Buchstäblichkeit und symbolische Deutung. Matthias Luserke-Jaqui

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Название Buchstäblichkeit und symbolische Deutung
Автор произведения Matthias Luserke-Jaqui
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783772002151



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„Credo enim quod iste homo [Aristoteles] fuerit regula in natura et exemplar quod natura invenit ad demonstrandum [recte: demonstrandam] ultimam perfectionem humanam [Ü: Denn ich glaube, dass dieser Mensch eine RichtschnurPoetik (Aristoteles)Poetik (Aristoteles) in der Natur und ein Vorbild gewesen ist, das die Natur hervorbringt, um höchste menschliche Vollendung zu demonstrieren]“89. Die aristotelische Philosophie wird bezeichnet als „summa veritas, quoniam eius intellectus fuit finis humani intellectus [Ü: höchste Wahrheit, da ja sein Verstand die Grenze menschlichen Verstandes überhaupt gewesen ist]“90. Einen ähnlich hohen Stellenwert bekommt auch Averroes. Seine Kommentare zu aristotelischen Schriften, wozu der Poetik-Kommentar zählt, „held a dominant place from the thirteenth through the sixteenth centuries“91. Dieser Kommentar beansprucht nicht, eine Übersetzung des aristotelischen Textes zu bieten. AverroesAverroes, selbst des Griechischen unkundig, ordnet ihn vielmehr der zweiten von drei Hauptgruppen seiner zahlreichen anderen Aristoteles-Kommentare zu. Diese Gruppe der Media commentaria (mittlere Kommentare) gibt nicht den vollständigen aristotelischen Text arabisch wieder, sondern einzelne mit „dixit“ (AristotelesAristoteles sagte) eingeleitete Abschnitte, woran sich Erläuterung und Paraphrase anschließen.92 Dass sich hierbei unter strengem philologischem Gesichtspunkt schnell der Verdacht von Ungenauigkeiten und Verfälschungen einstellt, liegt auf der Hand. Ob allerdings Tkačs Urteil, es handle sich „um ein wahres Sammelsurium ungeheuerlicher Mißverständnisse und abenteuerlicher Phantasien“93 zutrifft, muss bezweifelt werden. Die lateinische Übersetzung von Hermannus AlemannusHermannus Alemannus (entstanden 1256, gedruckt 1481 und 1515) wird gelegentlich als Paraphrase der aristotelischen Poetik bezeichnet. Dabei ist aber zu beachten, dass es sich um die lateinische Übersetzung einer arabischen Paraphrase (Averroes) handelt, die als Grundlage die arabische Übersetzung (Abū BišrAbū Bišr) einer syrischen Übertragung der griechischen Vorlage hat. Hiervon muss die andere lateinische Übersetzung unterschieden werden: 1337 fertigte Todros TodrosiTodros Todrosi eine hebräische Übersetzung des Averroes-Kommentars an (gedruckt 1872), die von Jakob MantinusMantinus, Jakob († vor 1550) ins Lateinische übersetzt wurde und die in die große AristotelesAristoteles-Averroes-Ausgabe (1550ff.) eingegangen ist.94 Um der Poetik bzw. deren arabischer Übersetzung einen Sinn abzugewinnen, musste Averroes mangels einschlägiger griechischer Sprach- und Literaturkenntnisse fremdes Material in den Text interpolieren, Textverschiebungen vornehmen und einige Stellen ganz weglassen. Die griechischen Beispiele, mit welchen Aristoteles seine Ausführungen illustriert hatte, ersetzte AverroesAverroes durch Beispiele aus der arabischen Dichtung.95 Aber auch Averroes begreift die PoetikPoetik (Aristoteles)Poetik (Aristoteles) als Teil der aristotelischen Logik. Daneben tritt bei ihm die ethische Funktion der Dichtung, die bestimmt werden kann als Kunst von Lob und Tadel.96 Tkač gibt diese Stelle aus dem Kommentar folgendermaßen wieder: „Dixit [Aristoteles]. Omnis poesis et omnis oratio poetica est aut convicium aut laus [Ü: Aristoteles sagte: Die ganze DichtungDichtung und alle poetische Rede sind entweder Schimpf oder Lob]“97. Epik und TragödieTragödie werden der Lobdichtung, die KomödieKomödie, worunter Averroes die Satire versteht98, wird der Spottdichtung zugeordnet. Gute Dichter loben gute Menschen, um ihre Leser zur Tugend anzuhalten, durchschnittliche Dichter tadeln schlechte Menschen, im Sinne einer abschreckenden WirkungWirkung von Lastern. Dichtung bekommt dadurch eine ethisch-didaktische Funktion, die mit der Überzeugung, dass Dichtung ein Teil der Logik sei, nur schwer zu vermitteln ist. Hardison spricht in diesem Zusammenhang gar von Inkompatibilität.99 Beide Theoreme, die ethische wie die logische Funktionsbestimmung von Dichtung, stehen in Averroes’ Kommentar unvermittelt nebeneinander. Doch was auch immer über die strukturelle und philologische Schwäche dieses Kommentars festgestellt werden mag, für den Zusammenhang einer ÜberlieferungsgeschichteÜberlieferungsgeschichte der aristotelischenAristoteles PoetikPoetik (Aristoteles)Poetik (Aristoteles) ist letztlich nur die Tatsache einer „long european career“100 dieses Textes entscheidend. Denn von Averroes’ Kommentar aus lassen sich bis hinauf in die Poetik-Debatten des 17. und 18. Jahrhunderts Linien ziehen.

