Buchstäblichkeit und symbolische Deutung. Matthias Luserke-Jaqui

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Название Buchstäblichkeit und symbolische Deutung
Автор произведения Matthias Luserke-Jaqui
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783772002151



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zehn italienische Poetik-Ausgaben erschienen, von denen 14 Kommentare mit oder ohne den Poetik-Text sind. Bis 1700 waren es zwölf griechische, 23 lateinische und zwei italienische Poetik-Ausgaben, von denen neun Kommentare mit oder ohne den Poetik-Text sind. Und bis 1800 wurden weitere Poetik-Ausgaben veröffentlicht, 16 griechische, acht lateinische und eine einzige italienische, von denen 16 Kommentare mit oder ohne den Poetik-Text sind. Die Gesamtzahl griechischer, lateinischer und griechisch-lateinischer Textausgaben mit und ohne Kommentar von 1481 bis 1800 beträgt 134, der erste Kommentar zur PoetikPoetik (Aristoteles)Poetik (Aristoteles) stammt von Robortelli aus dem Jahr 1548. Bis zum Jahr 1800 erschienen weitere nationalsprachliche Übersetzungen: Die erste spanische Übersetzung folgte 1623, die erste französische 1654174, die erste englische Übersetzung 1705, die erste deutsche Übersetzung 1753, die erste portugiesische Übersetzung 1779, die erste niederländische Übersetzung 1780 und die erste dänische Übersetzung 1785. Im 19. und 20. Jahrhundert folgten Übersetzungen und Kommentare in weitere europäische und außereuropäische Sprachen. Dem interessierten deutschsprachigen, nichtgelehrten Lesepublikum, das also die Poetik nicht in einer griechisch-, lateinisch-, italienisch-, spanisch-, französisch- oder englischsprachigen Ausgabe lesen konnte, war es erst mit der von Michael Conrad CurtiusCurtius, Michael Conrad 1753 besorgten deutschen Übersetzung175 möglich, die Poetik kennenzulernen.Aristoteles176 Zwar stammt eine Teilübersetzung des St. Annaberger Schulrektors Adam Daniel RichterRichter, Adam Daniel aus dem Jahr 1751, sie wurde aber an entlegener Stelle in einer Schuleinladungsschrift publiziert,177 was die ausgebliebene Wirkung erklärt, und Richter hat lediglich die ersten fünf Kapitel der Poetik wiedergegeben. Das für die Tragödiendiskussion im 18. Jahrhundert besonders wichtige sechste Kapitel der Poetik mit einer Übersetzung der Textstelle 1449 b 27f. fehlt. Richter begründet dies so:

      „Diese fünf ersten Capitel aus des Aristotels Dichtkunst, weil auch die kleine Zahl dieser Blätter nicht mehrere fasset, habe dismal, als eine Probe, ins Deutsche übersetzet liefern, und, weil ich glaube, daß die Übersetzung dieses Buches nicht eben unter die leichtesten gehöret, gelehrte Kenner der critischen Dichtkunst und griechischen Sprache, mit aller Ergebenheit, zugleich ersuchen wollen, diese meine angefangene Übersetzung zu beurtheilen, mir die Fehler zu zeigen, und mich, wie es zu verbessern, gütigst zu belehren. […] Ihro Magnificenz der Herr Professor Gottsched, als der vortreflichste Kenner dieser Gelehrsamkeit, ist derjenige, den ich diese meine angefangene Übersetzung […] der aristotelischen Dichtkunst zu beurtheilen, und mich, wo ich gefehlet, zu belehren, mit vieler Ergebenheit mir erwählen wollte. Denn nachdem es mir gelungen, werde ich in solcher Übersetzung fortfahren, oder aufhören.“178

      Eine Untersuchung zur PoetikPoetik (Aristoteles)Poetik (Aristoteles)-Rezeption in Deutschland, wie sie vergleichbar etwa Marvin Theodore Herrick für die Poetik-Rezeption in England bereits 1930 vorgelegt hat179, ist Desiderat. Denn zum Kreis der Rezipierenden in Deutschland sind ab dem 18. Jahrhundert in erster Linie alle an LiteraturLiteratur Interessierten zu rechnen, Schriftsteller, Kritiker und Philologen gleichermaßen. LessingsLessing, Gotthold Ephraim Verteidigung der aristotelischenAristoteles Poetik in der Hamburgischen DramaturgieHamburgische Dramaturgie (1767/69) gab den entscheidenden Impuls, um die Literaten der 1770er- und 1780er-Jahre für die Poetik zu interessieren. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts erschienen noch drei weitere Übersetzungen oder Teilübersetzungen der Poetik, 1797 die Kompilation aus Zitaten, Übersetzungen und Kommentaren der Poetik und der horazischenHoraz Ars poeticaArs poetica von J. Christoph RegelsbergerRegelsberger, J. Christoph180, 1798 die Übersetzung von Johann Gottlieb BuhleBuhle, Johann Gottlieb181, der sich zugleich auch als Editor und Kommentator einen Namen machte, und 1799 der Auszug einer Übersetzung von Johann Jakob Meno ValettValett, Johann Jakob Meno182, der die gesamte Übersetzung 1803 veröffentlichte183. Mit Beginn des 19. Jahrhunderts brach nach HermannsHermann, Godofred Poetik-Ausgabe184 von 1802 ein wahrer altphilologischer Boom an Editionen, Übersetzungen und Interpretationen aus. Die Poetik des AristotelesAristoteles hatte sich endgültig als ein kulturgeschichtlicherkulturgeschichtlich PermatextPermatext etabliert.

