Zweigen der Büsche fertigten die Soldaten eine Behelfstrage für Zandor. Immer vier Mann würden ihn abwechselnd für den Rest des Rückmarsches tragen.

      Erst jetzt bemerkte Harry die nasse rote Stelle an seinem rechten Arm. Nein, er hatte sich den Arm nicht beim Handgranatenwurf gezerrt. Es war eine Schussverletzung. Der Kamerad mit der Sanitätshilfsausbildung schnitt sein Hemd auf und untersuchte den Arm. Zum Glück war es nur ein Streifschuss, der schnell verbunden war.

      Mit zwei Stunden Verspätung erreichten sie den vereinbarten Treffpunkt. Der Rückmarsch mit der Trage und dem schwer verletzten Zandor hatte ebenso Zeit gekostet wie das kurze, aber heftige und erbarmungslose Gefecht, das Sichern des Kampfortes und die Behandlung der Schussverletzungen. Bei den anderen beiden Gruppen war der Tag ereignislos verlaufen.

      Auf der Rückfahrt in die Kaserne wurde der Überfall immer wieder durchgesprochen. Meistens war es allerdings kein Sprechen. Je nach Temperament schrien sich die Kameraden ihre Empfindungen zu, der eine oder andere versuchte sich dabei als Held aufzubauen, oder sie sprachen ganz leise, ganz in sich gekehrt, von dem Glück, das sie alle bis auf Zandor hatten. Immer wieder gingen sie den feigen, aber raffinierten Hinterhalt der Rebellen und die perfekte Reaktion und den Sturmangriff der Gruppe durch.

      In der Krankenstation wurde Zandor notversorgt. Der Arzt resignierte. Er konnte für den schwer verletzten Kameraden in seiner kleinen Notfallstation nicht viel tun. Zandor wurde mit einem Sanitätskraftwagen ins Krankenhaus transportiert. Harrys Streifschuss war die letzte der drei Schussverletzungen, die der Arzt anschließend versorgte. „Sie haben sehr viel Glück gehabt. In ein paar Wochen ist das alles verheilt. Ich schreibe Sie für zwei Wochen krank. Da können Sie sich ein wenig erholen“, sagte der Doktor schmunzelnd. Er war ein netter älterer Herr, der irgendwann den Absprung aus der Legion verpasst hatte.

      Später in ihrer Unterkunft sprachen Harry und Ian die vergangenen Tage noch einmal durch. Ian hatte in seiner Gruppe zwar nichts Aufregendes erlebt, war aber genauso zwiespältig in seinen Empfindungen wie Harry über die Vorgehensweise der Legionäre bei den Durchsuchungen der Dörfer und armseligen Transporte mit den kargen Ernteerträge der Bauern. Wer Wind sät, wird Sturm ernten, darin waren sich beide einig.

      Abends saß Harry noch sehr spät alleine auf der harten Bank vor dem Logis. Er konnte nicht schlafen. Ein wenig fassungslos betrachtete er seine Hände. Sie zitterten! Völlig verselbstständigt spulte sich der Überfall immer wieder in seinem Kopf ab. Er konnte es nicht abstellen, er konnte nichts dagegen tun. War er es gewesen, war es seine Handgranate gewesen, die drei Menschen das Leben gekostet hatte? Das Bild des völlig zerfetzten Körpers des einen Algeriers ließ sich ebenso wenig wegschieben wie die Fleischfetzen und Stoffreste, die kurz vorher noch einen Menschen ausgemacht und ihn bekleidet hatten und dann in dem Gebüsch klebten. Krampfhaft versuchte er, immer wieder rationale Gedanken in den Vordergrund zu holen. Die haben uns schließlich überfallen,