Название | Buchstäblichkeit und symbolische Deutung |
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Автор произведения | Matthias Luserke-Jaqui |
Жанр | Документальная литература |
Серия | |
Издательство | Документальная литература |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783772002151 |
Nebenbei drückt sich in dieser kurzen Handlung ein bemerkenswertes Detail historischer GeschlechterstereotypieGeschlechterstereotype aus. Während die Schwester zunächst diejenige, ist, die souverän die diskursiven Ansprüche und Verbote ihres Bruders kontert und sich sogar mit Spott darüber hinwegsetzen will, ist es der Bruder, der Idee und Absicht der Schwester kapert und zu seiner eigenen Sache macht. Verbot er ihr zunächst die Blume zu pflücken, so pflückt er sie nun selbst. Und wollte die Schwester ursprünglich die Blume dem Vater zu dessen Geburtstag schenken, so nimmt sie nun der Bruder, um sie dem Vater zu „weyhn“ (S. 157) und damit die schwesterliche Bescheidenheit der Verehrung im Akt der Weihe zu überbieten. Dorilis hält ihren Bruder, der sogleich zum Vater will, noch zurück, sie wollen auf Daphnis warten. Die Schwester kennt den Grund, weshalb sich Daphnis verspätet und gerade, als sie das Milon erklären will, tritt Daphnis im zweiten Auftritt auf. Seine Stimmung ist traurig, steht also in vollkommenem Kontrast zur Stimmung der beiden anderen Geschwister und auch zur erwarteten Stimmung des Festereignisses. Daphnis muss eingestehen, dass ihm eine Geburtstagsüberraschung für den Vater misslungen ist. Er hatte Lykas beauftragt, ein Gedicht auf diesen Tag zu verfassen, vielleicht auch ein Lied zu komponieren, wenn man die Wörter „Haberrohr“ (S. 155), „Loblied“ (S. 155) und „anzutönen“ (S. 155) tatsächlich wörtlich nimmt. Doch Lykas hatte das abgelehnt, er könne einen solch bescheidenen und tugendhaften Mann wie den Vater der Kinder nicht mit seiner kümmerlichen Kunst ehren. Milon entscheidet für die geschwisterliche Gruppe, was zu tun ist, er weist jegliche Verantwortung der Geschwister für diese Panne zurück und fordert alle auf, nun gemeinsam zum Vater zu gehen. Daphnis und Dorilis zittern vor lauter Anspannung.
Der dritte und letzte Auftritt besteht nur aus acht Zeilen, aber alle drei Geschwister sprechen abwechselnd. Milon nähert sich als erster dem Vater, was darauf hindeutet, dass er innerhalb des Geschwisterverbands der Älteste ist. Dieser Auftritt, wie die Kinder vor den auf der Bühne nicht präsenten Vater treten, ruft sofort das Bild einer herrschaftlichen Audienz auf, die monastische Leerstelle muss im bürgerlichenbürgerlich Patriachat nicht personal besetzt sein, um restriktiv und repressiv zu wirken, die Internalisierung des väterlichen Gebots hat längst stattgefunden.
Dieses historische Beispiel von GebrauchslyrikGebrauchslyrik, das Lykas verweigerte, liefern die drei Kinder nun selbst in den Schlussversen. Die Blume wird dem Vater in Ehrfurcht überreicht als ein SymbolSymbol des Dankes und der Unterwerfung, die durchaus auch angstbesetzt ist. Denn Ehrfurcht vereint Ehre und Furcht. Die Analogie, wie sie Daphnis betont, liegt darin, dass die Kinder auch ihr gesamtes späteres Leben als Ausdruck der Ehrfurcht gegenüber ihrem Vater verstanden wissen und nur ihm zu Gefallen („Vergnügen“, S. 160) es führen wollen. Damit spiegelt das Gedicht bürgerliche Erziehung wider. Einmal „belohnt“ (S. 160) die Blume die Kinder selbst, wenn sie dem Vater „Vergnügen“ (S. 160) bereitet. Zum anderen wird auch das gesamte Leben der Kinder als ein „Lohn“ (S. 160) verstanden, der dem Vater entrichtet wird. Die Kinder werden in einer Währung entlohnt, die in der Anerkennung durch den Vater besteht. Väterliche Liebe ist das begehrte Zahlungsmittel.
