Buchstäblichkeit und symbolische Deutung. Matthias Luserke-Jaqui

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Название Buchstäblichkeit und symbolische Deutung
Автор произведения Matthias Luserke-Jaqui
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783772002151



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die nicht einfach stillschweigend übergangen werden können. So gehört auch jenes schreckliche Wort endgültig aus dem Textbestand der Weimarer Ausgabe getilgt, zu dem sich im zweiten Jahr des Ersten Weltkriegs 1915 der Bearbeiter Max HeckerHecker, Max am Ende des Eintrags zum Lemma ‚England‘ im Registerband hinreißen lässt: „Gott strafe England! 1915“. Nachzulesen im Band 54 der Weimarer Ausgabe, dem Registerband A bis L, erschienen 1916, S. 257.

      Lenz Pandämonium Germanikum (1775)

      Von der Satire Pandämonium Germanikum des Dichters Jakob Michael Reinhold LenzLenz, Jakob Michael Reinhold gibt es zwei Autorhandschriften und eine komplette Abschrift. Dennoch herrschte in der Lenz-Forschung lange Zeit ein Durcheinander, wenn es darum ging, sich editionsphilologischeEditionsphilologie Klarheit über dieses Stück zu verschaffen. Es scheint nicht nur ein philologischesPhilologie Problem zu sein, mit dem Pandämonium GermanikumPandämonium Germanikum umzugehen, es ist auch eine interpretatorische und generell eine literarhistorische Schwierigkeit.

      Um kurz zu bilanzieren, wie sich die Lage oder besser die editorische Misslage darstellt: Nach vorsichtiger Schätzung gibt es nahezu 20 verschiedene Ausgaben dieses Lenz-Textes, die sich in zwei Fraktionen teilen lassen. Die einen drucken das Pandämonium Germanikum nach der älteren Handschrift, die anderen nach der jüngeren. Über die einzelnen editorischen Beweggründe und die Beweggründe einzelner Editoren soll hier nicht gemutmaßt werden. Die ältere handschriftliche Fassung (H1) ist diejenige Handschrift, die in der Berliner Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz (SPK) aufbewahrt wird. Die jüngere Fassung (H2) ist diejenige Handschrift, die in der Biblioteka Jagiellońska in Kraków liegt. Eine Abschrift des Pandämonium Germanikum befindet sich in der Bibliothek der Stiftung Weimarer Klassik.1 Diese Abschrift ist vollständig, es handelt sich weder um das Fragment einer Abschrift noch gar um das Fragment einer dritten Handschrift des Pandämonium Germanikum. Eine kritische Edition beider Autorhandschriften liegt seit 1993 vor.2

      Die Ausgaben von Blei (1910), Freye (ca. 1910), Lewy (1917), Kindermann (1935), Titel/Haug (1967), Daunicht (1970), Richter (1980) und Damm (1987) drucken den Text nach der älteren Handschrift. Die Ausgaben von Dumpf (1819), Schmidt (1896), Sauer (ca. 1890), Stellmacher (1976), Unglaub (1988), Lauer (1992) und Voit (1992) geben den Text nach der jüngeren Handschrift wieder.3 Erich Schmidt gab 1896 das PandämoniumPandämonium Germanikum erstmals in einer Edition heraus, die von Emendationen nahezu frei war, nachdem sich zuvor Dumpf (1819), Tieck (1828) und Sauer (ca. 1890) daran versucht hatten. Allerdings entschied sich Schmidt für den Abdruck der jüngeren Handschrift, statt H1 druckt er H2. Er greift gelegentlich in Interpunktion und Orthografie der Handschrift ein, geringfügige Lesefehler sind im Variantenverzeichnis zu H1, das er im Fußnotenapparat anführt, auszumachen. Franz Blei (1910) kompiliert in seiner fünfbändigen LenzLenz, Jakob Michael Reinhold-Ausgabe die beiden handschriftlichen Fassungen des Pandämonium GermanikumPandämonium Germanikum, unterliegt dabei aber einem gravierenden Irrtum. Im Kommentar zur Druckvorlage schreibt BleiBlei, Franz: „Die Stellen, welche nur die ältere Fassung des Pandämonium enthält[,] sind in unserem Druck in eckige Klammern gesetzt“4. Tatsächlich druckt Blei aber in eckigen Klammern in seiner Ausgabe Varianten nach H2, der jüngeren Handschrift. Darüber hinaus ist die Wiedergabe von H1, der älteren Handschrift, gezeichnet von Lesefehlern und orthografischen Modernisierungsversuchen. Die Verdienste von Blei sollen keinesfalls geschmälert werden, doch hatte seine Edition des Pandämonium Germanikum zur Folge, dass einige Editoren nach ihm seine kodikologische Altersangabe unbefragt übernahmen. Erst Titel und Haug (1967) und in deren Folge Damm (1987) druckten die tatsächlich ältere Handschrift, allerdings unterlaufen auch ihnen zahlreiche Transkriptionsfehler. Als Beispiele mögen die folgenden beiden Verlesungen genügen: (1.) In I/2 transkribieren Titel/Haug: „ERSTER: […]. Ich will mich auf jenen Stein stellen dort gegen mich über.“5 Richtig müsste es nach H1 heißen: „Ich will mich auf jenen Stein stellen dort gegen ihm über[.]“. (2.) Titel/Haug lesen: „O weh! er zermalmt uns die Eingeweide, er wird einen zweiten Ätna auf uns werfen.“6 Statt: „O weh! er zermalt uns die Eingeweyde, er wird einen zweyten Aetna auf uns werfen[.]“ Die neueren Sammelausgaben der Werke von Lenz, die demzufolge auch das Pandämonium Germanikum abdrucken, haben es leider versäumt, die Handschriftenwirrnis, die so verworren eigentlich gar nicht ist, etwas zu lichten. Als Beispiele genügen die Ausgaben von Unglaub (1988) und Voit (1992). Erich Unglaub weist im Kommentar zu seiner Ausgabe den Druck von Erich SchmidtSchmidt, Erich als H1 aus, meint aber H2.7 Demzufolge druckt Unglaub selbst auch H2. Friedrich Voit (1992) erkennt zwar die schmidtsche Entscheidung, erkennt sie aber an und gibt den Text nach H2 wieder. Lange Zeit gab es also keine Ausgabe, welche die ältere Handschrift von Lenzens Pandämonium Germanikum nicht modernisiert oder nahezu fehlerfrei gedruckt hat, geschweige denn kritisch wiedergegeben hat. Die meisten Editoren geben das Titelwort Germanikum stets mit ‚c‘ anstatt mit ‚k‘ wieder. Eine Autopsie der Handschriften, von zahlreichen Editoren in ihren Kommentaren zum Druck immerhin beschworen, kann leicht aufweisen, dass es hierüber keinerlei Unklarheit gibt. Germanikum wird von LenzLenz, Jakob Michael Reinhold sowohl in H1 als auch in H2 mit ‚k‘ geschrieben. Die wenigsten Editoren beabsichtigten freilich eine kritische Ausgabe des Pandämonium GermanikumPandämonium Germanikum. Meist ging es zunächst einmal darum, durch Leseausgaben den Autor selbst überhaupt erst bekannt oder bekannter zu machen. Richard Daunicht kam mit seiner Ausgabe von 1970 schon sehr nahe an eine kritische Ausgabe von H1 heran. Ein ähnlich gelagerter Fall ist auch beim Umgang mit der Schreibweise von Friedrich SchillersSchiller, Friedrich Drama Don KarlosDon Karlos. Infant von Spanien zu beobachten. 1787 erschien die erste vollständige Ausgabe, 1805 die letzte Fassung. Und Schiller schreibt fast durchgängig Don Karlos. Erst die Orthografie des 19. Jahrhunderts macht daraus Don Carlos. Das portugiesische Dom taucht bei Schiller neben dem spanischen Don auf, erst mit dem Druck der Ausgabe von 1801 ringt sich Schiller nach einem Hinweis von WielandWieland, Christoph Martin zu der einheitlichen Schreibweise Don durch.

