Buchstäblichkeit und symbolische Deutung. Matthias Luserke-Jaqui

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Название Buchstäblichkeit und symbolische Deutung
Автор произведения Matthias Luserke-Jaqui
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783772002151



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kann.28 Das Problem der Zuordnung der Poetik zum Organon im alexandrinischen Schulbetrieb ist nach wie vor ungelöst, und die Frage, zu welchem Zeitpunkt und auf welche Weise sich dieses System im syrischen Bereich sedimentiert hat, ist unbeantwortet.29 Ließe sich feststellen, in welchem Zeitraum das Organon als geschlossenes System rezipiert wurde, hätte man, so die Überlegung, einen Anhaltspunkt dafür, wann die PoetikPoetik (Aristoteles)Poetik (Aristoteles) erstmals ins Syrische übersetzt worden ist. Denn die Syrer, wie später die Araber, waren bestrebt, das Organon geschlossen zu übersetzen. Gegen diese Überlegung spricht allerdings eine andere Annahme. Das Organon wurde aus religiösen Gründen in den christlichen Schulen nur bis Kapitel I, 7 der Ersten AnalytikAnalytik gelesen.30 Es wäre also denkbar, dass die syrische Poetik-Übersetzung erst sehr viel später angefertigt wurde. Beide Überlegungen haben einen mehr oder weniger hohen Plausibilitätswert, und Heinrichs bringt die unbefriedigende Forschungslage zur Existenz einer syrischen Poetik-Übersetzung im sechsten Jahrhundert mit den Worten auf den Punkt: „Man sieht, daß für eine endgültige Entscheidung neue Quellen unabdingbar sind“31. So wichtig die Einbeziehung dieser Überlegungen für die Handschriftenforschung ist, so zielführend ist für eine kulturgeschichtlichekulturgeschichtliche Literaturwissenschaft Literaturwissenschaft unter besonderer Berücksichtigung der Erforschung der historischen Bedingungen einer DiskursüberlieferungDiskursüberlieferung aber auch ein anderer Sachverhalt. Heinrichs konnte nachweisen, dass sowohl die syrischen als auch die arabischen Übersetzer der Poetik ihre Übersetzungen ohne jegliches Verständnis für deren Inhalt herstellten, im wörtlichen Sinn des Begriffs. Heinrichs gibt hierfür einige Beispiele, die vor allem mit Blick auf die ideologische AristotelesAristoteles-Exegese der Frühen NeuzeitFrühe Neuzeit in Italien und Frankreich bemerkenswert sind. Denn hinter den sogenannten philologischen Missverständnissen und Fehldeutungen, und seien sie noch so produktiv, stehen meist dezidierte Erkenntnisinteressen, deren Ignorieren oder einseitige Beurteilung zugleich die Problematik überlieferungsgeschichtlicher Forschung deutlich machen. So spricht Heinrichs von der „völligen Ahnungslosigkeit der Araber (und schon der Syrer, wie das erhaltene syrische Poetik-Fragment nahelegt), was Drama und Theater eigentlich sei“32. Beispielsweise komme der griechische Begriff der opsis (Inszenierung)33 im Fragmentum SyriacumFragmentum Syriacum zweimal vor. Einmal wird er, entsprechend Poetik 1449 b 33, mit parṣōpā (Gesicht) wiedergegeben, zum anderen, entsprechend Poetik 1450 a 10, wird er mit ḥzāyā (Sehen, Sehvermögen) übersetzt.34 Ein weiteres Beispiel bezieht sich auf die aristotelische TragödiendefinitionTragödie in Poetik 1449 b 24–1450 a 9. Die zitierte Stelle aus der Poetik im syrischen Fragment wird durch einen Einschub unterbrochen, der den „ohnehin unverstandenen Satz sinnwidrig aufsprengt“35. Dieser Einschub, der als Beispiel für eine Tragödie dienen soll, lautet folgendermaßen: „David also, jener Harfenspieler des heiligen Geistes, wird ein Tragöde genannt, da er, während er singt und Harfe spielt, klagt und seufzt, wie z.B.: Mit meiner Träne habe ich mein Lager genetzt“36. Dieses Beispiel zeige, so Heinrichs, wie weit die Syrer vonPoetik (Aristoteles)Poetik (Aristoteles) einem „richtigen Verständnis“37 der Tragödie entfernt gewesen seien. Für die Frage nach der Datierung der syrischen Handschrift S und besonders des Fragmentum Syriacum bedeutet dies, dass sich aus der Tatsache der wörtlichen Übersetzung kein Anhaltspunkt für die Datierung der Übersetzung selbst ableiten lässt.38 Die Poetik nimmt innerhalb der syrischen Übersetzungsliteratur aufgrund der inhaltlichen Verständnisschwierigkeiten eine „Sonderstellung“39 ein. Die wörtliche Übersetzung der Poetik im Fragmentum Syriacum ist das Ergebnis einer „Notlösung […] bei völligem Unverständnis des griechischen Textes“40. Erst den arabischen Übersetzern gelingt allmählich eine eigenständige Interpretation ihrer syrischen Vorlage(n).

