Harrys geträumtes Leben. Hans H. Lösekann

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Название Harrys geträumtes Leben
Автор произведения Hans H. Lösekann
Жанр Биографии и Мемуары
Серия
Издательство Биографии и Мемуары
Год выпуска 0
isbn 9783957442116



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er durchaus als Warnung sehen. Aber wovor und warum? Harrys Gedanken kreisten lange, bevor er wieder einschlief.

      Am Vormittag kam Schwester Lore mit einem Arzt, den Harry noch nicht kannte. Der prüfte die Unterlagen, untersuchte Harry ziemlich flüchtig, stellte einige Fragen und entschied dann: „Ja, Sie können auf die Normalstation verlegt werden. Es ist die Station von Doktor Kreft, den Sie ja schon kennengelernt haben. Der wird mit Ihnen sprechen und über Weiteres entscheiden.“

      Harry lag noch keine Stunde in seinem Bett auf der neuen Station, als Doktor Kreft zur Visite erschien. Zunächst fragte er Harry nach seinen Erinnerungen am Tag seines Zusammenbruchs. Der erzählte ausführlich von der Übergabe der Prüfungszertifikate in der Handelskammer, dem anschließenden Beieinanderstehen auf dem Marktplatz und den Überlegungen darüber, wie gefeiert werden sollte. „Und das ist das Letzte, was ich weiß. Das Nächste ist das Horrorerwachen auf der Intensivstation, völlig bewegungsunfähig und orientierungslos.“

      Doktor Kreft sah ihn ernst an, blätterte dann in der Krankenakte, studierte sorgfältig einige Analysebogen und sprach dann sehr eindringlich: „Ja, das passt. Wir haben während Ihrer Bewusstlosigkeit eine Vielzahl von Tests gemacht. Wir haben ein EKG und ein EEG gemacht, Ihre Leber- und Nierenfunktionen ausgewertet und vor allen Dingen alle nur erdenklichen Werte in Ihrem Blut analysiert. Die Tatsache, dass Sie einen hohen Alkoholwert im Blut hatten, Sie aber nach dem Aufwachen nichts von einem Trinkgelage wussten, hat uns in eine bestimmte Richtung sehr sorgfältig prüfen lassen. Der Verdacht hat sich bestätigt. Ihr Körper hat eine absolute Unverträglichkeit gegenüber Alkohol. Deshalb setzt Ihre Amnesie auch bereits bei der Diskussion über eine Feier ein, die viel Alkoholkonsum beinhaltet. Es ist praktisch eine versuchte Schutzreaktion Ihres Gehirns. Das Trinken selbst fand für Sie dann unter Ausschaltung des Gehirns, sozusagen im Unterbewusstsein statt. Aufgrund der Unverträglichkeit sind Ihre Körperfunktionen nach einiger Zeit zusammengebrochen. Sie erlitten den Krampfanfall, dann das epileptische Um-sich-Schlagen und gerieten in einen lebensbedrohenden Zustand. Wenn Sie leben wollen, dürfen Sie keinen Alkohol mehr trinken.“

      Harry war völlig perplex. Er blickte den Doktor wortlos an und muss dabei einen recht einfältigen Eindruck gemacht haben. Der befragte ihn nach seinen Erfahrungen mit Alkohol, bei welchen Gelegenheiten er welche Mengen getrunken habe. Wiederholt stellte er die Frage, ob er denn nichts von dieser Unverträglich gewusst oder sie durch negative Körperreaktionen bisher noch nicht bemerkt habe. Harry berichtete wahrheitsgemäß, dass er bisher eher selten und wenig getrunken und von einer Unverträglichkeit nichts gemerkt habe. „Und gewusst habe ich das natürlich auch nicht.“

      Dann fiel ihm etwas ein. Er machte einen geradezu fassungslosen Eindruck, als er murmelte: „Außer … vielleicht.“ Als Doktor Kreft fragte, was ihm eingefallen sei, murmelte Harry: „Aber … das war doch nur ein Traum.“ Schließlich erzählte Harry, immer noch ungläubig und wie in Trance: „Es ist jetzt fünf Jahre her. Auf meiner ersten Seereise sind wir in einen schrecklichen Orkan geraten. Es war der gleiche Orkan, in dem das Segelschulschiff Pamir in Seenot geraten und untergegangen ist. Fast hundert junge Seeleute verloren damals ihr Leben. Als der erste SOS-Notruf der Pamir aufgefangen wurde, stand ich gerade am Ruder. Ich habe das ganze grauenhafte Unglück live miterlebt. Ich kämpfte als Rudergänger mit dem Orkan, mit den Wogenbergen hoch wie Häuser mit drei oder vier Stockwerken, als der Funker dem Kapitän, der bei diesem Unwetter natürlich auch auf der Brücke war, die erste SOS-Meldung brachte. Dann kamen weitere, bis zur letzten Meldung: ‚Schiff sinkt, Gott sei uns gnädig.‘ Ich war sechzehn Jahre alt und es war meine erste große Seereise. Ich habe das Grauen unmittelbar und im gleichen Orkan miterlebt. Und ich habe unsere Machtlosigkeit miterlebt, weil wir viele Stunden von der Unglücksstelle entfernt waren. All das hat sich in mir festgekrallt, aber ich wollte trotzdem Seemann bleiben. Als meine Ruderwache zu Ende war, habe ich mich noch lange Zeit an Deck im Niedergang festgelascht und die unbeschreibliche Urgewalt des Ozeans, der Biskaya, in diesem Orkan beobachtet, ja sogar genossen. Später hatte ich dann diesen Traum. Der war so intensiv, dass ich mich tagelang immer wieder aufs Neue davon überzeugen musste, dass es wirklich nur ein Traum war. In diesem Traum erlebte ich mich in diesem Orkan an Deck in diesem Niedergang. Irgendwann brach eine Riesenwelle, so hoch, dass man den Gipfel nicht sehen konnte, über dem Schiff zusammen, drückte es unter Wasser und wirbelte es durch die Urgewalten. Dabei bin ich über Bord geschleudert worden und ertrunken. Aber nachdem ich ertrunken und tot war, sah ich mich etwas später auf einer völlig unwirklichen, surrealistischen Rettungsinsel, ausgepolstert mit Wattewölkchen. Vor mir stand ein riesengroßer Arzt in einem langen schwarzen Umhang und mit einem langen spitzen Hut auf dem Kopf. Er sah aus wie Mephisto. Er hatte ein Stethoskop um den Hals und eine riesige Spritze in der Hand und sprach zu mir: ‚Harry, fürchte dich nicht, du bist gerettet. Aber du warst schon ertrunken und ich musste dich mit einer hochkonzentrierten Alkoholinjektion ins Leben zurückholen. Du kannst ganz normal leben, aber du darfst in deinem Leben nie wieder einen Schluck Alkohol trinken, weil du durch diese Injektion eine lebenslange Alkoholunverträglichkeit haben wirst.‘ Ja, das war der Traum. Lange Zeit hat er mich beschäftigt, aber nach und nach verblassten die Bilder und ich dachte nicht mehr daran. Jetzt, fünf Jahre später, teilen Sie mir in dieser sehr realen Welt das Gleiche mit wie dieser Mephisto in einem schwarzen Umhang im Traum. Das ist unfassbar.“

