Buchstäblichkeit und symbolische Deutung. Matthias Luserke-Jaqui

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Название Buchstäblichkeit und symbolische Deutung
Автор произведения Matthias Luserke-Jaqui
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783772002151



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      Dem zu edierenden Text den Erstdruck zugrunde zu legen und das historische RezeptionsargumentRezeption geltend zu machen, dafür hat die GoetheGoethe, Johann Wolfgang-PhilologiePhilologie eine klare editorische Grundsatzentscheidung getroffen. Sie führt dabei einen Gesichtspunkt an, der für eine WertherDie Leiden des jungen Werthers-Ausgabe unverzichtbar ist. Die Entscheidung nämlich, nach dem Erstdruck eines Textes zu drucken, könne auch von der Empfehlung geleitet sein, dass von dem Text des Erstdrucks meist die nachhaltigste WirkungWirkung ausgehe: „er findet die stärkste Beachtung in den sich daran anschließenden Rezensionen und literarischen Auseinandersetzungen und besitzt unter dem Aspekt der Rezeption ein besonderes Gewicht“42.

      Ernst Grumach hatte in den fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts schon den „‚Katholizismus‘ der Sophien-Ausgabe“43 und die „Ahistorizität der Sophien-Ausgabe“44 beklagt, womit er die Entscheidung der Herausgeber der Weimarer Ausgabe charakterisierte, die zweite Ausgabe der Ausgabe letzter HandAusgabe letzter Hand (Goethe) (1827/1842) zur Textgrundlage zu wählen und diesen Text zu kanonisieren, wovon die Editoren der Weimarer Ausgabe nur bei mehrheitlicher Entscheidung der Redaktoren abweichen durften. Im Rückblick auf die veränderten editorischen Standards der Goethe-Philologie konnte man 1991 unmissverständlich nachlesen: „Die seinerzeit für die Konzeption der Goethe-Akademie Ausgabe maßgebliche Entscheidung, von dem Prinzip der Fassung letzter Hand abzugehen und ihren Texten die Erstdrucke oder gegebenenfalls deren Druckvorlagen zugrunde zu legen, war das Ergebnis einer eingehenden textgeschichtlichen und textkritischen Analyse dieser Ausgabe“45.

      Als 1774 GoethesGoethe, Johann Wolfgang erster Roman Die Leiden des jungen WerthersDie Leiden des jungen Werthers erschien, dachte niemand an die WirkungWirkung, die dieses Buch einmal haben würde. Nach einer mehr als zwei Jahrhunderte andauernden WirkungsWirkungsgeschichte- und RezeptionsgeschichteRezeptionsgeschichte kann man heute feststellen: Goethes Werther gehört zu den bedeutendsten Werken der Weltliteratur. Er hat Generationen von Lesern und Leserinnen nachhaltig beeinflusst. Wer also heute über die Wirkungslosigkeit von Literatur klagt, dem sei diese ungeheure europäische Wirkung des Werthers in Erinnerung gerufen. Kaum ein Buch hat bei seinem Erscheinen so viel Zustimmung und Ablehnung hervorgerufen wie dieses. Es war Anlass für euphorische Begeisterung über diese neue Art von Literatur ebenso wie Anlass für schärfste Zensurmaßnahmen, ja bei nicht wenigen auch Begleiter zum Freitod. Und eben auf diesen Wirkungsaspekt eines Textes kommt es an.46 Die Geschichtlichkeit der RezeptionRezeption ist um nichts weniger wichtig als die Geschichtlichkeit ihrer Texte.

      Der schon nach dem Abschluss der Weimarer Ausgabe zu hörenden Meinung, die editorische Arbeit am Goethe-Text sei nun geleistet und man brauche keine neuen kritischen Ausgaben mehr, widersprach Ernst Grumach bereits 1950 entschieden. Der Glaube an das Ende der Goethe-PhilologiePhilologie finde

      „seinen praktischen Ausdruck in der Gewohnheit, Goetheausgaben in Serienproduktionen herzustellen, indem man lediglich die höchst problematische Orthographie und Interpunktion der Sophien-Ausgabe durch ‚moderne Schreibung‘ ersetzt und sich von irgendeinem prominenten Literaturhistoriker ein ‚schönes Nachwort‘ schreiben lässt, ja wenn man einem vielbeachteten Ausspruch folgt, soll die Epoche der Goetheeditionen überhaupt abgeschlossen sein und die Forschung sich nunmehr, von der lästigen Sorge um Kommata befreit, nur noch der interpretatorischen und geistesgeschichtlichen Erfassung Goethes widmen können. […] Man gewinnt den Eindruck, daß die Zeit der Goethephilologie im guten und im schlechten Sinne des Wortes vorbei ist und daß sie mehr und mehr von einer Forschung verdrängt wird, deren Verdienste um die Deutung und historische Erschließung Goethes unbestritten bleiben sollen, die aber oft zu vergessen scheint, daß sie auf einem Text beruht und daß die Gültigkeit ihrer Ergebnisse durch die Güte dieses Textes bedingt ist. […] Ist die kritische Arbeit am Goethetext tatsächlich beendet?“47

