Название | Buchstäblichkeit und symbolische Deutung |
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Автор произведения | Matthias Luserke-Jaqui |
Жанр | Документальная литература |
Серия | |
Издательство | Документальная литература |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783772002151 |
Goethe infantilisiert den Freund, er nennt ihn ein „Bübgen“ (S. 12), so wird Lenz übrigens später auch von Herder tituliert (vgl. S. 54). Goethe positioniert damit die Machtanteile eindeutig nach patriarchalem Muster. Väterlich lobt er die Absicht von Lenz, nur „gut seyn“ (S. 12) zu wollen. Und dann fällt der vielsagende Satz: „Es ist mir als ob ich mich in dir bespiegelte.“ (S. 12) Das ist eine eindeutige narzisstische Figurierung, die sprachliche Inszenierung von Goethes Eigenliebe ist unübersehbar. Für ihn besteht die Funktion von Lenz lediglich darin, dass dieser ihn in seiner Selbstliebe bestärkt. Der Verfasser des Pandämonium GermanikumPandämonium Germanikum, der Autor Lenz bringt damit die Instrumentalisierung zum Ausdruck, die er durch Goethe erfährt. Er reagiert im Traum darauf physisch, denn Lenz wird „roth“ (S. 12). Noch hat er Goethe „unter den Armen“ (S. 12), später ist es nur noch das eigene Werk, sein HofmeisterDer Hofmeister (vgl. S. 20). Und noch bedeutet Goethes Imperativ „Weiter!“ (S. 12), dass „beyde“ (S. 12) gemeinsam einer Anhöhe zugehen. Dieser Schlussdialog der Eingangsszene ist aus H2 vollständig getilgt. Der Auslöschung entgegengesetzt ist lediglich der Schlusssatz Goethes: „Bleiben wir zusammen“ (S. 13). Der Träumende legt den Wunsch mit seinem beschwörenden Unterton dem Freund in den Mund, von dem er längst ahnt, dass er auch hier die Identität des Gemeinten verwehrt.
Wie bewusst dem Autor Lenz die drohende Trennung von Goethe gewesen ist, wird in der vorletzten Szene des Stücks erkenntlich. In II/5 formuliert Goethe expressis verbis jenen Anspruch und reklamiert damit die Anerkennung für sich, die nach der Lesart des Autors Lenz selbst zusteht. Lenz lässt KlopstockKlopstock, Friedrich Gottlieb, HerderHerder, Johann Gottfried und LessingLessing, Gotthold Ephraim unisono (!) über ihn sagen: „Der brave Junge. Leistet er nichts, so hat er doch groß geahndet“ (S. 56). Der im daktylischen Pentameter geschriebene zweite Satz spricht unmissverständlich dem Autor Lenz die größere literaturgeschichtliche Bedeutung zu. Das Autoritätstriumvirat der Sturm-und-Drang-AutorenSturm und Drang ist die letzthin unabhängige Instanz, die das objektive Urteil über die Leistung des Dichters Lenz spricht. Goethes Einspruch hierauf wird in der pointierten Kürze vom Autor geradezu als Anmaßung herausgestellt. Der Bruch ist unabwendbar, Goethe sieht sich in der Linie einer konsequenten Fortschreibung des lenzschen Werks. LenzLenz, Jakob Michael Reinhold sieht die Bedrohung, die Goethe für ihn bedeutet, während er für GoetheGoethe, Johann Wolfgang lediglich Medium der Selbstbespiegelung bleibt. Die Menge der hereinstürmenden jungen Leute, die denselben Anspruch erheben wie Goethe, potenziert die Bedrohung, die für Lenz aus dieser Situation resultiert.