      „Meinen […] Freunden ein Rätsel“ (Lenz: WuBr, Bd. 2, S. 323f.). Diesen resignierenden Satz schrieb Lenz am 28. August 1775 an Herder. Will man dieses Rätsel LenzLenz, Jakob Michael Reinhold ein wenig auflösen, muss man den Signifikanzen des Textes größte Beachtung schenken. In der ersten Szene des ersten Akts, die im Folgenden ausschließlich interpretiert werden soll, heißt es in einer Regieanweisung des Autors: „Lenz versucht zu stehen“ (S. 10).8 Die Eingangsszene des ersten Aktes kann insgesamt als Lenzens Versuch verstanden werden, sich über sich selbst und über sein Verhältnis zu GoetheGoethe, Johann Wolfgang zu orientieren. Darauf weist schon die parallele Struktur der beiden Redeanteile von Lenz-Figur und Goethe-Figur im Text hin. Goethe eröffnet die Szene mit einer Frage, die allein schon Lenz überfordert, er kann sie nicht beantworten. Beide wissen nicht, wo sie sich befinden. Diese Orientierungslosigkeit wird mit der Angabe „Der steil’ Berg“ (S. 10) deutlich hervorgehoben. Goethe hat also zunächst Lenz nichts voraus. Mit der Unterstreichung des subjektiven Willensentschlusses als der rhetorischen Duplikation einer topischen Sturm-und-Drang-GebärdeSturm und Drang („Ich will hinauf“, S. 10) wird aber bereits die Differenz deutlich. Es bleibt nicht bei dem sprachlichen Entschluss, die Tat folgt unmittelbar, „Goethe […] verschwindt“ (S. 10). Dem Verschwinden Goethes im „Gebirg“ ist diese Differenz vorgängig. Lenz stellt nun eine Frage („wo willt du hin“, S. 10) und GoetheGoethe, Johann Wolfgang antwortet nicht; Lenz möchte verweilen und „Goethe geht“ (S. 10); LenzLenz, Jakob Michael Reinhold möchte „erzehlen“ (S. 10) und Goethe möchte verschwinden. Das Sprechen des Freundes erreicht Goethe nicht mehr. In dieser Situation der Orientierungslosigkeit lässt der Freund den Freund allein zurück, er erwartet Antworten, antwortet selbst aber nicht.

      In dem sich nun anschließenden Monolog von Lenz bricht die Differenz vollends auf. Nur dem abwesenden Freund, nur im Sprechen mit sich selbst, kann Lenz mitteilen, was ihm Bedürfnis ist. „Hätt’ ihn gern, kennen lernen“ (S. 10), sagt er. Danach kennt Lenz Goethe nicht wirklich, der Traum – denn um einen solchen handelt es sich ja bei diesem Stück, wenn man die Regieanweisung des Schlusssatzes des letzten Akts zur Deutung heranzieht – imaginiert die Identitätslosigkeit Goethes. Neben die Desorientierung tritt die ausgelöschte Identität des