Название | Buchstäblichkeit und symbolische Deutung |
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Автор произведения | Matthias Luserke-Jaqui |
Жанр | Документальная литература |
Серия | |
Издательство | Документальная литература |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783772002151 |
Noch eine weitere Schrift al-Fārābīs widmet sich der aristotelischen Poetik, das ist ein der Gruppe der kleinen Kommentare zugehöriger Text, der ebenfalls als Vertreter der Proömienliteratur zu betrachten ist.71 Diese Schrift bedeutet gegenüber der Risāla einen Fortschritt insofern, als hier auf engem Raum eine kohärente Theorie der Dichtung entworfen wird. Der Bezugspunkt dieser Theorie bleibt nach wie vor die aristotelischeAristoteles Poetik. Erst mit ḤāzimḤāzim (†1285 n. Chr.) wird sich eine eigenständige arabische LiteraturtheorieLiteraturtheorie entwickeln, die versucht, die systematischen Vorgaben griechischer Provenienz mit autochthoner arabischer Literatur zu vermitteln und dadurch zu erweitern.72 Der zentrale Begriff von al-Fārābīs Theorie ist die NachahmungNachahmung (muḥākāt), die das wichtigste konstitutive Element von Dichtung bezeichnet und deren Zweck die „Vorstellungsevokation“73 (taḫyīl) ist. Die Nachahmung entsteht entweder aus einer Tat, beispielsweise im Schaffen von Plastiken oder auf dem Theater, oder in einer Aussage. Da die Vorstellungsevokation den Gegenstand selbst betrifft oder einen anderen, durch den erst die Evokation eines Gegenstandes erfolgt, gibt es folglich zwei Aussagetypen der Nachahmung. Einmal diejenige Aussage, die den Gegenstand selbst in der Vorstellung evoziert, zum zweiten diejenige Aussage, die die Existenz eines Gegenstandes in einem anderen in der Vorstellung evoziert. Unter Auswertung weiterer Textstellen kommt Heinrichs zu dem Ergebnis, dass al-FārābīAl-Fārābī konsequent zwei Nachahmungsarten unterscheidet. Zum einen ist dies Nachahmung ähnlicher Gegenstände innerhalb der oder durch die Sprache, Referenzialität der Gegenstände untereinander, die sprachlich nachgeahmt werden (verbale Nachahmung), und zum anderen die Nachahmung nichtsprachlicher, wirklicher Sachverhalte, worin auch die Funktion der sprachlichen Aussage nach al-Fārābī liegt (nonverbale Nachahmung).74 Diese Differenzierung in der Begriffsbildung setzt sich auch bei dem zweiten zentralen Begriff dieser Dichtungstheorie fort, derPoetik (Aristoteles)Poetik (Aristoteles) Vorstellungsevokation. Bemerkenswert ist, dass sich al-Fārābī von der systematischen Zwängen gehorchenden Gleichsetzung von Poesie mit Falschheit, niedrigstem Erkenntniswert und der Äquivokation von Fantasie und Falschheit, wie sie noch seine arabischen, syrischen und griechischen Vorgänger im Rahmen der systematischen Organonlehren entwickelt hatten, entfernt. Al-Fārābī gibt die These von der Falschheit poetischer Schlussformen auf und setzt an ihre Stelle den Begriff der Vorstellungsevokation. Offensichtlich scheint schon kurz nach seinem Tod dieser Begriff und erstaunlicherweise nicht der MimesisMimesis-Begriff bzw. dessen arabisches Korrelat als der allgemein anerkannte Schlüsselbegriff der Poetik verstanden worden zu sein.75
Im Prozess der arabischen Poetik-Rezeption nimmt AvicennaAvicenna (Ibn Sina) (d.i. Ibn Sina, †1037 n. Chr.) eine wichtige Stellung ein, denn von ihm stammt der erste Kommentar zur Poetik, der auch heute noch erhalten ist.76 Ob Avicenna die Poetik-Übersetzung von Abū Bišr als Textgrundlage diente oder die neukollationierte und revidierte Übersetzung von dessen Schüler Yaḥyā b. ʿAdīYaḥyā b. ʿAdī, ist umstritten.77 In der Einleitung zu seinem Kommentar liefert Avicenna gleich im ersten Satz eine Definition von Dichtung, die sowohl als Vorgabe für seine Interpretation der Poetik als auch als Ergebnis seiner Interpretation verstanden werden kann. „We first say that poetry is imaginative speech, composed of utterances that are measured, commensurate – and, in Arabic, rhymed“78. Das