Buchstäblichkeit und symbolische Deutung. Matthias Luserke-Jaqui

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Название Buchstäblichkeit und symbolische Deutung
Автор произведения Matthias Luserke-Jaqui
Жанр Документальная литература
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Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783772002151



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dieser Zeit gehabt. Ich freue mich nun noch zum Schlusse auf das Bildgen das Sie mir bringen“ (Goethe: WA, Abt. IV, Bd. 7, S. 76). Wiederum in einem Brief an Charlotte von Stein heißt es ein knappes Jahr später am 25. Juni 1786: „Ich korrigire am Werther und finde immer daß der Verfasser übel gethan hat sich nicht nach geendigter Schrifft zu erschiesen“ (Goethe: WA, Abt. IV, Bd. 7, S. 231). Erst am Ende dieses Monats offeriert Goethe das Manuskript als ersten Band seiner Sämtlichen SchriftenSämtliche Schriften (Goethe) den Verlegern Friedrich Justin BertuchBertuch, Friedrich Justin (1747–1822) und GöschenGöschen, Georg Joachim. In einem Briefentwurf oder einem Exzerpt gleichlautender Briefe an Bertuch und Göschen ist zu lesen:

      „Ihnen sind die Ursachen bekannt, welche mich endlich nöthigen eine Sammlung meiner sämmtlichen Schriften, sowohl der schon gedruckten, als auch der noch ungedruckten, herauszugeben.

      Von der einen Seite droht wieder eine neue Auflage, welche, wie die vorigen, ohne mein Wissen und Willen veranstaltet zu werden scheint, und jenen wohl an Druckfehlern, und andern Mängeln und Unschicklichkeiten ähnlich werden möchte; von der andern Seite fängt man an meine ungedruckten Schriften, wovon ich Freunden manchmal eine Copie mittheilte, stückweise ins Publikum zu bringen.

      Da ich nicht viel geben kann, habe ich immer gewünscht das Wenige gut zu geben, meine schon bekannten Werke des Beyfalls, den sie erhalten, würdiger zu machen, an diejenigen, welche geendigt im Manuscripte daliegen, bey mehrerer Freyheit und Muse den letzten Fleiß zu wenden, und in glücklicher Stimmung die unvollendeten zu vollenden. Allein dieß scheinen in meiner Lage fromme Wünsche zu bleiben; ein Jahr nach dem andern ist hingegangen, und selbst jetzt hat mich nur eine unangenehme Nothwendigkeit zu dem Entschluß bestimmen können, den ich dem Publiko bekannt gemacht wünschte.

      Sie erhalten in dieser Absicht eine Vertheilung meiner sämmtlichen Arbeiten in acht Bänden“ (Goethe: WA, Abt. IV, Bd. 7, S. 234f.).

      Der erste Band sollte die Zueignung an das deutsche PublikumZueignung an das deutsche Publikum sowie Die Leiden des jungen WerthersDie Leiden des jungen Werthers enthalten. Mit Blick auf dieses Projekt der Sämtlichen SchriftenSämtliche Schriften (Goethe) teilt GoetheGoethe, Johann Wolfgang bereits am 6. Juli 1786 Charlotte von SteinStein, Charlotte von mit:

      „Mit GöschenGöschen, Georg Joachim bin ich wegen meiner Schrifften einig, in Einem Punckte hab ich nachgegeben, übrigens hat er zu allem ja gesagt, er wird auf einer Reise nach Wien durch Karlsbad kommen.

      So mag denn das auch gehn. HerderHerder, Johann Gottfried hat den Werther recht sentirt und genau herausgefunden wo es mit der Composition nicht just ist. Wir hatten eine gute Scene, seine Frau wollte nichts auf das Buch kommen lassen und vertheidigte es aufs beste.

      Wieland geht die Sachen auch fleisig durch und so wird es mir sehr leicht, wenigstens die vier ersten Bände in Ordnung zu bringen, die vier letzten werden mehr Mühe machen“ (Goethe: WA, Abt. IV, Bd. 7, S. 237).

      Goethes Phase der Überarbeitung des Werthers rückt also in den Kontext der geplanten Ausgabe. Das bedeutet, dass er alle seine bis dahin erschienenen Schriften einer inhaltlichen Revision unterzieht. Dies erklärt auch, weshalb Goethe neben der zeitlichen Belastung durch seine Amtsgeschäfte die Überarbeitung des Werthers immer wieder unterbrechen und liegen lassen musste. Den Brief vom 20. August 1786 an Charlotte von Stein schließt er mit den Worten ab: „Mit Werthern geths [!] vorwärts“ (Goethe: WA, Abt. IV, Bd. 8, S. 5). Zwei Tage später am 22. August 1786, notiert er:

      „Nun muß ich auch meiner Liebsten schreiben, nachdem ich mein schweerstes Pensum geendigt habe. Die Erzählung am Schlusse Werthers ist verändert, gebe Gott daß sie gut gerathen sey, noch weis niemand nichts davon, Herder hat sie noch nicht gesehn. Kaum ist’s physisch möglich daß ich vor meinem Geburtstag fertig werde, doch hoff ich noch, geht es; so erleb ich diesen Tag nicht hier“ (Goethe: WA, Abt. IV, Bd. 8, S. 6).

