Buchstäblichkeit und symbolische Deutung. Matthias Luserke-Jaqui

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Название Buchstäblichkeit und symbolische Deutung
Автор произведения Matthias Luserke-Jaqui
Жанр Документальная литература
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Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783772002151



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von Handschrift und Akademie-Druck festzustellen ist.18 Die Ausführungen zum Plan und zu den editorischen Richtlinien der Akademie Ausgabe waren allgemein gehalten. Hieraus geht nicht hervor, nach welchen Vorlagen der Werther-Band der Akademie Ausgabe gedruckt wurde. Dies wirft die Frage auf, woher die meisten Werther-Editoren die Gewissheit nehmen, dass dem im Paralleldruck der Akademie Ausgabe auf der rechten Seite stehenden Druck die Handschrift H zugrunde liegt? Eine Editio synoptica gerät unter der Hand schnell zu einer Editio mixta. Lesarten der Handschriftenfassung werden mit der Druckfassung gemischt, ohne dass dies jeweils im Detail nachgewiesen wird. Schon 1971 hat Siegfried Scheibe ausführlich dargelegt, dass ein solcher Mischtext, wie ihn die Akademie Ausgabe bietet, heutigen Ansprüchen an die EditionsphilologieEditionsphilologie nicht mehr genügen kann und den Grundsätzen einer historisch-kritischen Edition nicht entspricht.19 Ein Mischtext mit den entsprechenden Veränderungen durch den Herausgeber wird meist mit Argumenten der TextverderbnisTextverderbnis begründet. Nun stammt der Begriff der Textverderbnis aus der Kodikologie und meint eine Stelle in einem handgeschriebenen Manuskript, die unleserlich oder gar völlig verloren ist. Dies wirft die prinzipielle editionsphilologische Frage auf, ob man eine Druckschrift editionsphilologisch ebenso behandeln kann wie eine Handschrift. Philologisch problematisch jedenfalls bleibt jener, terminologisch als Konjektur bezeichnete Eingriff in eine Textvorlage, sofern er auf bloßen Mutmaßungen beruht.20 Insofern sind weder die Akademie Ausgabe noch die Weimarer Ausgabe als historisch-kritische Ausgaben zu bezeichnen. In den Editionsrichtlinien des Vorberichts der Weimarer Ausgabe wird unmissverständlich über die Autorität des Autors GoetheGoethe, Johann Wolfgang gesagt und dies wird als Editionsgrundsatz festgelegt: „Für den Druck der Werke hat er selbst die Norm gegeben in der Ausgabe letzter Hand“ (Goethe: WA, Abt. I, Bd. 1, S. XIX). Der WertherDie Leiden des jungen Werthers wird denn auch nach dem Wortlaut der Ausgabe letzter HandAusgabe letzter Hand (Goethe), Band 16, wiedergegeben (vgl. Goethe: WA, Abt. I, Bd. 19, S. 309).21 Welche Bedeutung aber schon Goethe selbst der Notwendigkeit einer unverfälschten Wiedergabe sogar des Erstdrucks beigemessen hat, geht aus dem Konzept eines Briefes an die Weygandsche Buchhandlung von 1824 hervor. Dort heißt es über den Werther:

      „Ich werfe nämlich die Frage auf: Ob Sie nicht das Büchlein, nach der ersten Ausgabe, wie es in Ihrem Verlag ursprünglich gegeben worden, [neu drucken wollen?]22 es ist in der letzten Zeit viel Nachfrage danach gewesen, ich habe sie selbst in Auctionen im gesteigerten Preis zu erhalten gesucht.

      Der erste Abdruck in seiner heftigen Unbedingtheit ists eigentlich der die große Wirkung hervorgebracht hat; ich will die nachfolgenden Ausgaben nicht schelten aber sie sind schon durch äußere Einflüsse gemildert geregelt und haben denn doch nicht jenes frische unmittelbare Leben; dem Verleger selbst müßte es von großem Vortheil seyn denn kaum ist noch jemand unter den lebendigen, der jenen Abdruck gesehen hätte. Jedermann der auch den späteren Werther besitzt würde den früheren zu besitzen sich genöthigt sehen […]“ (Goethe: WA, Abt. IV, Bd. 38, S. 356).

      Am 30. Dezember 1781 bittet GoetheGoethe, Johann Wolfgang Charlotte von SteinStein, Charlotte von: „Schicke mir die Italiänischen Briefe Werthers und dein deutsch Exemplar dazu“ (Goethes: WA, Abt. IV, Bd. 5, S. 244). Daraus schließt die Forschung, dass Goethe selbst kein eigenes Exemplar des WerthersDie Leiden des jungen Werthers von 1774 mehr besaß. Am 19. Juni 1782 schreibt er wiederum an Charlotte von Stein: „Sage mir wie du den Tag zubringst und schicke mir meine gedruckten Schrifften ich habe einen wunderlichen Einfall und will sehn ob ich ihn ausführe“ (Goethe: WA, Abt. IV, Bd. 5, S. 350). Bis zu diesem Zeitpunkt gibt es allerdings keine von Goethe autorisierte Veröffentlichung, auf die der Titel Schriften zuträfe. Somit können nur der Nachdruck HimburgsHimburg, Christian Friedrich oder die Raubdrucke aus Frankfurt, Karlsruhe, Leipzig oder Reutlingen gemeint sein. Bereits 1866 konnte Michael BernaysBernays, Michael nachweisen23, dass die Vorlage für die Zweitfassung des WerthersDie Leiden des jungen Werthers ein äußerst verderbter Nachdruck des himburgschen Raubdrucks ist, nämlich der erste Teil der Ausgabe J.W. Goethens SchriftenJ.W. Goethens Schriften. Erster – Dritter Band. Dritte Auflage. Mit Kupfern. Vierter Band (Berlin 1779. Bei Christian Friedrich HimburgHimburg, Christian Friedrich). Diese Ausgabe trägt in der Siglierung der Weimarer Ausgabe die Sigle h3, nach Waltraud Hagen wird sie mit s3 bezeichnet.24 Folgt man Goethes eigener Darstellung im 16. Buch von Dichtung und WahrheitDichtung und Wahrheit, dann hat der Berliner Verleger Christian Friedrich HimburgHimburg, Christian Friedrich (1733–1801) seinen Nachdruck des Werthers von 1775 selbst an Goethe geschickt:

      „Als nämlich meinen Arbeiten immer mehr nachgefragt, ja eine Sammlung derselben verlangt wurde, jene Gesinnungen aber mich abhielten, eine solche selbst zu veranstalten, so benutzte Himburg mein Zaudern, und ich erhielt unerwartet einige Exemplare meiner zusammengedruckten Werke. Mit großer Frechheit wußte sich dieser unberufene Verleger eines solchen dem Publicum erzeigten Dienstes gegen mich zu rühmen und erbot sich, mir dagegen, wenn ich es verlangte, etwas Berliner Porzellan zu senden“ (Goethe: WA, Abt. I, Bd. 29, S. 15).

      GoetheGoethe, Johann Wolfgang spricht noch vom „Verdruß“ und von der „Verachtung“, die er diesem „unverschämten Nachdrucker“ und seinem „Raub“ (Goethe: WA, Abt. I, Bd. 29, S. 16) gegenüber empfinde. 1775/76 hatte Himburg eine dreibändige Ausgabe von Goethes SchriftenJ.W. Goethens Schriften gedruckt, der WertherDie Leiden des jungen Werthers befindet sich im ersten Teil von 1775, die dritte Auflage erschien 1779. Am 14. Mai 1779 schickt Goethe zwei Exemplare hiervon an Charlotte von SteinStein, Charlotte von, ob damit freilich h3/s3 gemeint ist, ist zwar anzunehmen, aber nicht nachzuweisen. Im Begleitbrief dazu schreibt Goethe:

      „Von denen zwey Exemplaren schicken Sie ein’s der Waldnern. Da Sie kleine Herzgen durch mich verschencken, ist’s billig dass ich Sie zur Austheilerinn meiner geringen Geists Produckte mache. Adieu Liebste. Ich habe das Zeug heute früh durchgeblättert, es dünckt einen sonderbaar wenn man die alt abgelegten Schlangenhäute auf dem weisen Papier aufgezogen findet“ (Goethe: WA, Abt. IV, Bd. 4, S. 37).

      Wenn sich Goethe nun im Dezember 1781 seinen Werther bei Charlotte von Stein wieder ausleiht, so ist zu mutmaßen, aber nicht sicher zu belegen, dass es sich hierbei um h3/s3 gehandelt haben dürfte. Am 21. November 1782 heißt es in einem Brief an Karl Ludwig von KnebelKnebel, Karl Ludwig von (1744–1834): „Meinen Werther hab ich durchgegangen und lasse ihn wieder ins Manuscript schreiben, er kehrt in seiner Mutter Leib zurück du sollst ihn nach seiner Wiedergeburt sehen. Da ich sehr gesammelt bin, so fühle ich mich zu so einer delikaten und gefährlichen Arbeit geschickt“ (Goethe: WA, Abt. IV, Bd. 6, S. 96). Goethe benötigt also ein knappes Jahr, um den Werther ‚durchzugehen‘ und abschreiben zu lassen. Dieses korrigierte Druckexemplar des himburgschen Nachdrucks ist nicht erhalten. Die Abschrift, die er nun im November 1782 anfertigen lässt, ist jenes Manuskript H, das erst 1999 zum Druck gelangt. „Die Möglichkeit einer vor H liegenden dictirten Handschrift“ (Goethe: WA, Abt. I, Bd. 19, S. 332) ist nicht auszuschließen, doch auch nicht nachweisbar. Die Arbeiten am Manuskript verzögern sich. Der Brief vom 2. Mai 1783 an Johann Christian KestnerKestner, Johann Christian deutet darauf hin, dass Goethes Arbeit an den Manuskriptkorrekturen schon einige Zeit liegengeblieben ist:

      „Ich habe in ruhigen Stunden meinen Werther wieder vorgenommen, und denke, ohne die Hand an das zu legen was so viel Sensation gemacht hat, ihn noch einige Stufen höher zu schrauben. Dabey war unter andern meine Intention Alberten so zu stellen, daß ihn wohl der leidenschaftliche Jüngling, aber doch der Leser nicht verkennt. Dies wird den gewünschten und besten Effekt thun. Ich hoffe Ihr werdet zufrieden seyn“ (Goethe: WA, Abt. IV, Bd. 6, S. 157).

      Im Juni 1783 ist das Manuskript fertig, denn GoetheGoethe, Johann Wolfgang sendet es mit einem Begleitbrief am 24. Juni 1783 an Charlotte von SteinStein, Charlotte von: „Hier liebe Lotte endlich den Werther, und die Lotte die auf dich vorgespuckt hat. […] Wenn du in dem Teutschen Manuscript Fehler findest mercke sie doch an“ (Goethe: WA, Abt. IV, Bd. 6, S. 175). Davon scheint Charlotte von Stein keinen Gebrauch gemacht zu haben, eindeutige Korrekturen von ihrer Hand sind jedenfalls im Manuskript nicht zu erkennen. Und der Nachweis ihrer Korrekturhand auf der Ebene von Buchstaben oder Satzzeichen ist unmöglich.

      Doch auch jetzt bleibt das Manuskript wieder lange liegen. Erst am 15. August 1785 ist der nächste