      Doktor Kreft staunte über Harrys Traumbericht. Etwas verunsichert murmelte er: „Ja, es gibt zwischen Himmel und Erde Dinge, die wir Menschen einfach nicht erklären können.“ Dann fuhr er mit fester Stimme fort: „Aber unsere Diagnose über Ihre Alkoholunverträglichkeit ist sehr real.“

      Harry versuchte, sich zu sammeln, versuchte, wieder richtig zu sich zu kommen, fit zu werden. Körperlich war er schwach wie nach monatelanger Krankheit. Wenn er den Klinikflur auf- und abgeschritten war, musste er sich ausruhen. Das kannte er nicht. Der Doktor beruhigte ihn, das sei ganz normal nach dieser tagelangen tiefen Bewusstlosigkeit.

      „In zwei bis drei Wochen haben Sie Ihre jugendliche Kraft wieder.“

      Die Ereignisse selbst, den Anfall, die Amnesie, die Bewusstlosigkeit mit den drei Tagen an der Schwelle des Todes und die unerklärlichen Parallelen der Diagnose mit einem fünf Jahre alten Traum konnte er nicht so einfach verarbeiten. Unablässig kreisten seine Gedanken und suchten nach Erklärungen. Die Diagnose an sich belastete ihn nicht. Alkohol bedeutete ihm nicht viel. Er hatte in der Vergangenheit selten etwas getrunken und nie sehr viel. Drauf konnte er also leicht verzichten.

      Er lebte in diesen Tagen wie auf zwei Ebenen. Auf der stärker ausgeprägten Ebene drehte sich sein Gedankenkarussell auf der Suche nach einer Erklärung, aber ohne Ergebnis, auf der anderen, der Alltagsebene, handelte er rational. Er beruhigte seine Eltern, die glücklich waren, ihn wieder gesund zu sehen, und die verzweifelt von ihren Besuchen während seiner Bewusstlosigkeit erzählten. Er rief in seiner Firma an, teilte mit, dass er das Krankenhaus in einigen Tagen verlassen könne, dann aber noch etwa drei Wochen krankgeschrieben sei. Der Chef hatte ihm angeboten, nach Abschluss der Lehrzeit als Angestellter in der Firma zu bleiben. Harry bat darum, seine Entscheidung bis zum Ende der Krankheit aufschieben zu dürfen.

      Nach den vielen Highlights in den zwei Jahren seiner Seefahrtzeit waren die letzten drei Jahre der kaufmännischen Lehre gleichmäßig, ruhig, ja fast eintönig gewesen. Sicher, die kaufmännische Arbeit machte ihm Spaß und sie lag ihm auch. Aber wollte er sein Leben im Büro verbringen? Ein Leben in so festgelegten Bahnen kann sicher ganz beruhigend sein, aber stellte er sich sein Leben so vor? Diese Überlegungen hatte er in den letzten Jahren nicht gehabt. Sein Krampfanfall, seine Tage der Gratwanderung zwischen Leben und Tod und die nachfolgenden Tage der Ruhe, der Zwang zum Innehalten, brachten diese Gedanken. Jetzt wurde ihm auch bewusst, dass er mit seinen 21 Jahren keine Freundin hatte. Sicher, bei den vielen Tanzveranstaltungen am Wochenende hatte er Mädchen kennengelernt, sich verabredet, wohl auch ein paar Mal getroffen. Aber es war nie etwas Festes daraus geworden. Nach einigen Verabredungen verlor er immer das Interesse. Harry war einfach nicht offen für intensive Flirts, für eine Liebe, für eine Partnerschaft. Immer verglich er die Mädchen mit Nina, seiner ersten großen Liebe, mit der er vor fast fünf Jahren in Spanien für einen Monat im siebenten Himmel der Liebe gelebt hatte. Wenn er sich jetzt mit einem Mädel verabredete, wenn es zu Zärtlichkeiten kam, erschien nach einiger Zeit Ninas Bild vor seinem geistigen Auge. Er sah ihre strahlenden Augen, ihr langes