      Dass mit der Bereinigung von Druckfehlern und der Modernisierung von Schreibweisen nicht automatisch ein Text generiert werden kann, der dem Wortlaut der Erstausgabe gerecht wird, liegt auf der Hand. Gerade Modernisierungen, Emendationen und Konjekturen enthalten potenziell einen editionsphilologischenEditionsphilologie Overkill. Um nur drei editorisch höchst problematische Beispiele anzuführen: Im Brief vom 8. Dezember spricht Werther von „Ehrenämtern“48. Dieses Wort wird bei Fischer-Lamberg in „Ährenfeldern“49 verbessert. Nahezu alle späteren Ausgaben folgen ihr in dieser Emendation. In den Ausgaben mit dem WertherDie Leiden des jungen Werthers-Paralleldruck der AA und der FA bleibt „Ehrenämtern“ nach der Zweitfassung stehen. In FA bezieht sich die Verbesserung also nur auf die Erstfassung, während die AA jeweils korrekt nach der Vorlage druckt, also beide Male „Ehrenämtern“. FA bietet zudem die Variante „Ährenäckern“, da für sie eine „gravierende Textverderbnis“50 ausgemacht ist, die vermutlich von einem Hörfehler beim Diktat stamme. Das zweite Beispiel dreht sich sogar nur um einen einzigen Buchstaben, um ein r. Im Werther heißt es an jener Stelle, wo die Figur Werther umfangreich aus der Ossian-Übersetzung zitiert: „Du warst schnell o Morar, wie ein Reh auf dem Hügel, schreklich wie die Nachtfeuer am Himmel, dein Grimm war ein Sturm. Dein Schwerdt in der Schlacht wie Wetterleuchten über der Haide. Deine Stimme glich dem Waldstrohme nach dem Regen, dem Donner auf fernen Hügeln. Manche fielen vor deinem Arm, die Flamme deines Grimms verzehrte sie.“51 Das „Manche fielen vor deinem Arm“ steht in der Erstfassung und in der Zweitfassung. Doch alle neueren wissenschaftlichen Werther-Ausgaben verbessern stillschweigend den Wortlaut der Erstfassung, nämlich „vor“ in „von“. Somit heißt die Textstelle nun: „Manche fielen von deinem Arm“. Fischer-Lamberg, MA und FA verbessern den Wortlaut der Erstfassung stillschweigend in „vor“. AA hält sich strikt an die Vorlage und druckt beide Male „vor“. FA folgt bei der Textwiedergabe der Erstfassung zwar der Verbesserung von Fischer-Lamberg, behält aber bei der Textwiedergabe der Zweitfassung den Wortlaut des Originals „vor“. Das editorische Problem wird damit unter der Hand zu einem interpretatorischen. ‚Von jemandes Arm fallen‘ bedeutet ‚durch jemandes Arm fallen‘, also von jemandem getötet werden. ‚Vor jemandes Arm fallen‘ kann hingegen ‚vor jemandem niederfallen‘ bedeuten und wäre demnach eine Unterwerfungsgeste. Im Übrigen hat GoetheGoethe, Johann Wolfgang selbst in der Handaschrift von 1786 an dieser Stelle nicht korrigierend in den Text eingegriffen. Hier hat die EditionsphilologieEditionsphilologie sorgfältig abzuwägen zwischen einer sinnentleerten Maschinerie der Selbstreproduktionen und einer kritiklosen Heiligsprechung des Textes, der dann als unangreifbar gilt, und demzufolge die konsequenteste Textwiedergabe schließlich das Faksimile wäre. Jener Christel von LaßbergLaßberg, Christel von, die sich am 16. Januar 1778 mit dem WertherDie Leiden des jungen Werthers in der Tasche in der Ilm ertränkte, wird es ziemlich gleichgültig gewesen sein, ob vor oder von die richtige Lesart ist.Ickstatt, Fanny vonBaumgartner, AntonNesselrode, F.G. von52

      Drittes Beispiel: Einmal erklärt Albert unter dem Briefdatum vom 12. August Werther, weshalb er seine Pistolen ungeladen lässt, nachdem sie beim Putzen versehentlich abgefeuert wurden: „[…] und schießt den Ladstok einem Mädgen zur Maus herein, an der rechten Hand, und zerschlägt ihr den Daumen“53. Diese „Maus“ wird in den Kommentaren zum Werther gemeinhin als der Daumenmuskel identifiziert. Nicht auszuschließen ist aber, dass Goethe an dieser Stelle auf eine ursprünglich wissenschaftliche, später volkstümliche Vorstellung von der menschlichen Nervenleitung anspielt. Der Franzose Charles Le BrunLe Brun, Charles (1619–1690) erklärte die Erregungsleitung von den Gliedmaßen zum sinnlichen Teil der Seele, also jenem Teil, der die sinnlichen Wahrnehmungen koordiniert, der zeitgenössischen Säftetheorie entsprechend folgendermaßen:

      „Die Bewegung aber geschiehet alleinig mittelst Veränderung der Mäußlein / welche nur an den eussersten Theilen der überzwerch hingehenden Nerven eine Bewegung haben: die Nerven hergegen thun alles vermittelst der Geister / so in denen Höhlen deß Gehirns sich aufhalten; das Gehirn aber bekomt die Geister aus dem Geblüt / so stetswehrend durch das Hertz hinlauffet / von welchem ersagtes Geblüt erhitzet / und dergestalten dünne gemacht wird / daß es ein gewises subtiles Wesen erzeuget / so es mit sich nach dem Hirn fortträgt / und dasselbe darmit anfüllet.“54

      Umgangssprachlich hat sich diese Vorstellung mit den entsprechenden regionalen Varianten bis heute erhalten. Stößt man sich den Ellbogen ungeschickt und trifft den Nervus ulnaris, so ist einem ‚das Mäuschen in den Arm gefahren‘.