Buchstäblichkeit und symbolische Deutung. Matthias Luserke-Jaqui

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Название Buchstäblichkeit und symbolische Deutung
Автор произведения Matthias Luserke-Jaqui
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783772002151



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zu milde sind sie ja, diese geistigen Fesseln. Je mehr du dich dagegen wehrst, desto enger umschließen sie dich‘.“25

      Die Doppelsinnigkeit von Befreiung und Unterwerfung ist auch für LenzLenz, Jakob Michael Reinhold konstitutiv. Er will sich zum einen mit PlautusPlautus, Titus Maccius, der Autorität der Komödienschreiber schlechthin oder wie LessingLessing, Gotthold Ephraim ihn nennt, den „Vater aller Comödienschreiber“26, messen, zum andern muss sich Lenz mit der Instanz aufgeklärter Literatur in Deutschland, Lessing selbst, auseinandersetzen. Und beide Autoritäten, Plautus wie Lessing, vertreten in Lenz’ Biografie die Vaterinstanz. Das wird deutlich, wenn man sich der inhaltlichen Interpretation der AlgiererDie Algierer über die Signifikanz des Titels nähert, der in eindrucksvoller Weise den Vater-Sohn-Konflikt der plautinischen Vorlage verdichtet und diesen als Grund für Lenz’ missglückte Frauenbeziehungen der 1770er-Jahre benennt: Algier wird zur Chiffre des Vatermordbegehrens.

      In dem Dramenfragment Zum Weinen oder Weil ihrs so haben wollt. Ein TrauerspielZum Weinen oder Weil ihrs so haben wollt, dessen Figuren die Initialen L., Gth., B. und G. tragen und damit Repräsentanten aus Lenzens Biografie, mithin Signifikanten des Metatextes darstellen, spricht Gth. (= GoetheGoethe, Johann Wolfgang) am Ende des Fragments zu L. (= Lenz): „Ich gab ihm [dem Dogen in Genua] einen Rat wegen der Händel mit Algier […]“27. L. liebt G., ist aber mit B. verheiratet, Gth. liebt B., ist aber G.s Mann. Die Situation des unerfüllten BegehrensBegehren ist bei Lenz bekanntlich kein literarisches Motiv, sondern eine lebensgeschichtliche Grundfiguration. Das bedeutet, dass diese Figuration den Vater-Sohn-Konflikt verdeckt, die Chiffre repräsentiert den ödipalen Konflikt, ohne dessen Bewältigung die Suche nach dem Anderen28 – als dem weiblichen Objekt des männlichen Begehrens – die permanente Wiederkehr des Vatermordbegehrens bedeutet. Das hebt noch einmal die Bedeutung der Algierer unabhängig von ihrer literarischen Qualität hervor. Es ist ein Stück des Übergangs, ein Dokument des Befreiungsbegehrens für den Autor und dennoch ein Text über die erzwungene Unterwerfung. Algier ist der Ort der Versklavung, wo Alonzos Sohn, Pietro, von den Seeräubern gefangen gehalten wird. Zugleich ist Algier aber auch der Ort der Befreiung vom dominanten Vater, der Ort, der den ‚neuen Vater‘ bereitstellt. In der Sklaverei ist Pietro befreit, im doppelten Wortsinn: Den unterschwelligen Wunsch nach Flucht vor dem Vater kann Pietro nicht alleine ausführen, er braucht die Mittäterschaft der Piraten dazu. Und schließlich ist Algier auch der Ort der Männerfreundschaft zwischen Pietro und Osmann, dem das Modell der brüderlichen Freundschaft zwischen Lenz und Goethe aus der Vorweimarzeit zugrunde liegt. In dieser Konstellation männlicher Herrschaftsverhältnisse haben Frauen keinen Platz, lediglich der Tod von Pietros Mutter wird von Mariane buchhalterisch vermerkt (vgl. I/1). Das Dramenfragment Zum WeinenZum Weinen oder Weil ihrs so haben wollt liest sich auf dieser Ebene des ödipalen Konflikts wie ein Subtext zu den AlgierernDie Algierer. Zum Zeitpunkt der Rückkehr aus der Sklaverei in die ‚Freiheit‘ „Italienische[r] Buchhaltung“ (I/1) ist Pietro mindestens 23 Jahre alt, ungefähr so alt wie der Autor: 13 Jahre zuvor auf der Überfahrt von Spanien nach Italien entführt (vgl. I/1), interessierte er sich bereits im Alter von zehn Jahren für die schönen Wissenschaften (vgl. II/1). Nun, da sich herausstellt, dass der Vater „eine Gans für andre gemästet“ (I/4) hat, wird der Sohn auf die Größe eines kaufmännischen Rechnungspostens reduziert.

      Doch es kommt zur doppelten Verwechslung. Pietro heißt bei den Seeräubern Haßan, in I/3 tauscht er mit Osmann die Kleider, so dass jetzt Osmann = Haßan = Pietro ist, bis der Sklave Ibrahim die Verwechslung aufdeckt (vgl. II/4 u. II/5). So wie die doppelte Verwechslung die wahre Identität Pietros verstellt, unterstreicht das Spiel mit Identitäten aber auch die Wunschfantasien des Sohnes: Der Wunsch nach einem anderen Vater, demgegenüber man die wahre Identität findet, wird in der letzten Szene des letzten Akts, die dem Schlusstableau in einem BürgerlichenBürgerliches Trauerspiel Trauerspiel gleicht, als klassische AnagnorisisAnagnorisis-Szene zum dramatischen Höhepunkt. Die Wiedererkennung von Vater und Sohn macht für den Augenblick die Wunschfantasie vergessen, Pietro wird sogar zum Anwalt des Vaters, „Vaterliebe“ und „väterliche Zärtlichkeit“ (III/5) sind jene Gefühle, die der Autor LenzLenz, Jakob Michael Reinhold bis zu seinem Tod sich gewünscht, aber nicht erfahren hat. Hier gilt, was Lenz in seiner VerteidigungVerteidigung von PlautusPlautus, Titus Maccius sagt: „[…] in seinem Herzen bildet sich der edle Schmerz, die schöne EmpfindsamkeitEmpfindsamkeit für alle mitleidige und zärtliche Szenen, ohne welche der Mensch nur immer zweibeinigtes Tier bleibt“29.