englische imaginative speech entspricht Heinrichs’ Begriff der Vorstellungsevokation und ist nach den Darlegungen Dahiyats ein Zentralbegriff in Avicennas Kommentar. Zwei Bedeutungen umfasst dieser Begriff. Die erste betrifft „the mimetic or image-making nature of poetry“79, die sich gerade in der Fähigkeit zur Vorstellungsevokation von logisch-diskursiver Rede unterscheide. Avicenna knüpft also an die traditionelle Logikdiskussion poetischer Rede an, jedoch – und darin liegt ein wesentlicher Unterschied zu seinen Vorgängern – ohne sie als unwahr oder falsch zu klassifizieren. Die zweite Bedeutung betrifft die Wirkung der DichtungDichtung, „which is primarily emotive and pleasurable rather than apodictic and ratiocinative“80. Die Gefühlsbeteiligung in poetischer Rede erfährt also eindeutig eine Aufwertung. Ob es sich bei dieser Bedeutung von Vorstellungsevokation um eine Art von platonischerPlaton Bilderzeugung81 handelt, muss offen bleiben. Die zugrunde liegende Überlegung AvicennasAvicenna (Ibn Sina) jedenfalls ist die, dass ein Gegenstand, über den eine Aussage gemacht wird, durch die Aussage selbst sich erst in der Vorstellung konstituiert. Die affektive WirkungWirkung, die von der DichtungDichtung ausgeht, ist von der Wahrheit oder Falschheit des Ausgesagten aber vollkommen unabhängig. Der Wahrheitswert einer Aussage hat keinen Einfluss auf ihre Wirkung. Avicenna erkannte, dass die Vorstellungsevokation für die Rezipienten von Dichtung attraktiver und suggestiver ist, als ein poetischer Wahrheitsbeweis es sein kann.82 Die Begründung für diese entscheidende Erweiterung des poetologischen Diskurses über die PoetikPoetik (Aristoteles)Poetik (Aristoteles) liegt darin, dass der Nachahmung als Merkmal von Dichtung ein Element der Überraschung innewohnt, das bei der Wahrheit nicht nachzuweisen ist, „weil die wohlbekannte Wahrheit sozusagen abgetan und erledigt ist, während die unbekannte Wahrheit keine Aufmerksamkeit findet“83. In Avicennas Kommentar drückt sich keine Missbilligung poetischer Rede aus, vielmehr die mehr oder weniger deutliche Aufwertung von Dichtung. Zwar bleibt auch für ihn das Primat der griechischen Dichtung über die arabische unangetastet, doch zeichnet sich auf der Ebene poetologischer Reflexion im Ausgang von der Poetik eine Abkehr von den durch die Tradition kanonisierten Bedeutungsmustern ab. Auch dieser Emanzipationsprozess ist ein historischer Prozess und verläuft als solcher sukzessive, doch ist mit Avicennas Kommentar ein Weg eingeschlagen, der schließlich in eine Zweiteilung der Theoriebildung mündet: In AverroesAverroes findet die arabische Poetik-Rezeption den Anschluss an die griechisch-lateinische ÜberlieferungstraditionÜberlieferungstradition, in ḤāzimḤāzim, der wesentliche Anregungen aus den philosophischen Poetik-Schriften erhält, erfährt die arabische LiteraturtheorieLiteraturtheorie ihre Systematisierung.84 Der Schluss von Avicennas Poetik-Kommentar weist bereits in diese Richtung: „It is likely that we will try to introduce, in poetic discipline in general, as well as in poetic discipline according to contemporary practice, some discussion that is realized and detailed“Ḥāzim85. Schmitt untersucht in seiner Poetik-Edition zwar vor allem den systematischen, intrinsischen wie extrinsischen philosophiegeschichtlichen Ort dieser Schrift, sein Resümee gilt aber unabhängig davon: „einen wirklichen Eingang in die Poetik-Forschung haben die arabischen Kommentare aber immer noch nicht gefunden“86, denn „eine detailgenaue Auswertung der arabischen Poetik-Deutungen ist […] nicht möglich; es gibt zu viele Übersetzungsprobleme“87.
Mit AverroesAverroes (†1198) und seinem Poetik-Kommentar beginnt der „mittelalterliche Kultus des Aristoteles“88. Dies unterstreicht ein Beleg aus der lateinischen AristotelesAristoteles-AverroesAverroes-Ausgabe (Venedig 1550–1552), der die ungebrochene Dominanz und Autorität dokumentiert, die Aristoteles – und das