Um Interferenzen und Referenzen ebenso wie die Eigenständigkeit und die Bedeutung des Pandämonium GermanikumPandämonium Germanikum erkennen zu können, muss man den Text in den Kontext genuiner Sturm-und-Drang-LiteratursatirenLiteratursatire einlesen.10 Wie bereits die Mikroanalyse der ersten Szene gezeigt hat, handelt es sich bei diesem Stück um einen Text der Selbstvergewisserung. Im Angriff auf die etablierten Literaten beschwört Lenz nochmals die Paaridentität zwischen ihm und Goethe. Auf das sonst andernorts oft beschworene Gruppengefühl wurde längst verzichtet. Dies mag gewissermaßen der psychische Unterbau der Beweggründe gewesen sein, die Lenz zur Niederschrift des Stücks veranlasst und auch noch zur Bearbeitung (in Gestalt der zweiten Handschrift) motiviert haben. Der unmittelbare Anlass hingegen ist mit Sicherheit in einer bösartigen Anspielung Friedrich NicolaisNicolai, Friedrich zu sehen. Dieser hatte in der im Januar 1775 veröffentlichten WertherDie Leiden des jungen Werthers-Parodie Freuden des jungen Werthers. Leiden und Freuden Werthers des Mannes. Voran und zuletzt ein GesprächFreuden des jungen Werthers. Leiden und Freuden Werthers des Mannes. Voran und zuletzt ein Gespräch in dem Teil Leiden Werthers des Mannes geschrieben:
„’s war da ein junges Kerlchen, leicht und lüftig, hatt’ allerlei gelesen, schwätzte drob kreuz und quer, und plaudert’ viel, neust’ aufgebrachtermaßen, vom ersten Wurfe, von Volksliedern, und von historischen Schauspielen, zwanzig Jährchen lang, jed’s in drei Minuten zusammengedruckt, wie ein klein Teufelchen im Pandämonium. Schimpft’ auch alleweil’ auf’n BatteuxBatteux, Charles, Werther selbst konnt’s schier nicht besser. Sonst konnte der Fratz bei hundert Ellen nicht an Werthern reichen, hatte kein’ Grütz’ im Kopf und kein Mark in’n Beinen. Sprang ums Weibsen herum, fispelte hier, faselte da, streichelte dort, gabs Pfötchen, holt’n Fächer, schenkt’ ’n Büchschen, und so gesellt’ er sich auch zu Lotten“.11
LenzLenz, Jakob Michael Reinhold kannte mit Sicherheit diesen Text von NicolaiNicolai, Friedrich, über den Boie in einem Brief an Lenz vom 11. April 1776 bemerkt: „Wider N.[icolai] jetzt auch noch was zu sagen, da die Freuden längst vergessen sind, wäre ja zu spät“ (Lenz: WuBr, Bd. 3, S. 425). GoetheGoethe, Johann Wolfgang hatte diese Art von Wertheriade kurz und prägnant „das Berliner ppp Hundezeug“12 genannt. Lenz verstand die Anspielung in Nicolais Satire, er wusste, dass er selbst mit jenem „jungen Kerlche[n]“ gemeint war, das von Nicolai auch als „Geelschnabel“ und „Lecker“ tituliert wird.13 Bereits der Titel Pandämonium GermanikumPandämonium Germanikum referiert auf diese Textstelle aus Nicolais Satire.14 Wenn Lenz als „ein klein Teufelchen im Pandämonium“ von Nicolai bezeichnet wird, dann impliziert dies ein hohes Maß an Diffamierungswillen. Als Teufelchen hielte sich Lenz im Bereich aller Dämonen auf, wenn man so das Pandämonium versteht. Und damit wird jegliche literarische Eigenständigkeit, Originalität und Individualität des Dichters radikal infrage gestellt.
Lenz antwortet auf diese Invektive Nicolais mit dem Titel Pandämonium Germanikum, was so viel heißen kann wie Gesamtheit aller deutschen Dämonen. Dass zu diesen Goethe und Lenz, Klopstock, Lessing und Herder nicht gehören, belegt der Text. Lenz tut Nicolai nicht einmal die Ehre an, unter der Vielzahl der zitierten Autoren namentlich genannt zu werden. Vergegenwärtigt man sich, welche Fülle von LiteratursatirenLiteratursatire, Parodien und Pamphleten in den Jahren 1773 bis 1775 erschienen ist, so wird die Abwesenheit Nicolais in Lenzens Text verständlich. Nicolais Ausfall gegenüber Lenz wird, gemessen am eigentlichen Thema des Textes, völlig nebensächlich. Die kritisch-streitlastige Atmosphäre dieser Jahre ist so satirisch und diffamatorisch aufgeladen, dass das Pandämonium GermanikumPandämonium Germanikum umso mehr aus dem Korpus anderer LiteratursatirenLiteratursatire heraussticht. Zu untersuchen wäre in diesem Zusammenhang, inwiefern die Literatursatiren der 1770er-Jahre die konterrevolutionären Satiren der 1790er-Jahre vorbereiten, wie beispielsweise KotzebuesKotzebue, August von Der weibliche Jakobiner-KlubDer weibliche Jakobiner-Klub, GoethesGoethe, Johann Wolfgang BürgergeneralDer Bürgergeneral, IfflandsIffland, August Wilhelm Die KokardenDie Kokarden oder SchummelsSchummel, Johann Gottlieb Die Revolution in ScheppenstedtDie Revolution in Scheppenstedt. Folgt man dem Vorschlag, die konservative Revolutionsdramatik der 1790er-Jahre im Hinblick auf ihre Thesen und WirkungsabsichtenWirkung zu typologisieren, so gelangt man zu dem triadischen Schema von Defension, Denunziation und Agitation.15 Dieses Raster scheint durchaus tauglich zu sein, die Literatursatiren der 1770er-Jahre in einem neuen Beziehungsgeflecht zu untersuchen. Dieser Untersuchungsbereich verstünde sich als Ergänzung zu der gleichfalls triadischen Klassifikation, die in erster Linie die Binnenstruktur der Texte untersucht. Danach bezieht sich die Kritik der Literatursatiren des Sturm und DrangSturm und Drang auf drei literarische Erscheinungen: „1. literarische und theoretische Besonderheiten der deutschen und der europäischen Aufklärung, 2. literarische Parallelerscheinungen zum Sturm und Drang wie Sentimentalität und Gefühlskult […] und 3. Entartungserscheinungen der eigenen Bewegung“Bourdieu, Pierre16. So lassen sich jene Kategorien von Defension, Denunziation und Agitation durchaus als Substruktur jedes einzelnen Punktes dieses Kritikmodells