Название | Buchstäblichkeit und symbolische Deutung |
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Автор произведения | Matthias Luserke-Jaqui |
Жанр | Документальная литература |
Серия | |
Издательство | Документальная литература |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783772002151 |
In der Forschung wird die Zeit vom Beginn des BuchdrucksBuchdruck in den fünfziger Jahren des 16. Jahrhunderts bis zum Erscheinen des Buchs von der Deutschen PoetereyBuch von der Deutschen Poeterey des Martin OpitzOpitz, Martin 1624 als eine zusammenhängende Epoche verstanden und als Frühe NeuzeitFrühe Neuzeit bezeichnet. Anfänglich ist der Einfluss der italienischen Renaissance vorherrschend, vor allem vermittelt durch Enea Silvio PiccolominiPiccolomini, Enea Silvio, der später als Papst Pius II. bekannt wurde und der Verfasser einer der schönsten Liebesromane der Frühen Neuzeit ist: Euryalus und LucretiaEuryalus und Lucretia, vor dem Buchdruck 1444 entstanden und nach der Erfindung des Buchdrucks weit verbreitet und oft aufgelegt. Selbst heute noch bietet der Reclam-Verlag eine Ausgabe an. Piccolomini ist auch derjenige, der erstmals Europa als Sammelbegriff vieler Völker, die alle an derselben KulturKultur teilhaben, geprägt hat. Das war nach der Eroberung Konstantinopels durch die Türken 1453. Aus dem Französischen werden die ersten Prosaromane übersetzt, aus dem Lateinischen und dem Italienischen liegen ebenfalls erste Übersetzungen vor, und Albrecht von EybEyb, Albrecht von veröffentlicht seinen vielbeachteten Ratgeber Ob einem manne sey zunemen ein eelichs weyb oder nichtOb einem manne sey zunemen ein eelichs weyb oder nicht (1472). Man kann dies als den Beginn eines europäischen Kulturtransfers bezeichnen. Der neulateinisch schreibende Dichter Conrad CeltisCeltis, Conrad macht diese Denkfigur einer ‚translatio artium‘ 1486 in einem Gedicht populär.10 Das euphorisiert den Humanisten Willibald PirckheimerPirckheimer, Willibald derart, dass er ausruft: „O Jahrhundert, o Wissenschaft! Es ist eine Lust zu leben, wenn auch nicht in der Stille. Die Studien blühen, die Geister regen sich […] Barbarei, nimm einen Strick und mach dich auf Verbannung gefaßt“11, so schreibt er in einem Brief vom 25. Oktober 1518 an Ulrich von HuttenHutten, Ulrich von. Wenn wir heute von europäischer Literatur sprechen, dann nennen wir meist die bekannten Namen BoccaccioBoccaccio, Giovanni, ShakespeareShakespeare, William, IbsenIbsen, Henrik, TolstoiTolstoi, Lew, DiderotDiderot, Denis, VoltaireVoltaire, PetrarcaPetrarca, Francesco, DanteDante, Alighieri und viele andere. Was aber ist mit SophoklesSophokles und AischylosAischylos, was mit TertullianTertullian und ScaligerScaliger, Julius Caesar?
Ich habe eine Perspektive gewählt, die von folgender Annahme ausgeht: Seit Beginn der SchriftkulturSchriftkultur beschäftigt uns in Europa die Frage ‚Was ist der Mensch?‘ In der LiteraturLiteratur werden Antworten formuliert, Betrachtungen angestellt, Denkfiguren entwickelt, die bis in unsere Tage hinein wirken bzw. wirken können, wenn wir uns dafür empfänglich zeigen wollen. Es geht in der LiteraturLiteratur um die Selbstfindung des Menschen, um die Frage, wie verhalte ich mich als Mensch zu den Ansprüchen kulturellerkulturell, gesellschaftlicher, politischer, religiöser, familiärer, partnerschaftlicher usw. Regularien. Und das rührt zugleich immer an die Basisfrage, was ist in diesem Prozess der Selbstfindung des Menschen die Aufgabe der Literatur? Was kann Literatur? In der Komödie Die FröscheDie Frösche (um 405 v. Chr.) des griechischen Komödiendichters AristophanesAristophanes wird der ehrenwerte und große Tragödiendichter EuripidesEuripides vom nicht weniger großen Tragiker AischylosAischylos gefragt, weshalb man Dichter denn bewundern müsse. Heute würde man sich die Frage stellen können, woher das hohe soziale Ansehen von Dichtern komme? Der so gefragte Euripides antwortet, weil DichtungDichtung die Menschen in den Städten besser mache.12 Literatur bessert demnach den Menschen. Sofort stellen sich bei uns Zweifel ein, wir haben die Bilder vor Augen von