      Über Herders Meinung zum veränderten Schluss kann er dann am 1. September 1786 an Frau von Stein berichten: „Herder hat sehr treulich geholfen, und über das Ende Werthers ist die Sache auch entschieden. Nachdem es Herder einige Tage mit sich herumgetragen hatte, ward dem Neuen der Vorzug eingeräumt. Ich wünsche daß dir die Verändrung gefallen und das Publicum mich nicht schelten möge“ (Goethe: WA, Abt. IV, Bd. 8, S. 11). Dem Verleger Göschen teilt er unter dem Datum vom 2. September 1786 mit, dass er seinen Sekretär SeidelSeidel, Philipp Friedrich mit den Manuskripten schicken werde. Weiter schreibt er:

      „Ich lege verschiedene Bemerckungen hier bey, die Bezug auf den Druck haben, machen Sie davon beliebigen Gebrauch, ein kluger Korrektor muß am Ende doch das beste thun.

      Käme ja ein Fall vor, über den man sich nicht zu entscheiden wüßte, so ersuch ich Sie deshalb, direckt bey dem Herrn Generalsuperintendent Herder in Weimar anzufragen. […] er wird entweder mit mir über die Sache reden, oder sie selbst entscheiden, welches ich zum voraus alles genehmige.

      Eben so bitt ich auch, die Proben des Drucks, und in der Folge die Aushängebogen an Hrn. Generalsuperintendent zu überschicken“ (Goethe: WA, Abt. IV, Bd. 8, S. 15).

      GoetheGoethe, Johann Wolfgang räumte damit HerderHerder, Johann Gottfried und in geringerem Umfang auch WielandWieland, Christoph Martin weitgehende Vollmachten in Fragen der Verbesserung des Manuskripts und des Drucks seines Romans ein.

      Der Textzeuge H ist mithin für die EditionsphilologieEditionsphilologie des WerthersDie Leiden des jungen Werthers unverzichtbar. Nachweislich bietet die Weimarer Ausgabe nicht alle Abweichungen der Handschrift von der Druckfassung 1787. Die Differenzen zwischen Handschrift und Druck der Zweitfassung sind aber stellenweise beträchtlich. Um nur einige wenige Beispiele der Unterschiede zwischen Druckfassung und Handschriftenfassung zu benennen: „Bauerhäusern“ statt „Bauerhöfen“ (AA, S. 12)25, „Lottchens“ statt „Lottens“ (AA, S. 23), „geben Sie nur mehr Aufträge“ statt „geben Sie mir nur mehr Aufträge“ (AA, S. 46), „am 16. Junius“ statt „am 16. July“ (AA, S. 90), „herauf schnellten“ statt „herauf schellten“ (AA, S. 147), „zu einem Gange nach Werthern“ statt „nach einem Gange nach Werthern“ (AA, S. 152), „im blauen Frack“ statt „im grauen Frack“ (AA, S. 157). Die Weimarer Ausgabe stellt demgegenüber klar, dass alle Änderungen der Handschrift und offenbaren Fehler rückgängig gemacht werden, die aus den unterschiedlichen Werther-Drucken bis 1787 stammen (vgl. Goethe: WA, Abt. I, Bd. 19, S. 351). Außerdem schränkt der Herausgeber selbst seinen editorischen Anspruch ein, und das ist philologischPhilologie gesehen mehr als nur eine Captatio benevolentiae: „Eiserne Consequenz in der Auswahl der mitgetheilten Lesarten ist nicht beabsichtigt, es musste dem Gefühle des aus der Überfülle schöpfenden Herausgebers überlassen bleiben, was ihm beachtenswerth zu sein schien“; er begründet dies mit der „die grösste Sorgfalt ermüdenden Masse von Varianten“ (Goethe: WA, Abt. I, Bd. 19, S. 352). Gelegentlich finden sich also auch im Anmerkungsapparat der Weimarer Ausgabe Lese- oder Druckfehler und stillschweigende Berichtigungen, die editionsphilologischEditionsphilologie problematisch bleiben.

      Im Kommentar zur Weimarer Ausgabe heißt es über H lapidar: „Diese für den Druck bereitete Handschrift wird im GoetheGoethe, Johann Wolfgang- und SchillerSchiller, Friedrich-Archiv aufbewahrt“ (Goethe: WA, Abt. I, Bd. 19, S. 329). Mit der Edition von 1999 werden eine weitere Stufe der Text- und Druckgenese des WerthersDie Leiden des jungen Werthers und ein wichtiges philologisches Instrument der Goethe-PhilologiePhilologie zugänglich gemacht.

      Mit Goethe gegen Goethe ließe sich in den Worten Werthers sagen, dass „ein Autor, durch eine zweite veränderte Auflage seiner Geschichte, und wenn sie noch so poetisch besser geworden wäre, notwendig seinem Buche schaden muß“26. Ob Schaden oder nicht – die entscheidenden Merkmale der Umarbeitung sind diese, erstens: Ist die Erstfassung Zeugnis des kraftgenialischen Stils der Sturm-und-Drang-LiteraturSturm und Drang27, so tilgt die Zweitfassung exakt dieses Merkmal. Sie versucht, die sprachlichen und stilistischen Eigentümlichkeiten und Freiheiten einzuebnen und einer konventionalisierten Sprachprosa anzugleichen. Zweitens: Zum Titel sei nur so viel bemerkt: Die oft zu lesende Form des Titels mit der schwachen Flexion des Namens: „[…] des jungen Werther“ statt „[…] des jungen Werthers“, taucht schon zeitgleich als Titelvariante zur Zweitfassung