Buchstäblichkeit und symbolische Deutung. Matthias Luserke-Jaqui

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Название Buchstäblichkeit und symbolische Deutung
Автор произведения Matthias Luserke-Jaqui
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783772002151



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Neueren zuschreiben darf“153. Mit der Entdeckung, dass der Codex Riccardianus 46 (Handschrift B) ein vom Parisinus 1741 unabhängiger Textzeuge ist, und schließlich mit der durch die Forschungen Margoliouths eingeleiteten Beschäftigung mit der arabischen Poetik-Übersetzung und dem Fragmentum SyriacumFragmentum Syriacum und deren Publikation durch Tkatsch, verstanden als die Grundlage des griechischen Textes, schien die Apografathese widerlegt zu sein, zumindest für deren Kritiker.154 Die Apografathese habe sich als ein „Hirngespinst“155 entpuppt, sie sei ein „luftiges Phantasiegebilde“156 gewesen. Heutzutage lässt sich der „Mißbrauch“ erkennen, der mit „der PoetikübersetzungPoetik (Aristoteles)Poetik (Aristoteles) [von Tkatsch] getrieben worden ist“.157 So bedeutend die Wiederentdeckung des arabischen Poetik-Textes und die Wiederentdeckung der Handschrift B auch gewesen ist, so wenig lässt sich daraus eine zuverlässige Überlieferungsgeschichte der Poetik konstruieren, geschweige denn eine aristotelischeAristoteles Mutterhandschrift rekonstruieren.158 Jede ÜberlieferungsgeschichteÜberlieferungsgeschichte von Handschriften trägt, was die nicht mehr nachweisbaren Codices betrifft, auch Züge des Idealtypischen, die lediglich eine heuristische Funktion erfüllen. Wichtig dabei ist allein das kulturgeschichtlichekulturgeschichtlich Moment, dass dadurch die Geschichtlichkeit des Textes der Poetik im Prozess ihrer Überlieferung deutlich wird.

      Die Poetik-Überlieferung im MittelalterMittelalter und im HumanismusHumanismus lässt sich nicht mehr von der allgemeinen Aristoteles-Rezeption trennen.159 Dies aus folgenden Gründen: Erstens spielt die Poetik vor dem Hintergrund des Machtkampfes zwischen den Vertretern eines Aristotelismus und den Vertretern eines Platonismus nur eine untergeordnete Rolle.160 Die bloße Verfügbarkeit von Texten aus dem Corpus Aristotelicum vermag nicht deren Einfluss zu erklären, es muss ein „deutliches Interesse auf Seiten des Rezipienten“161 hinzukommen. In der Ausbildung der Theologie als wissenschaftliche Disziplin, die in ihrem universalen Deutungsanspruch traditionale und rationale Momente vereinigt, kann man einen Grund für den Paradigmenwechsel von PlatonPlaton zu AristotelesAristoteles sehen.162 Die Aristoteles-RezeptionRezeption ließe sich damit „als Ergebnis einer fundamentalen Neuorientierung des geistigen Lebens im 12. Jahrhundert“163 erklären. Zweitens ist eine eigenständige literarische Rezeption der Poetik als Kritik oder Akzeptanz zu diesem Zeitpunkt noch nicht nachweisbar. Erst am Ende des 15. Jahrhunderts beginnt sich ein explizit poetologischer Aristotelismus mit tragödientheoretischer Präferenz als eigenständiger Diskurs zu entwickeln. Über den theologisch-philosophischen Bereich hinaus werden aristotelische Schriften nur von Medizinern und Juristen rezipiert, in großer Zahl auch pseudo-aristotelische Schriften. Die Untersuchung der Aristoteles-Rezeption unter medizin- und rechtshistorischen Aspekten wäre eine wichtige Ergänzung zu einer Kulturgeschichte der LiteraturKulturgeschichte der Literatur. Drittens kann die Handschriftengeschichte der Poetik aus literaturgeschichtlicherLiteraturgeschichte Perspektive mit dem Auftauchen des Codex Parisinus 1741 als abgeschlossen betrachtet werden. Alle jetzt noch angefertigten Codices, mit Ausnahme der Handschrift B und der Translatio HermanniTranslatio Hermanni, sind mittelbar oder unmittelbar abhängig von der Handschrift A. Mit der Editio princeps ist schließlich eine Textgestalt vorgegeben, die bis zu der großen AristotelesAristoteles-Ausgabe von Immanuel Bekker Mitte des 19. Jahrhunderts verbindlich bleibt. Textkritische Fragen verlieren für eine Kulturgeschichte der Literatur damit an Dringlichkeit. Und viertens beginnt sich die PoetikPoetik (Aristoteles)Poetik (Aristoteles) erst im frühen 18. Jahrhundert von der RhetorikRhetorik zu emanzipieren. Dieser Emanzipationsprozess ist nachhaltig von der Rezeption der aristotelischen Poetik initiiert worden. Die Filiationen zwischen der aristotelischen Poetik und der aristotelischen Rhetorik müssten bis in die HochscholastikHochscholastik hinein entsprechend berücksichtigt werden.

