Название | Buchstäblichkeit und symbolische Deutung |
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Автор произведения | Matthias Luserke-Jaqui |
Жанр | Документальная литература |
Серия | |
Издательство | Документальная литература |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783772002151 |
O möchte kein Deutscher der Stimme dieser Megäre folgen!! –“5
Ich bin Literaturhistoriker und werde mich einigen Grundlinien der abendländischen LiteraturLiteratur nähern, die unsere Vorstellung von Europa vielleicht an dem einen oder anderen Punkt in bescheidenster Weise zu ergänzen vermögen. Ich werde mich nicht so sehr mit Inhalten beschäftigen, als vielmehr nach den Grundstrukturen der europäischen Literatur fragen, gewissermaßen nach den Gitterlinien in der Tiefe unserer kulturellenKultur und literarischen Herkunft, kurz nach Momenten der europäischen Kulturwerdung. Und was ich nun als Eingangspassage gesprochen habe, ist keine Captatio benevolentiae, kein Buhlen um die Gunst der Zuhörerinnen und Zuhörer – und damit bin ich beim Thema. Diese Captatio, dieses Verneigen um des Wohlwollens willen, ist ein klassischer rhetorischer Begriff, der in der ciceroCiceronischen RhetorikRhetorik seinen architektonischen Schlussstein gefunden hat, ein Begriff also, der aus der römischen LiteraturLiteratur und KulturKultur überliefert ist, und ein Sachverhalt, der bis heute, bis in unsere Zeiten hinein Anwendung findet und das öffentliche Reden prägt.
Steineklopfen – so wollen wir diese Arbeit am und mit dem Text nennen, „ich bringe Sie halt auf den Weg des Textes, damit Sie dort mit mir Steine klopfen […].“Lacan, Jacques6 Was ‚Europa literarisch‘ sein kann, sei zunächst an folgendem Beispiel ausgeführt. Der französische Autor Eric-Emmanuel SchmittSchmitt, Eric-Emmanuel hat im Januar 2014 die Landauer Poetik-Dozentur innegehabt. Er hat einen Roman geschrieben, Das Evangelium nach PilatusDas Evangelium nach Pilatus, worin jüdisch-orientalische Verhaltensstandards und kulturelle Normen geschildert werden, ebenso römische und griechische; Schmitt ist ein französischer Autor, und ich lese den Text in deutscher Übersetzung, ist das denn nicht schon ‚Europa literarisch‘? Anders gesagt, literarisch sind wir immer schon bereit, das miteinander zu verknüpfen, was sich in unserer Lebenswirklichkeit fragmentarisiert darstellt. Und da fällt mir ein Wort von Friedrich SchlegelSchlegel, Friedrich ein, das uns allen, die wir so gerne vom Projekt Europa sprechen, erinnerlich bleiben sollte. Projekte seien „Fragmente aus der Zukunft“ (Athenäums-FragmentAthenäums-Fragment Nr. 22).
Unsere Vorstellung von Europa ist geprägt von der Topografie der politischen Ordnung, wie wir sie seit 1945 bzw. 1989ff. kennen. Gehen wir einen Schritt zurück in der Geschichte in die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts, dann finden wir uns mitten in dem Territorialgebilde eines Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation mit über 300 duodezfürstlichen Territorien, mit eigenen Währungen, Maßen und Gewichten und mit einer überbordenden regionalen Identität. Man könnte über die konfessionellen Diskriminierungen oder die regionalen Besonderheiten oder aber über das Stichwort AufklärungAufklärung sprechen, das wäre das große europäische Thema der NeuzeitNeuzeit schlechthin. Und dabei redeten wir nur über das Deutschland, England und Frankreich des 18. Jahrhunderts. Darin aber erschöpft sich Europa nicht. Denn auch im Europa der Aufklärung gibt es den selbstkritischen Blick. Denken wir an den großen Dichter des Sturm und Drang und GoetheGoethe, Johann Wolfgang-Freund Jakob Michael Reinhold LenzLenz, Jakob Michael Reinhold, unter anderem Autor eines Gedichts mit dem Titel Lied eines schiffbrüchigen EuropäersLied eines schiffbrüchigen Europäers. Lenz ist in Livland geboren, er hält sich in Deutschland auf, lebt einige Zeit im heutigen Frankreich, reist in die Schweiz, kehrt nach Weimar zurück, stirbt in Russland. Sein handschriftlicher Nachlass befindet sich heute größtenteils im polnischen Kraków. Lenz hat 1774 ein Drama veröffentlicht, das heißt Der neue MenozaDer neue Menoza. Darin reist ein Prinz Tandi von Kuba nach Europa, genauer nach Sachsen. Er hat die Absicht, „die Sitten der aufgeklärtesten Nationen Europens kennen zu lernen“7, er wird vorgestellt als ein „Prinz aus einer anderen Welt, der unsere europäische Welt will kennen lernen und sehen, ob sie des Rühmens auch wohl wert sei“8. Der Dichter Lenz spielt damit meisterhaft mit einer Spiegelungstechnik. Der wahrhaft aufgeklärte Mensch ist derjenige, der uns aufgeklärten Europäern als der Unaufgeklärte, der Fremde, eben der Andersartige erscheint. Damit will ich sagen, die LiteraturwissenschaftLiteraturwissenschaft kann es sich nicht leisten, kleinkariert nationalstaatlich zu denken.