Auch wenn WagnerWagner, Heinrich Leopold, oberflächlich betrachtet, mit der KinderpastoraleKinderpastorale ein unbedeutendes Literaturgenre beliefert haben mag, so wird doch in der TiefenskripturTiefenskriptur deutlich, dass die Harmlosigkeit eines Textes und die Leichtigkeit seiner Reime nichts darüber aussagen, was in der Tiefe unausgesprochen als Zeitkritik ruht.
Die Kinderpastorale muss extrinsisch im Kontext der aufgeklärtenAufklärung Kinder- und Jugendliteratur gesehen werden. Dabei kommt den Vätern im Prozess von Enkulturation und Sozialisation die zentrale Rolle zu, diese „findet ihren Ausdruck in der Hochschätzung, mit der in den Texten die Bezeichnungen ‚Vater‘ und ‚väterlich‘ gebraucht werden.“14 Der Vater verkörpert und repräsentiert für die Kinder wie auch für die Familie insgesamt jene „zivilisierten Standards, die sie in ihrem Sozialisationsprozeß einüben sollen; in ihm sind diese Standards personifiziert“15. Die propagierte Liebe zur TugendTugend wird durch ihn verkörpert und appelliert an die Kinder, in der Regel die Söhne, „sich selbst den Geboten der Sittlichkeit gemäß zu verhalten“, was wiederum die Grundlage der Liebe der Kinder zum Vater darstellt; „Liebe zur Tugend und Liebe zum Vater gehen in eins“.16 Dieser Prozess hat zur Folge, „daß die Über-Ich-Instanz, deren Stellung im psychischen Apparat des Einzelnen infolge des familialen Wandels eine wesentliche Stabilisierung und Verstärkung erfährt […], maßgeblich väterlich bestimmt ist.“17 Zu den wichtigen Autoren dieser väterlichen Kinder-Literatur gehören unter anderem Christian Felix WeißeWeiße, Christian Felix (1726–1804), der ab 1775 in Leipzig das Wochenblatt Der KinderfreundDer Kinderfreund herausgab, und Joachim Heinrich CampeCampe, Joachim Heinrich (1746–1818).
Die Opposition zwischen aristokratischem Privatunterricht durch einen Hofmeister und öffentlichem, bürgerlichenbürgerlich Schulunterricht hat der Dichter Jakob Michael Reinhold LenzLenz, Jakob Michael Reinhold (1751–1792) in seinem Drama Der Hofmeister oder Vorteile der PrivaterziehungDer Hofmeister (1774) dargestellt, das zum Zeitpunkt der Veröffentlichung von WagnersWagner, Heinrich Leopold KinderpastoraleKinderpastorale, eventuell sogar schon bei deren Entstehung, also bereits gedruckt vorlag.
Der Kompositionstyp der PastoralePastorale hat in der Geschichte der sakralen und profanen Musik seinen festen Platz und eine erstaunlich lange Tradition.18 Die antikenAntike Muster der Hirtendichtungen eines TheokritTheokrit, eines VergilVergil und eines OvidOvid werden in den Bucolica der RenaissanceRenaissance fortgeführt. BoccacciosBoccaccio, Giovanni und SannazarosSannazaro, Jacopo Dichtungen aus dem 14. und 15. Jahrhundert erfahren öfters Kompositionen. Den Pastor fidoPastor fido (1590) von GuariniGuarini, Battista, der über 125-mal vertont wurde, nennt der frühbarockeBarock Theoretiker Christian Friedrich HunoldHunold, Christian Friedrich (Pseudonym Menantes) in seiner Allerneuesten Art, / Zur / Reinen und Galanten / Poesie / zu gelangen […]Allerneueste Art, / Zur / Reinen und Galanten / Poesie / zu gelangen (Hamburg 1722) die Quelle aller Opern. Einen entscheidenden Anstoß erfährt die dramatisierte Pastorale durch Torquato TassosTasso, Torquato fünfaktiges Hirtenspiel AmintaAminta (Uraufführung 1573, gedruckt 1780). Bei PraetoriusPraetorius, Michael finden sich 1619 Pastoralkompositionen. Zahlreiche Opern mit pastoralen Stoffen und Motiven sind überliefert. GluckGluck, Christoph Willibald (Il re pastoreIl re pastore, 1756) und MozartMozart, Wolfgang Amadeus (Il re pastoreIl re pastore, 1775) komponierten italienische Pastorali, sowie TelemannTelemann, Georg Philipp, HasseHasse, Johann Adolf, JommelliJommelli, Niccolò, Carl Philipp Emanuel BachBach, Carl Philipp Emanuel und HaydnHaydn, Joseph. In Frankreich erfreut sich die Pastoraloper bis zur Revolution großer