Название | Buchstäblichkeit und symbolische Deutung |
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Автор произведения | Matthias Luserke-Jaqui |
Жанр | Документальная литература |
Серия | |
Издательство | Документальная литература |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783772002151 |
Der Werther hat bei der jungen Generation der Zeit durchaus Zuspruch erfahren, der Roman wurde auch als ein Befreiungsversuch von den Schreibkonventionen der AufklärungAufklärung rezipiert. Dem stand die barsche Ablehnung bei den Vertretern einer orthodoxen Aufklärung gegenüber. Auf Antrag der theologischen Fakultät der Universität Leipzig untersagte beispielsweise der Rat der Stadt den Verkauf des Romans. In ihrer Begründung schrieben die Theologen, der Selbstmord werde verteidigt und geradezu empfohlen. Die Selbstmordfälle würden sich häufen. Außerdem wurde der Roman als sittlich gefährdend aufgefasst, er könne „üble Impressiones“ machen, „welche, zumal bey schwachen Leuten, Weibs-Personen, bey Gelegenheit aufwachen, und ihnen verführerisch werden können“.35 Das Verbot, Werther-Tracht zu tragen, blieb in Leipzig bis 1825 in Kraft. In Dänemark wurde eine Übersetzung des Werthers sogar verboten, während in anderen europäischen Staaten der Roman unverzüglich übersetzt wurde. In Hamburg eiferte Hauptpastor GoezeGoeze, Johann Melchior gegen GoethesGoethe, Johann Wolfgang Roman. Seine Ablehnung fasste er in den Worten zusammen: „Alles dieses wird mit einer, die Jugend hinreissenden Sprache, ohne die geringste Warnung oder Misbilligung erzählt: vielmehr schimmert die Zufriedenheit und Achtung des Verfassers für seinen Helden allenthalben durch“36. Goeze belegt den WertherDie Leiden des jungen Werthers mit dem moralischen Bann einer rhetorischen Frage: „Welcher Jüngling kann eine solche verfluchungswürdige Schrift lesen, ohne ein Pestgeschwür davon in seiner Seele zurück zu behalten, welches gewiß zu seiner Zeit aufbrechen wird“37. Und weiter fragt er: „Und keine Censur hindert den Druck solcher Lockspeisen des Satans?“38 Auf der anderen Seite hat er klar erkannt, dass es im Roman um das Thema LeidenschaftenLeidenschaften geht: „Was ist die platonische Liebe zwischen zwo jungen Personen von beyden Geschlechten? eine leere Abstraction.“39
Diese Zitate machen deutlich, weshalb es unverzichtbar ist, den WertherDie Leiden des jungen Werthers in der unverstellten Textdarbietung der Erstfassung zu lesen, wenn man die zeitgenössische RezeptionRezeption mit all ihrer positiven und negativen Wucht verstehen will. Werden diese sprachlichen Besonderheiten im editorischen Übereifer geglättet, ist zugleich jener Stachel gezogen, wider den GoezeGoeze, Johann Melchior und viele andere löckten. Regelrecht harmlos nimmt sich dagegen dieses kritische Epigramm aus:
„‚Auf die Leiden des jungen Werthers.‘
Leid wär’ es mir, wenn jemand mehr als ich
Das Schöne dieser Schrift empfände;
Lieb wär’ es mir, wenn beßrer Inhalt sich
In ihr mit Geist und Witz verbände.“40
Im Jahr 1985 wurde zeitgleich mit der Herausgabe von zwei großen GoetheGoethe, Johann Wolfgang-Ausgaben begonnen, die alle Texte edieren sollten: die Münchner Ausgabe (MA) und die Frankfurter Ausgabe (FA). Anliegen von MA ist es, Goethes Werke innerhalb der Edition nicht nach Gattungen anzuordnen, wie es traditioneller Weise üblich ist, sondern chronologisch, eben nach Epochen von Goethes Schaffen. Bei der Textdarbietung des Werthers legt MA den Erstdruck von 1774 in der Textgestalt von Fischer-Lamberg zugrunde und weicht in fünf, allerdings marginalen Lesarten davon ab (vgl. Goethe: MA, Bd. 1.2). Die Darbietung der Zweitfassung von 1787 folgt der Textgestalt der AA in dem Irrtum, AA biete die Handschrift H (vgl. Goethe: MA, Bd. 2.2, S. 851). Innerhalb von FA erschien 1994 ein Paralleldruck von GoethesGoethe, Johann Wolfgang WertherDie Leiden des jungen Werthers (vgl. Goethe: FA, Abt. I, Bd. 8). Unter Beiziehung der Erstausgabe folgt die Textdarbietung der Edition von Fischer-Lamberg (vgl. Goethe: FA, Abt. I, Bd. 8, S. 959). Die zweite Fassung übernehme die Textdarbietung nach AA von 1954, die wiederum der Handschrift H folge, was aber ebenfalls ein Irrtum ist. Mit dem Paralleldruck der Studienausgabe von 1999 werden die beiden Fassungen von Goethes Werther aus den Jahren 1774 und 1787 in einem wortgetreuen Paralleldruck wiedergegeben. Über den prinzipiellen Vorzug von Paralleldrucken wurde das Nötige gesagt.41 In drei wesentlichen Punkten unterscheidet sich diese Ausgabe von den maßgeblichen Editionen der Akademie Ausgabe, der Frankfurter Ausgabe, der Hamburger Ausgabe, der Münchner Ausgabe und der Weimarer Ausgabe, oder auch Sophien-Ausgabe genannt. Erstens: Die Textdarbietung beider Fassungen ist nicht modernisiert. Zweitens: Die Emendationen und Konjekturen, die Fischer-Lamberg vorschlägt und denen die bisherigen Werther-Editionen nahezu ausnahmslos gefolgt sind, werden in dieser Ausgabe wieder rückgängig gemacht oder verworfen. Drittens: Die zweite Werther-Fassung von 1787 wird nicht nach einem Mischtext aus Druckfassung und Handschrift wiedergegeben (wie in AA und ihr folgend FA), sondern ausschließlich nach der Druckfassung von 1787.
Stattdessen ist im Fall des Werthers der Textus receptusTextus receptus zu priorisieren. Der Begriff Textus receptus ist der theologischen, wissenschaftlichen TextkritikTextkritik, genauer der Bibelkritik entnommen, ohne allerdings auf die ideologische Auseinandersetzung um diesen Begriff innerhalb der TheologieTheologie zu zielen, geht es dabei doch stets um die Frage der Gotteswahrheit des überlieferten Textes. Der überlieferte Text und der rezipierte Text hingegen müssen nicht identisch sein. Textus receptus meint eben dies: den rezipierten, den aufgenommenen, den wirkenden Text oder Textzeugen. Damit ist also schlicht jener Text gemeint, der rezipiert wurde, unabhängig vom Maßstab eines editorisch vermeintlich besten Textes. Denn in diesem Punkt übersieht die EditionsphilologieEditionsphilologie allzu leicht, dass auch Fehler oder korrupte Textstellen rezipiert werden und auch der scheinbar schlechte oder korrupte Text, der Textzeuge oder die Textstelle ungemeine Wirkung entfalten können. Die editionsphilologische, kritische Diskussion für die Darbietung des Textus receptus ist in den Philologien, in der Geschichte, in Mediävistik und Altphilologie, in Niederlandistik und Sinologie, in Romanistik und Hispanistik usw. Standard, in der Neueren deutschen LiteraturwissenschaftLiteraturwissenschaft hingegen keineswegs geläufig.