      Europa literarisch

      Betrachtet man die literarische Aufklärungsdiskussion im Europa des 18. Jahrhunderts, so fallen neben den enthusiastischen Beiträgen auch die kritischen Stimmen auf. Skepsis gegenüber der AufklärungAufklärung und ihrem Potenzial an Vervollkommnungsstrategien (zeitgenössisch wird das auch der Gedanke zur Perfektibilität genannt) liest man etwa bei dem Dichter Wilhelm HeinseHeinse, Wilhelm (1749–1803): „Je aufgeklärter der Mensch wird, desto unglücklicher wird er“1, schreibt er. Der Philosoph und Mediziner Ernst PlatnerPlatner, Ernst (1744–1818) wünscht sich am Ende der Aufklärung (postum 1836 veröffentlicht) ein zivilisatorischeszivilisatorisch Unding, einen Selbstwiderspruch, nämlich den aufgeklärt-unzivilisierten Menschen: „Aufklärung ist nämlich eine Umschaffung des Menschengeschlechtes in solche Menschen, wie sie im Stande derPoetik (Aristoteles)Poetik (Aristoteles) Unschuld gewesen, eine solche Umwandelung der Erdbewohner, daß sie den Wesen in der idyllischen Welt ganz gleich werden“2. Aufklärung aber, und das wissen die beteiligten Diskutanten der Zeit, ist nur zum Preis der Zivilisierung und der DisziplinierungDisziplinierung des Menschen und seiner LeidenschaftenLeidenschaften zu haben. Ohne Disziplinierung gibt es keine Aufklärung. Und Disziplin ist, das wird KantKant, Immanuel am Ende der Aufklärung in Über PädagogikÜber Pädagogik (1803) schreiben, ‚Bezähmung der Wildheit‘3. Jedenfalls war das Urteil des großen Poetikers Johann Christoph GottschedGottsched, Johann Christoph (1700–1766), „Deutschland ist schon so aufgeklärt, daß man ihm so leicht keinen blauen Dunst vor die Augen machen kann“4, vorschnell und falsch.

      Der Dichter und aufklärungskritische Journalist Christian Friedrich Daniel SchubartSchubart, Christian Friedrich Daniel (1739–1791), vor allem bekannt geworden durch seine Zeitschrift Deutsche ChronikDeutsche Chronik, widmet darin im 21. Stück vom 11. März 1776 der „Aufklärung“ folgenden Artikel:

      „Dieß große, stolze Wort ist jetzt die Lieblingsidee unsrer Zeit, sonderlich unter den Deutschen geworden. Stolz schreibt’s der Schriftsteller nieder und der Leser spricht’s mit Begeisterung nach. Kam Urania wieder vom Himmel herab? Ist einmal die Zeit angebrochen, wo keine Nacht mehr die Seele lastet, wo sich Alles im köstlichen Strahle der Aufklärung sonnet und wonnet? – Wer ist denn eigentlich die Göttin, unter deren goldnem Scepter wir jetzt so glücklich sind? –

      Ich, spricht sie selber,

      Ich bin vom ewigen Geiste geboren:

      Das Lächeln Gottes verklärt mein Antlitz.

      Eine Leuchte gab mir der Herr; ich zündete sie an

      Am heiligen Feuer des goldnen Altares.

      Geh’ zur Erd’ hinab, sprach der Milde,

      Aufklärung ist dein Name!

      Leuchte den Völkern, die in Nacht

      Und Schatten des Todes sitzen.

      Ich that’s: leuchtete dem Volke Gottes,

      Dann Helenos Söhnen; dann Roma, der Hohen;

      Bald Welschlands weicheren Enkeln;

      Dann dem Gallier und dem stolzen Britten.

      Vor mir floh des Aberglaubens Gräu’lgestalt;

      Vor mir barg sich der herzlose Unglaube;

      Licht und Wahrheit und Duldung,

      Und sie, die himmelerhebende Religion,

      War mein Gefolge. Lange schon lächelt’ ich hin

      Auf Germaniens weite Gefilde.

      Nach mir streckten seine edelsten Söhne

      Den verlangenden Arm aus.

      Da bin ich nun, glücklich zu machen

      Dieß biedere Volk!

      Hoch trag’ ich die himmlische Leuchte;

      Folge mir, biederes Volk! –

      Ein Volk ist also aufgeklärt, wenn es