      Die Poetik zeichnet sich als einzige aristotelische Schrift dadurch aus, dass sie weder eine ausschließlich philosophische noch eine ausschließlich literarische Schrift ist, und doch für die westliche Zivilisation zum ältesten und wirkungsmächtigsten Zeugnis theoretischer Auseinandersetzung mit LiteraturLiteratur avancierte. Dass diese Schrift von der über viele Jahrhunderte hinweg unantastbaren Autorität des AristotelesAristoteles verfasst worden war, ist für den Erhalt der Poetik und für ihre Überlieferungsgeschichte von elementarer Bedeutung. Der erste einschneidende Bruch in diesem Prozess traditionaler Macht der Überlieferung vollzieht sich in dem Augenblick, wo sich der erste Widerstand gegen die Herrschaft der Poetik in der RenaissanceRenaissance zu regen beginnt. In der Gegenreaktion hierauf wird versucht, die (aristotelische) Herrschaft durch die Vulgarisierung der Poetik auszuweiten. Dies geschieht durch die ersten gedruckten landessprachlichen Übersetzungen und Kommentare, durch Auflösung der Prosaform in Versform, durch Reduktion des Textes auf eine reine Regelsammlung nach poetologischen Verwertbarkeitskriterien. Zugleich wird der Bruch mit der PhilosophiePhilosophie und TheologieTheologie vollzogen, die LiteraturLiteratur entwickelt ihr eigenes Reflexionsmodell in der Absicht, sich dadurch Freiheit und Unabhängigkeit zu sichern. Der gegen die Literatur gerichtete neuplatonisch-christliche Vorwurf, Literatur sei Lüge und sie verkünde die Unwahrheit, verliert an Bedeutung.164 Die RezeptionRezeption der aristotelischen Poetik war im Mittelalter zwar eng mit der Rezeption der christlichen ÄsthetikÄsthetik augustinischerAugustinus Prägung, der neuplatonischen Kunstauffassung und der Tradition der antiken Rhetorik verflochten. Doch ist der Anteil der aristotelischenAristoteles Poetik an den Debatten um FiktionFiktion, Historie, Poesie, Wahrheit, Wahrscheinlichkeit und Lüge im Kontext der mittelalterlichenMittelalter Fiktionsdebatte im Prozess der Emanzipierung der PoetikPoetik (Aristoteles)Poetik (Aristoteles) von der RhetorikRhetorik nicht unerheblich.165 Vor dem Hintergrund der lateinischen Tradition im Mittelalter müsste zudem auch die Rolle der Ars poetica von HorazHoraz berücksichtigt werden.166 Im 14. Jahrhundert gelangt die HandschriftenHandschriftengeschichte- und Textgeschichte der Poetik, endgültig mit der Editio princeps graeca von 1508, zu ihrem Abschluss. Man kann eine verhaltene Virulenz der aristotelischen Poetik im 13., 14. und 15. Jahrhundert annehmen. Keineswegs erlebt die Poetik „phönixartig“ eine „späte Auferstehung“ um die Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert.167 Die PoetikPoetik (Aristoteles)Poetik (Aristoteles) hat innerhalb der RezeptionRezeption anderer aristotelischerAristoteles Schriften die zwei Jahrhunderte zwischen 1256 als dem Jahr der Niederschrift der Translatio HermanniTranslatio Hermanni und 1481 als dem Jahr, in dem die Translatio Hermanni gedruckt wurde, gleichsam überwintert. Auch die Auswertung der LiteraturtheorieLiteraturtheorie in der italienischen RenaissanceRenaissance legt dies nahe.168

      „While Aristotle was the institutionalized philosophical writer par excellence for the Middle Ages and Renaissance, his position in more informal contexts should not be minimized. Works such as the Oeconomics, Ethics, Politics, Poetics, and Problemata were much read by an intellectual milieu different from the academic one. In the Renaissance general interest in Aristotle – leaving aside schools and universities – was as great as it was in Plato. Detailed research on this point is lacking.“169

      Mit der Editio princeps graeca der aristotelischenAristoteles Poetik, die 1508 in Venedig bei Aldus ManutiusAldus Manutius (1449–1515) erschien und von Demetrius DucasDemetrius Ducas herausgegeben wurde, änderten sich die Rezeptionsbedingungen für die Poetik revolutionär, da nun das neue Medium des BuchdrucksBuchdruck zur Verfügung stand. Mit dieser Ausgabe beginnt die Druck- und BuchgeschichteBuchgeschichte der Poetik in Europa.170 Vor dem Druck des ersten griechischen Poetik-Textes, über dessen handschriftliche Vorlagen sich nichts mehr ausmachen lässt171, waren aber bereits drei lateinische Poetik-Ausgaben erschienen: Im Jahr 1481 die lateinische Übersetzung des averroesschenAverroes Kommentars von Hermannus AlemannusHermannus Alemannus, die mehrere Auflagen erlebte, 1498 die lateinische Übersetzung von Giorgio VallaValla, Giorgio, und 1504 die neue Übersetzung von (vermutlich) B. de VitalibusVitalibus, de B.. Danach folgten griechisch-lateinische Doppelausgaben, etwa 1536 die Ausgabe von Alessandro de PazziPazzi, Alessandro de, und 1548 von Francesco RobortelliRobortelli, Francesco eine griechisch-lateinische Ausgabe mit Kommentar. Die erste italienische Übersetzung folgte 1549 von Bernardo SegniSegni, Bernardo, eine griechisch-italienische Doppelausgabe mit Kommentar von Ludovico CastelvetroCastelvetro, Ludovico erschien 1570.172 Man kann von einem explosionsartig gesteigerten Interesse an der aristotelischenAristoteles Poetik im 16., 17. und 18. Jahrhundert sprechen, wenn man sich die absoluten