      Die arabische ÜberlieferungsgeschichteÜberlieferungsgeschichte der Poetik stellt einen Teil der Poetik-RezeptionRezeption dar; allerdings darf dabei nicht übersehen werden, dass es eine aristotelischeAristoteles Schulbildung mit institutionellem Charakter, vergleichbar der alexandrinischen Schule, im Islam nicht gegeben hat.41 Die arabischen Poetik-Übersetzungen wurden nicht nach einem griechischen Original, sondern nur nach einer oder der syrischen Vorlage angefertigt.42 Die erste arabische Übersetzung stammt von Abū BišrAbū Bišr (†940 n. Chr.) und besitzt wegen ihres hohen Alters für die Poetik-Forschung besonderes Gewicht43:

      „Die Geschichte der Poetik des AristotelesAristoteles bei den Syrern und Arabern zeigt, soweit erhaltene Belege, literarische Nachrichten oder Indizien vom 8. Jahrhundert an bis zur Zeit der Entstehung der lateinischen Übersetzungen, also für einen Zeitraum von mehr als einem halben Jahrtausend vorliegen, daß der Text des Abu Bisr nicht nur die älteste direkte arabische Übersetzung einer direkten syrischen Übersetzung der Poetik ist, sondern auch die älteste erhaltene Textquelle für die Aristotelische Schrift und zugleich das Original für alle seit dem 10. Jahrhundert erhaltenen oder literaturgeschichtlich nachweisbaren arabischen, syrischen und hebräischen Übersetzungen oder Paraphrasen und ihre lateinischen Bearbeitungen.“44

      Diese für die Poetik-PhilologiePhilologie zweifelsfrei wichtige arabische Textquelle kann jedoch nicht über die inhaltlichen Bedenken hinwegtäuschen. Auch die Araber seien von einem „nur annähernd richtigen Verständnis“45 der Poetik entfernt gewesen, die Übersetzung des Abū Bišr wird sogar als „Mischung von Unverstandenem und Falschverstandenem, von Unverständlichem und Mißverständlichem“46 bezeichnet, gar von einem „mißratenen Zweig des arabischen AristotelismusAristoteles“47 ist, was die logische Poetik betrifft, die Rede. Hier stellt sich die Frage, weshalb sich die arabischen Gelehrten der mühevollen Arbeit einer Übersetzung unterzogen haben, wenn ihnen der Inhalt der Poetik so verschlossen geblieben ist. DiePoetik (Aristoteles)Poetik (Aristoteles) Antwort ist vor allem in dem übermächtigen Kanon des aristotelischen Korpus’ und der dominierenden Autorität aristotelischer Philosophie zu suchen. Die Poetik wurde als Folge der alexandrinischen Zuordnung zum Korpus logischer Schriften (Organon) selbst als logische Schrift gelesen. Darin ist sicherlich auch einer der Hauptgründe zu sehen, weshalb von der Poetik keinerlei Einfluss auf die arabische LiteraturtheorieLiteraturtheorie ausgegangen ist.48 Das eigentliche Motiv für den Philologenfleiß der Übersetzer und der Kommentatoren sieht Heinrichs unter Rückgriff auf die Forschungen Francesco Gabrielis im Streben nach Komplettierung des arabischen Corpus Aristotelicum, zudem stehe Abū BišrAbū Bišr im Hinblick auf seine Lehrer „in der lebenden Tradition der spätalexandrinischen AristotelesAristoteles-Studien“Isḥāq ibn Ḥunain49. Einzig Ibn al-Aṯīr erkenne den Widersinn einer logischen Terminologie, durch die der Zugang zur Poetik als Schrift über die DichtkunstDichtkunst durch deren Logisierung verstellt werde:

      „Einer von den Philosophierern […] unterhielt sich einmal mit mir darüber [über den griechischen Einfluss bei den Modernen], und die Rede kam auf irgendein Werk von Abū ʿAlī Ibn Sīnā über die Redekunst und die Dichtung, das er erwähnte. Er zitierte (daraus) eine von den griechischen Dichtungsgattungen, die Lāġūḏiyā (lies: ṭrāġūḏiyā, ‚Tragödie‘) genannt wird, […] und ließ mich lesen, was er zitiert hatte. Als ich das las, da hielt ich ihn (sc. Avicenna) für einen Toren […]. Alles, was er da sagt, ist Geschwätz, von dem der Sprecher der arabischen Sprache keinerlei Nutzen hat. Mehr noch – wie er sagt, ist die Stütze der Leute beim rhetorischen Sprachgebilde [Anm. v. Heinrichs: „Und beim poetischen, wie wir sinngemäß ergänzen können“], daß es in der Form von zwei Prämissen und einer Schlußfolgerung […] gebracht wird. Das ist aber dem Abū ʿAlī Ibn Sīnā bei dem, was er (selbst) an Dichtung und Reimprosa verfaßt hat, nicht in den Sinn gekommen […]. Hätte er nämlich erst über die zwei Prämissen samt Konklusion nachgedacht und danach erst ein Vers- oder Prosastück herausgebracht, dann hätte er etwas Nutzloses herausgebracht, und die Sache hätte ihm zu lange gedauert. Nein, ich bin anderer Meinung, nämlich daß die Griechen selbst, wenn sie ihre Gedichte machten, diese nicht mit dem gleichzeitigen Gedanken an zwei Prämissen und Schlußfolgerung machten. Sondern das sind theoretische Setzungen, die gemacht wurden […] und mit denen ihre systematischen Werke über die Rhetorik und die Dichtung in die Länge gestreckt wurden. Sie sind, wie man sagt, ‚Wasserblasen ohne Nutzen‘.“50

      Obwohl also die Schwierigkeiten einer Lektüre der Poetik als logische Schrift durchaus erkannt wurden, wie diese Bemerkungen des