Название | Buchstäblichkeit und symbolische Deutung |
---|---|
Автор произведения | Matthias Luserke-Jaqui |
Жанр | Документальная литература |
Серия | |
Издательство | Документальная литература |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783772002151 |
Bei der Frage nach einer früheren lateinischen Poetik-RezeptionRezeption bleibt man auf Vermutungen und Hypothesen angewiesen. Plausibilität kann die eine oder andere These oder Hypothese gewinnen, wenn man die fehlenden Spuren der Poetik-Überlieferung mit Hilfe der gesicherten Spuren der Rezeption des Corpus Aristotelicum zu erschließen versucht. Dieses Corpus wurde von Andronikos von RhodosAndronikos von Rhodos im ersten vorchristlichen Jahrhundert zusammengestellt.138 Die Ausgabe gliedert sich in vier Gruppen, wobei die Poetik der zweiten Gruppe mit den ethischen, politischen und rhetorischen Schriften zugeordnet wird. Die logischen Schriften (das Organon) machen die erste Gruppe aus. Diese Feststellung lässt diePoetik (Aristoteles)Poetik (Aristoteles) Vermutung fraglich erscheinen, die Geschichte der Textüberlieferung scheine sich „entsprechend den vier Gruppen […] in vier verschiedenen Überlieferungszweigen (mit Untergruppen) getrennt vollzogen zu haben“139. Ein Blick auf die spätalexandrinische Diskussion um die Zusammensetzung des Organons und vollends die syrisch-arabische Übernahme eines nahezu einheitlichen Organon-Kanons verdeutlichen, dass die Poetik bereits innerhalb des Corpus Aristotelicum einer wechselnden Zuordnung von der zweiten zur ersten Hauptgruppe unterworfen gewesen sein muss. Die Vermutung, dass die philosophisch-philologischen Debatten über die Zuordnung der Poetik im Gesamt der aristotelischenAristoteles Schriften unmittelbare Auswirkungen auf deren Überlieferung und RezeptionRezeption gehabt haben könnten, scheint plausibel. Als Textgrundlage für seine Ausgabe dienten AndronikosAndronikos von Rhodos vor allem aristotelische Handschriften in Rom, die der römische Konsul SullaSulla bei der Eroberung Athens 86 v. Chr. hatte rauben und mit nach Italien bringen lassen.140 Aber nur wenige Schriften wurden in der frühen Kaiserzeit ins Lateinische übersetzt.141 Darin mag auch ein Grund für die ausbleibende Poetik-Rezeption in der klassischen lateinischen Literatur zu sehen sein. Selbst die zweite bedeutende Quelle der abendländischen Poetikgeschichte – neben der aristotelischen Poetik –, die Ars poeticaArs poetica (14 v. Chr.) von HorazHoraz (65–8 v. Chr.), ist in Unkenntnis der Poetik geschrieben.142 Außerdem ist festzuhalten, dass „die Fähigkeit, griechisch zu verstehen, niemals sehr verbreitet war und um 400 fast ganz erlosch“143. Bis dahin standen nahezu ausschließlich die logischen Schriften, die PhysikPhysik und die MetaphysikMetaphysik des AristotelesAristoteles im Mittelpunkt des Interesses der Kommentatoren. „Alle übrigen Schriften wurden nur ausnahmsweise kommentiert: die Politik gar nicht, die psychologischen Schriften sehr sparsam, die Rhetorik nicht vor dem VI. Jahrhundert (in Syrien)“144. Nur der arabische Aristotelismus brachte selbstständige Kommentare zur Poetik hervor. Die Ursache dafür, dass kein griechischer oder lateinischer Poetik-Kommentar erhalten ist, kann also durchaus darin liegen, dass es einen solchen Kommentar nie gegeben hat.145 „In der römischen Kaiserzeit bis zum Ende des späten Altertums ist es […] ein sehr zusammengeschrumpfter Aristoteles, für den man sich interessiert“146. Die Poetik gehörte offensichtlich nicht zu diesem Schrumpfkorpus. BoëthiusBoëthius (†524 n. Chr.) ist der letzte lateinische AristotelesAristoteles-Kommentator und Aristoteles-Übersetzer, dessen