Buchstäblichkeit und symbolische Deutung. Matthias Luserke-Jaqui

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Название Buchstäblichkeit und symbolische Deutung
Автор произведения Matthias Luserke-Jaqui
Жанр Документальная литература
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Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783772002151



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des Ancien Régimes. In Deutschland komponierte J.H. ScheinSchein, Johann Hermann pastorale Lieder (WaldliederleinWaldliederlein, 1621, und Hirtenlust, 1624). Die Gedichte Des Daphnis aus Cimbrien GalatheeDes Daphnis aus Cimbrien Galathee (Hamburg 1642) und Des Edlen Dafnis aus Cimbrien besungene FlorabellaDes Edlen Dafnis aus Cimbrien besungene Florabella (Hamburg 1666) von Johann RistRist, Johann beinhalten entsprechende Liedeinlagen. StielerStieler, Kaspar von, ZesenZesen, Philipp von, HarsdörfferHarsdörffer, Georg Philipp, Sigmund von BirkenBirken, Sigmund von und Johann KlajKlaj, Johann sind hier weiter als Beiträger zur Gattung zu nennen. Mit GeßnersGeßner, Salomon IdyllenIdyllen (Geßner) (1756) zieht in die PastoraldichtungPastorale ein wenig codierter empfindsamerEmpfindsamkeit und erotischer Subtext mit ein. Erst in GoethesGoethe, Johann Wolfgang Schäferspiel Die Laune des VerliebtenDie Laune des Verliebten (1768, gedruckt 1806) verliert sich diese historische Spur. Um 1800 wird die bereits epigonal gewordene Schäferdichtung endgültig verabschiedet.

      In der geistlichen MusikMusik, vor allem in der Weihnachtsmusik, finden sich pastorale Reminiszensen in den Hirtenkompositionen wieder. Hierfür stehen SchützSchütz, Heinrich und BachBach, Johann Sebastian mit ihren Weihnachtsoratorien und Abbé VoglerVogler, Abbé Georg Joseph mit seinen Messen. Ludwig van BeethovenBeethoven, Ludwig van nennt seine Symphonie Nr. 6 in F-Dur (op. 68, Uraufführung 1808) die ‚Pastorale‘. In der Gegenwart ist der 1945 geborenen Waliser Robert JonesJones, Robert zu nennen, der zahlreiche Orgelwerke und Messen komponiert hat. Aber seine PastoralmessePastoralmesse aus dem Jahr 2016, die sich in Kyrie, Gloria, Sanctus und Benedictus, Agnus Dei gliedert, erfreut sich großer Beliebtheit, da diese Missa pastoralis gemeinhin als melodiös, rhythmisch und liedhaft gilt.

      Eine spezielle Kinderpastorale ist in der MusikMusikgeschichte- und LiteraturgeschichteLiteraturgeschichte bisher allerdings nicht bekannt. Lediglich der italienische Jesuitenpater und Dichter Giovanni GranelliGranelli, Giovanni (1703–1770) kann hier genannt werden. Seine dreiaktige sogenannte Kinderpastorale heißt im Original L’ Educazione. Azione Pastorale per la picciola famiglia della Duchessa di CassanoL’ Educazione(1767) und wurde, soweit wir sehen, nicht übersetzt.19 Nun soll Heinrich Leopold WagnerWagner, Heinrich Leopold des Italienischen kundig gewesen sein, das behauptet zumindest Erich SchmidtSchmidt, Erich unter Hinweis darauf, dass Wagner in seiner Zeit als Hofmeister bei der Familie von GünderrodeGünderrode, Familie von in Saarbrücken deren Bibliothek nutzen durfte und englische und italienische Studien trieb.20 Ist er dabei möglicherweise auf GranelliGranelli, Giovannis Stück gestoßen und hat sich zu seiner KinderpastoraleKinderpastorale anregen lassen?

      Im Titel nennt Wagners Kinderpastorale den richtigen Zeitpunkt, wann diese Schäferdichtung aufzuführen sei, nämlich „am Geburtstag eines rechtschaffenen Vaters“, was prinzipiell auf jeden Geburtstag eines Vaters zutreffen kann, sofern er rechtschaffen ist, es muss also nicht ein bestimmter Vater wie etwa der Saarbrücker Präsident von Günderrode gemeint sein. Das religiöse Verständnis von Rechtschaffenheit leitet sich aus der jüdisch-christlichen Tradition her. Ein rechtschaffenes Leben zu führen und rechtschaffen zu handeln gewährt nach dem Buch der Sprüche Salomos (Spr 10ff.) ein langes Leben, bewahrt vor einem vorzeitigen Tod und erleichtert generell das Leben.21 Rechtschaffenheit kann sogar einen sozialen Kollektivwert darstellen. Der Frevler ist das Gegenteil eines Rechtschaffenen. Nach ZedlerZedler, Johann Heinrichs Universal-LexikonGrosses vollständiges Universal-LexikonUniversal-Lexikon (1741) bedeutet „rechtschaffen“ auch wahr und wahrhaftig. Ein rechtschaffener Christ, so Zedlers Beispiel, ist ein wahrer Christ und dient der ethischen Charakterisierung von Gesinnung und Handlung eines Menschen. Ein rechtschaffener Vater ist demnach ein wahrer Vater, also ein Vater, wie er sein sollte und dem zeitgenössischen Ideal entspricht, eben ein „rechtschaffenes Wesen in Worten und Wercken […]; er muß in der Wahrheit also seyn, wie er sich äusserlich anstellet“22. Die Idealtypisierung der Menschen, wie sie sich in der zeitgenössischen Literatur und auch in der Kinderpastorale wiederfindet, nimmt bemerkenswerterweise auch ein Beitrag aus dem BürgerfreundDer Bürgerfreund zum Anlass seiner Kritik, der ein Jahr vor Wagners Kinderdramolett unter der Überschrift Vom Lesen der RomanenVom Lesen der Romanen erschienen ist.