      Eine bislang viel zu wenig beachtete Vermittlungsfunktion zu Beginn dieses RezeptionsprozessesRezeption nimmt die lateinische, sogenannte Translatio HermanniTranslatio Hermanni des averroesschen Kommentars ein. Der lateinische Imitatio-Begriff als Äquivalent zum griechischen MimesisMimesis-Begriff kommt nach Einschätzung Hardisons in der Übersetzung von Hermannus AlemannusHermannus Alemannus „very infrequently“101 vor. Er ist meist ersetzt durch die Begriffe sermo imaginativus, assimilatio und representatio. Im ersten Kapitel schreibt Hermannus: „Et sermones poetici sermones sunt imaginativi. Modi autem imaginationis et assimilationis tres sunt: duo simplices et tertius compositus ex illis“102. Hardison übersetzt: „Poetic expression is figurative […]. There are three kinds of figuration and resemblance […], two simple and the third composed of the first two“103. Der ursprünglich handlungstheoretische MimesisMimesis-Begriff bei Aristoteles wird nun endgültig der Herrschaft der Vernunft unterworfen, bezeichnenderweise geschieht dies durch die Aufgabe des Imitatio-Begriffs. Endgültigkeit besitzt dieser Vorgang insofern, als er für die arabische Poetik-Überlieferung einen Abschluss, für die europäische aber den Beginn einer neuen Logofizierung der Poetik bedeutet. Diese Entwicklung findet bereits bei Fra Girolamo SavonarolaGirolamo Savonarola 1496 einen Höhepunkt: „Sine Logica neminem posse poetam appellari manifestum est [Ü: Das ist klar: Ohne Logikkenntnisse kann keiner zum Dichter ernannt werden]“104. So betrachtet erhält die Übersetzung des averroesschen Poetik-Kommentars durch Hermannus Alemannus einen neuen Stellenwert. Denn nicht AverroesAverroes und seine arabischen Schriften werden im Ganzen rezipiert, sondern der Averroismus in Gestalt lateinischer und umgangssprachlicher Übersetzungen (von diesen „intermediary vernecular translations“105 sind allerdings keine erhalten). Diese Einschätzung wird auch durch das Schicksal der 1278 von Wilhelm von MoerbekeMoerbeke, Wilhelm von angefertigten lateinischen Übersetzung einer griechischen Poetik-Handschrift bestätigt.106 Sie wurde erstmals 1953 gedruckt und blieb im MittelalterMittelalter ohne WirkungWirkung. Von ihr sind nur zwei, von der Translatio HermanniTranslatio Hermanni hingegen 23 Manuskripte in Spanien, Frankreich, Italien, England und Polen erhalten.107 Ob der Grund für die Wirkungslosigkeit dieser Übersetzung tatsächlich nur darin zu sehen ist, dass das Spätmittelalter für die RezeptionRezeption der Poetik nicht vorbereitet gewesen sei, ist plausibel.108 Überraschend bleibt, dass der Ursprung der europäischen Poetik-Rezeption nicht auf eine griechische Abschrift oder eine direkte Übersetzung der Poetik zurückgeht, sondern in einer lateinischen Übersetzung eines (sehr freien) arabischen Kommentars zur Poetik zu sehen ist. Immerhin ist die Translatio Hermanni zwei Jahrzehnte vor der Editio princeps graeca erstmals im Druck erschienen und wurde insgesamt sechsmal, zuletzt im Jahre 1600, aufgelegt.109

      Neben diesen äußeren Fakten sind es aber auch inhaltliche, überlieferungsrelevante Gesichtspunkte, die bislang nicht wahrgenommen wurden und die durchaus literaturwissenschaftliches Interesse verdienen. Erstens, die anfängliche Rezeptionsdominanz der Translatio Hermanni innerhalb theoriebildender DiskursensemblesDiskursensemble begünstigt und beschleunigt in der westeuropäischen Rezeption die Entwicklung von der ursprünglichen aristotelischenAristoteles eleos-phobos-Lehre und der TragödieTragödie-KomödieKomödie-Zweiteilung hin zu einer auf ein Lob-Tadel-Schema (aut vituperatio aut laudatio) zurückgesetzten PoetologiePoetologie. Die Ausbildung der sogenannten Ständeklausel liegt als Konsequenz auf dieser Linie, die gesellschaftlichPoetik (Aristoteles)Poetik (Aristoteles) dominierende Schicht bedarf des Selbst-Lobes. Die Poetikdebatte während des 17. und 18. Jahrhunderts sichert ihr die (hohe) TragödieTragödie, während die beherrschte Schicht des Tadels, der (niederen) KomödieKomödie bedarf. Die Tragödie ist „ars laudandi“ (Kunst des Lobens), die Komödie ist „ars vituperandi“ (Kunst des Tadelns), wie Hermannus AlemannusHermannus Alemannus übersetzt.110 Lob als das averroistischeAverroes Extrakt des ursprünglichen Tragödienbegriffs soll zur Tugendhaftigkeit anleiten, Tadel, der dem ursprünglichen Komödienbegriff zugeordnet ist, soll vor Untugend abschrecken. Damit sind dem poetologischen DiskursDiskurs kulturgeschichtlichkulturgeschichtlich relevante normstabilisierende und normbildende gesellschaftliche, moralische und didaktische FunktionenFunktion eingeschrieben. Zweitens, bemerkenswert ist ferner, dass die poetologische Debatte im Sinne der Poetik-Debatte bis zum Beginn des 16. Jahrhunderts nahezu selbstständig außerhalb poetischer Diskurse verläuft. Nicht die Dichter diskurrieren über Fragen der Poetik und über die Poetik, sondern die Übersetzer,