Interesse noch dem Gesamtkorpus giltPoetik (Aristoteles)Poetik (Aristoteles). „Ich will sämtliche Schriften des Aristoteles ins Lateinische übersetzen und kommentieren, soweit sie mir zugänglich sind“147. Sein früher Tod ließ diesen Plan unausgeführt, lediglich ein kleiner Kanon von sieben Traktaten, die Übersetzungen und eigene logische Arbeiten und keine Spur von der Poetik enthalten, „war bis zur Mitte des XII. Jahrhunderts so ziemlich alles, was dem Abendlande von der Erbschaft des Aristoteles allgemein zugänglich war“148. Im 12. Jahrhundert setzte eine Wiederentdeckung des Aristoteles ein. Seine Schriften wurden zur begehrten Lektüre, Handschriften wurden zahllos kopiert. Heute sind für diese Zeit bis zum 14. Jahrhundert noch mindestens 2283 Handschriften, Texte, Übersetzungen und Kommentare in über 160 Bibliotheken nachweisbar, ein Zeichen „der außergewöhnlichen Vitalität des Werks des Stagiriten, der wohl wie kein anderer profaner griechischer Autor eine solch große Zahl von Handschriften […] aufzuweisen vermag“149. Neben dem Codex Parisinus 1741 (Handschrift A) ist noch der Repräsentant eines von diesem unabhängigen Überlieferungszweigs der Poetik, der Codex Riccardianus 46, erhalten. Das ist eine Handschrift aus der Florentiner Bibliotheca Riccardiana. Diese Handschrift stammt aus dem 14. Jahrhundert und wurde erst 1878 wiederentdeckt.Aristoteles150 Lobel beschreibt insgesamt 31 erhaltene PoetikPoetik (Aristoteles)Poetik (Aristoteles)-Handschriften, doch ist diese Liste, worauf er selbst hinweist, längst nicht vollständig. Eine annähernd exakte Zahl und präzise Beschreibung aufgrund von Handschriftenautopsien wird man von dem Werk Aristoteles GraecusAristoteles Graecus erwarten können.
Die nachweisbare griechisch-lateinische ÜberlieferungsgeschichteÜberlieferungsgeschichte der Poetik lässt sich also erst ab dem 10. Jahrhundert mit der aus Konstantinopel stammenden Handschrift A verfolgen. Dieser Überlieferungszweig ist von dem syrisch-arabischen völlig unabhängig. In den vier Jahrhunderten zwischen 1100 und 1500 kursiert eine Fülle von griechischen und mehr noch von lateinischen Abschriften, Übersetzungen und Kommentaren der Poetik. Ihre RezeptionRezeption beschränkt sich aber auf einen kleinen philosophisch-philologisch interessierten Kreis des Klerus. Erst als die Kirche ihren Widerstand gegen den Aristotelismus aufgibt – Albertus MagnusAlbertus Magnus (†1280) und dessen Schüler Thomas von AquinAquin, Thomas von (†1274) seien hier nur als die exponiertesten Vertreter dieses neuen Denkens genannt – und sich ein christlicher Aristotelismus herauszubilden beginnt, scheint eine über den Klerus hinausgehende Aristoteles-Rezeption einzusetzen. Zu denken ist vor allem an die Aristoteles-Rezeption in der bildenden Kunst, die von der Aristoteles-Legende (Aristoteles und die Hetäre oder Aristoteles und Phyllis) bis zum Philosophenstreit (AristotelesAristoteles versus PlatonPlaton) reicht. Von der Poetik gibt es allerdings auch hier keine Zeugnisse. Versucht man, die Geschichte der griechisch-lateinischen Handschriftenüberlieferung zu rekonstruieren, so stößt man bei der griechischen Filiation in der Forschung auf eine Hypothese, die über Jahrzehnte hinweg Anlass zu heftigem Streit gegeben hat, die sogenannte Apografathese.151 Am 4. November 1865 hatte der Aristoteles-Forscher Leonhard Spengel die These vorgetragen, dass die Handschrift A „für unsere Poetik die Quelle ist, aus der alle anderen stammen“152, alle anderen Handschriften der Poetik seien direkt oder indirekt „Apographa der Pariser A […], diese demnach allein als eigentliche Quelle Bedeutung hat, die übrigen, insofern sie