      „Eine der schädlichsten Wirkungen der Romanen ist, daß sie uns das wahre Maaß zur Beurtheilung der Menschen, aus den Augen rücken. Indem sie uns lauter Muster von Standhaftigkeit, von Muth, Treue, Verläugnung, Aufopferung – darstellen, so machen uns diese Bücher zu bekannt mit der Vorstellung einer Vollkommenheit, davon wir in der Welt so wenig Beyspiele antreffen. Sie füllen uns den Kopf mit Idealen an, verrücken uns den Gesichtspunkt, aus welchem wir die Dinge betrachten sollen, und schaffen um uns herum eine ganz andere Welt als die wirkliche ist. Wenn wir nun aus diesem süßen Traume, durch unangenehme Vorfälle, durch Disharmonie unseres Selbsts, mit der Gesellschaft, erweckt werden; wann uns die eingebildeten Vollkommenheiten entschlüpfen: so werden wir unzufrieden, misvergnügt, und sehen uns als den unglücklichen Gegenstand eines hartverfolgenden Schicksals an. Daher kommt es, daß uns so selten der wirkliche Genuß befriedigt, weil er unserm Ideal nicht entspricht. Wie reizend, und doch wie gefährlich, in mehr als einem Verstande gefährlich, ist nicht eine blühende Einbildungskraft! Daher entsteht so oft Muthlosigkeit, Melankolie, Sättigung, Ekel; daher so manche unglückliche Ehen, weil keines von den Eheleuten so ist, wie sich es das andere vorgestellt, und man in diesem vertrauten Umgange das nicht findet, was man, nach Anleitung der Komödie, der Oper, oder des Romans, zu finden glaubte. Hat man jemals kaltes Blut, und mit der Natur der Dinge übereinstimmende Begriffe nöthig, so ist es beym Freyen. Und wenn hat man sie wohl weniger? – Wenn sich jedermann ächte, unüberspannte Ideen von dem Menschen, und den Zufällen die ihn betreffen, machte, so würde man sich nicht dem Zorn, der Wuth, dem Unwillen, der Melankolie, der Verzweiflung, der närrischen ausschweifenden Liebe – überlassen; eine freudige Gelassenheit würde die Stelle der LeidenschaftenLeidenschaften einnehmen; Unglücksfälle, die man sich oft als möglich vorgestellet, würden weniger drücken; der Verlust der Güter, der Freunde – weniger darnieder schlagen und muthlos machen; Biegsamkeit, Nachgiebigkeit, Gefälligkeit, Ueberlegung und überdachte Mildthätigkeit würde den Menschen beleben; eine gewisse Gleichmüthigkeit würde die Triebfeder seiner Handlungen seyn; den Ehestand zu einem beglückten Umgang, und das goldene Zeitalter, das leyder bisher immer nur noch in den Schriften der Dichter existirt zu haben scheint, unter uns aufblühen machen: gerade deswegen, weil wir es in der Welt und in uns, und nicht in zauberischen Feen-Mährchen suchten.“23

      WagnersWagner, Heinrich Leopold ‚versteckte‘ Dedikation im Untertitel der KinderpastoraleKinderpastorale mit dem Wortlaut „aufzuführen am Geburtstag eines rechtschaffenen Vaters“ adressiert also das gesamte Stück an einen idealtypischen, nämlich rechtschaffenen Vater, einen Vater, wie er sein sollte. Auch das Grammatisch-kritische Wörterbuch der Hochdeutschen MundartGrammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart von AdelungAdelung, Johann Christoph betont diese Wortbedeutung von Rechtschaffenheit. Dort wird neben der Nennung des rechtschaffenen Glaubens und des rechtschaffenen Sohns auch auf den Begriff der rechtschaffenen TugendTugend verwiesen. Weiter heißt es: „In engerer Bedeutung ist rechtschaffen, Neigung und Fertigkeit besitzend, das zu thun was recht ist, bloß weil es recht ist, und in dieser Neigung gegründet“24. Damit ist das Wort in den bürgerlichenbürgerlich TugenddiskursTugenddiskurs der Zeit implementiert. Das schlägt sich etwa im Titel der Ratgeber- und Erziehungsliteratur nieder, denen am Anfang des Jahrhunderts wie am Ende die Rechtschaffenheit als ethischer Fixpunkt dient, der durch eine aufrichtige christliche Erziehung zu erreichen und zu sichern ist, wie etwa in Der getreue Hoffmeister adelicher und [!] bürgerlicher JugendDer getreue Hoffmeister adelicher und bürgerlicher Jugend / oder Aufrichtige Anleitung wie so wol ein junger von Adel als anderer / der von guter Extraction, soll rechtschaffen aufferzogen werden / er auch seine Conduite selbst einrichten und führen müsse […] (Leipzig 1703) von August BohseBohse, August und Der durch die Wissenschaften zur Rechtschaffenheit gebildete Jüngling: Eine Rede […]Der durch die Wissenschaften zur Rechtschaffenheit gebildete Jüngling von Karl Joseph BattistaBattista, Karl Joseph (Prag 1781), deren Thema bereits in Schulprogrammen zuvor distribuiert worden war, wie beispielsweise in der Rede von der Beförderung der Rechtschaffenheit als dem Hauptzweck alles Unterrichts in Gymnasien und gelehrten SchulenRede von der Beförderung der Rechtschaffenheit, bey der Einführung der neuen Lehrer des Altonaischen Gymnasii […] (Altona