brennenden Bibliotheken im syrischen Bürgerkrieg, im ehemaligen Jugoslawien, von verwüsteten Schulen in Afghanistan und schäumenden Studenten in Ägypten. Aber nur weil es sit venia verbo das Böse gibt, heißt das nicht, das Gute zu suchen sei überflüssig. Was aber ganz unzweifelhaft ist an der Antwort des Euripides: Literatur muss etwas mit der Modellierbarkeit des Menschen zu tun haben, sie muss eine Einflussmöglichkeit auf den Menschen haben. Natürlich haben wir heute auch eine Literaturindustrie, deren Selbstverständnis sich über ihren Unterhaltungswert und deren kulturelle Bedeutung sich über Verkaufs- und Einschaltquoten definiert. Das ändert aber nichts an der Seriosität der Frage: Was ist der Mensch und welche Rolle spielt die Literatur? Und einer, der schon sehr früh in der Kulturwerdung Europas erkannt hat, welche bedeutende Rolle der Literatur zukommt sowohl bei der individuellen psychosozialen Entwicklung des Einzelnen als auch bei der sozialpsychologischen Stabilisierung der allgemeinen Wohlfahrt, einer, der die wechselseitigen Abhängigkeiten von Individuum und Gesellschaft erkannt hat, ist ein Philosoph, der wie kein anderer die europäische Literatur geprägt hat. Ich spreche von AristotelesAristoteles, dem 322 v. Chr. gestorbenen griechischen Philosophen, und ich spreche von der einzigen nicht-philosophischen Schrift, die von ihm erhalten ist, seiner Poetik.
PoetikPoetik (Aristoteles)Poetik (Aristoteles) heißt: Die Lehre von der Dichtkunst. Die Redaktion seiner Schriften erfolgte im ersten Jahrhundert v. Chr. Seine Philosophenschule in Athen wurde 529 n. Chr. durch die Römer geschlossen. Daneben gab es eine Schule in Alexandria, an die dort 280 v. Chr. gegründete große Bibliothek wurde ein Teil der originalen AristotelesAristoteles-Handschriften verkauft. Im Jahr 610 n. Chr. ging diese Schule nach Konstantinopel. Und im Jahr 1045 wurde hier eigens eine Akademie gegründet. Wo in diesen langen Zeiträumen und persönlichen Verwerfungen die Handschrift der Poetik hingekommen ist, weiß man nicht mehr. Und obwohl Byzanz mehrmals von europäischen Kreuzfahrern erobert und geplündert wird, ist ein griechisches Manuskript der Poetik noch im Jahr 1457 in der Bibliothek nachweisbar. Von da aus gelangt es nach Florenz, und schließlich in Abschrift nach Paris. Neben dieser ÜberlieferungsgeschichteÜberlieferungsgeschichte gibt es aber eine eigenständige syrisch-arabische Traditionslinie, und die ist deshalb wichtig, weil es ohne sie unseren heutigen Reclam-Text der aristotelischen Poetik nicht gäbe. Im 12. Jahrhundert wird Aristoteles wiederentdeckt, es beginnt eine rege Kopier- und Kommentatorentätigkeit. Allein heute sind für diese Zeit des 12. bis 14. Jahrhunderts in ganz Europa noch 2283 Handschriften in über 160 Bibliotheken nachweisbar. 1256 wird die Niederschrift der sogenannten Translatio HermanniTranslatio Hermanni abgeschlossen. Dieses Manuskript erscheint 1481 in Druck. Die entscheidende Edition des griechischen Textes (die Editio princeps graeca) wird schließlich 1508 bei Aldus ManutiusManutius, Aldus in Venedig veröffentlicht. Es erscheinen danach nationalsprachliche Übersetzungen, die zur rasanten Verbreitung des Textes beitragen, die erste deutsche Übersetzung wird erst 1753 veröffentlicht. Man sieht also, das Wissen um einen der wichtigsten Texte der abendländischen KulturKultur und LiteraturLiteratur ist ohne diese europäisch-vorderasiatische Vernetzung nicht denkbar. Unsere KulturgeschichteKulturgeschichte hat ihre Wurzeln in dieser europäischen Tradition.
Ich hatte behauptet, die Literatur stelle vom Anbeginn an die Frage, was ist der Mensch? Und sie gibt sofort eine Antwort darauf. Der Mensch ist ein Wesen, das aus AffektenAffekte besteht. Aristoteles verknüpft diese Erkenntnis mit der Zusatzfrage, was kann die Literatur leisten bei der Suche nach der Antwort auf die Frage, was ist der Mensch? Aristoteles schafft also eine Verbindung zwischen anthropologischem Denken und poetologischer Praxis. Das ist genial, und damit befassen wir uns noch heute! Was ich hier als orangenes Taschenbuch in die Höhe halten kann, hat eine nahezu