      LenzLenz, Jakob Michael Reinhold spitzt die von PlautusPlautus, Titus Maccius vorgegebene Konfliktkonfiguration weiter zu. Die Tripelidentität Pietros (Pietro – Haßan – Osmann) ist keine „mistaken identity“30 zur Täuschung des Feinds, sondern die einzig mögliche Lebensform für den verlorenen SohnLenz, Jakob Michael Reinhold31 – auch in der plautinischen Vorlage ist die Vater-Sohn-Beziehung die tragende dramatische Ebene. Für die Handlungsstruktur der AlgiererDie Algierer ist es unwesentlich, dass Lenz die Kommentare des Prologs und Epilogs der Vorlage nicht aufnimmt. Außerdem treibt Lenz das Motiv von Logos und List dort deutlicher hervor, wo über die Grenzen der Vernunft nur der listige Einfall hinweghelfen könnte. Pietro ist der Glossator aufgeklärter (väterlicher) Vernunft: „Die menschliche Vernunft hat ihre Gränzen“ (II/3). Sein „geübter Verstand“ (II/1) ersinnt keine Mittel zur Problemlösung mehr, die instrumentelle Vernunft versagt. Der Vater hatte noch in der Eingangsszene „ungeheure Summen“ (I/1), durchaus im Sinne eines neuzeitlichen privatwirtschaftlichen Warenverkehrs, als Lösegeld für den Sohn geboten. LenzLenz, Jakob Michael Reinhold exponiert deutlich die merkantile Haltung des aufgeklärtenAufklärung Kaufmanns, dessen Angebot der unaufgeklärte Seeräuber in Algier ausschlägt. Stattdessen muss der Vater zum Warentausch zurückkehren: Sohn gegen Sohn.

      Über einen Vorwurf der Kritik an den PlautusPlautus, Titus Maccius-Bearbeitungen konnte sich Lenz jetzt allerdings leicht hinwegsetzen, den Vorwurf der Unsittlichkeit der plautinischen Vorlage wie der Bearbeitung, der noch für LessingLessing, Gotthold Ephraim Anlass für eine dezidierte Verteidigungsschrift gewesen war. Die Anklage hatte 1750 gelautetTheater32: „Viele den guten Sitten schädliche und unanständige Dinge“33, „Unrat“34, „schadet […] den guten Sitten“35, „unanständig und unwahrscheinlich“36, von „seichten und nichtsbedeutenden Scherzen; […] unbedeutsame[n] und allzusaftige[n] Stellen, […] unkeuschen Stellen“37 war die Rede. In seiner Verteidigung argumentierte Lessing sehr geschickt, die Kritikpunkte würden sich nämlich gegen drei unterschiedliche Thematisierungsbereiche richten, gegen Kunst, Witz und Moral.38 Unbeirrbar hält LessingLessing, Gotthold Ephraim aber daran fest, dass die CaptiviCaptivi das schönste Theaterstück schlechthin seien, ein Urteil, das für die nachfolgende Dichtergeneration den Maßstab sehr hoch setzte. Lessing begründet dies definitorisch:

      „Ich nenne das schönste Lustspiel nicht dasjenige, welches am wahrscheinlichsten und regelmäßigsten ist, nicht das, welches die sinnreichsten Gedanken, die artigsten Einfälle, die angenehmsten Scherze, die künstlichsten Verwicklungen, und die natürlichsten Auflösungen hat: sondern das schönste Lustspiel nenne ich dasjenige, welches seiner Absicht am nächsten kömmt, zumal wenn es die angeführten Schönheiten größtenteils auch besitzt. Was ist aber die Absicht des Lustspiels? Die Sitten der Zuschauer zu bilden und zu bessern. Die Mittel die sie dazu anwendet, sind, daß sie das Laster verhaßt, und die Tugend liebenswürdig vorstellet.“39

      Dieser Bestimmung einer sozialpädagogischen Absicht des Lustspiels folgt LenzLenz, Jakob Michael Reinhold dann nicht mehr. In seiner Rezension des neuen Menoza von dem Verfasser selbst aufgesetzt,Rezension des neuen Menoza die am 11. Juli 1775 in den Frankfurter gelehrten AnzeigenFrankfurter gelehrte Anzeigen erschien, bringt er dies deutlich zum Ausdruck: „Ich nenne durchaus Komödie […] eine Vorstellung die für jedermann ist“, die Komödie ist ein „Gemälde der menschlichen Gesellschaft, und wenn die ernsthaft wird, kann das Gemälde nicht lachend werden. Daher schrieb PlautusPlautus, Titus Maccius komischer als Terenz […]“.40 Das ist die programmatische Absage an die traditionelle Laudatio-Vituperatio-PoetikPoetik, der 1750 auch noch Lessing verpflichtet gewesen war, wonach das Laster verabscheuungswürdig in der KomödieKomödie, und die TugendTugend lobenswert in der TragödieTragödie dargestellt werden sollten. Außerdem kommt bei Lenz der Impetus zur Auflösung des ständischen Publikums hinzu, der die sozialen Unterschiede des