Oder wählen wir ein anderes Beispiel. Sebastian BrantBrant, Sebastian ist zu seiner Zeit ein hoch angesehener Gelehrter. Er wird in Straßburg geboren, studiert in Basel, er lehrt dort zunächst Jurisprudenz und später zusätzlich Poesie – das war im Jahr 1484. Als Literat ist er vor allem mit seinem Buch Das NarrenschiffDas Narrenschiff hervorgetreten, es ist eines der wichtigsten Bücher aus der Frühgeschichte des BuchdrucksBuchdruck, weil es darin um uns Menschen geht, welche Narreteien wir im Leben verfolgen, welche Energien wir für völlig nutzlose Streitigkeiten verschwenden. 1494 ist es erschienen und heute noch als Reclam-Buch erhältlich. Dieses Buch wurde sofort nach Erscheinen in verschiedene Landessprachen übersetzt und ins Lateinische, damit war es allen Gelehrten in Europa zugänglich, und diese Gelehrten nannte man Humanisten, unabhängig davon, an welchem Ort in Europa sie lehrten. Und an dieser Stelle sollten wir beim Steineklopfen einen Stein aufnehmen, auf dem geschrieben steht ‚KulturgeschichteKulturgeschichte des Buchdrucks‘. Ohne diese historische Grundlegung können die Themen ‚Europa literarisch‘ und ‚Fragmente aus der Zukunft‘ nicht recht ausgeleuchtet werden.
Was war das für eine grandiose Erfindung, die Buchdruckerkunst mit beweglichen Drucktypen. Eben saßen wir noch in den Kopierstuben der Klöster, wo von Hand Manuskripte abgeschrieben, also kopiert wurden. Nun kommt ein innovationsfreudiger und leseinteressierter Handwerker nach Mainz und gründet mit Kompagnons die erste Druckerei der Welt, die sogenannte Mainzer Uroffizin. Dieser Johannes GutenbergGutenberg, Johannes hatte die geniale Idee, bewegliche Metalllettern und ein Handgießinstrument zu verwenden, das bedeutet, er konnte jeden Buchstaben so oft in eine Form gießen und verwenden, wie er es benötigte. Und brauchte er diese BuchstabenBuchstaben nicht mehr, weil beispielsweise der Druck abgeschlossen war, dann konnte er sie einfach einschmelzen und neue daraus gießen. Bis dahin wurden zur auflagenintensiven Vervielfältigung Holzdrucke verwendet, da waren die Buchstaben in das Holz eingeschnitzt und nach dem Druck nicht mehr zu verwenden. Die zweite geniale Erfindung Gutenbergs bestand in der Druckerpresse. Diese ermöglichte ihm die exakte Vervielfältigung eines Textes. Beide Verfahren zusammengenommen, die perfektionierte Herstellung mit Hilfe des Gießinstruments und die exakte Vervielfältigung mittels der Druckerpresse, revolutionierten die Buchherstellung. Damit beginnt aber noch nicht die massenhafte Verbreitung von Romanen, Gedichten oder Journalen. Nein, das dauert noch 270 Jahre. Vielmehr wurde in der Zeit von der Erfindung des Buchdrucks in den fünfziger Jahren des 15. Jahrhunderts bis etwa 1480 vor allem lateinische Bibeln gedruckt, dazu ephemere Schriften und einfache Gebrauchstexte, ferner Grammatiken und Wörterbücher. Das erste Buch aus Gutenbergs Druckerei ist übrigens nicht die Bibel, sondern eine politisch-religiöse Hetzschrift, der sogenannte Türkenkalender (1454). Die Türken hatten 1453 Konstantinopel, die größte Metropole des damaligen Europas, erobert, und damit war das Zentrum des oströmischen Reiches, ein Gravitationspunkt des damaligen Europas, verloren gegangen. Der TürkenkalenderTürkenkalender ist das älteste vollständig, nämlich in einem einzigen Exemplar erhaltene und datierbare Buch. Die Geschichte des BuchdrucksBuchdruck beginnt also mit der politischen Pamphletisierung und Skandalisierung Andersdenkender. Zwischen 1452 und 1454 entstand auch die 42-zeilige Bibel. Ihr Kaufpreis entsprach in etwa dem Jahreslohn eines Goldschmieds, was sich vor allem Klöster und reiche Privatpersonen leisten konnten.
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