Название | Buchstäblichkeit und symbolische Deutung |
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Автор произведения | Matthias Luserke-Jaqui |
Жанр | Документальная литература |
Серия | |
Издательство | Документальная литература |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783772002151 |
Spricht man von der Literaturwissenschaft als einer Kulturwissenschaft, so suggeriert man eine semantische Kongruenz, die es so nicht gibt. Die kopulative Konjunktion Literaturwissenschaft und xy-Wissenschaft indes blickt auf eine längere Tradition zurück. Um einige Beispiele anzuführen: Das Interesse an dem Kollektivsingular KulturKultur lässt sich bis in die Anfänge der Fachgeschichte der Germanistik zurückverfolgen, wobei hier nur die wesentlichen Stationen genannt seien. August SauerSauer, August hielt in seiner Prager Rektoratsrede Literaturgeschichte und Volkskunde (1907) die „Blutmischung“11 in der Dichterpersönlichkeit für das entscheidende Kriterium einer „stammheitlichen“12 Literaturgeschichtsschreibung. Hier wurde die Volkskunde ebenso wie die Literaturgeschichte und die Literaturwissenschaft zur Formulierung deutschnationaler und kryptofaschistischer Positionen missbraucht. Sauer gelangte zu der Erkenntnis, GoetheGoethe, Johann Wolfgang habe die Begründung der Volkskunde vorweggenommen.13 Er formulierte „Thesen“,14 die sein Schüler Josef NadlerNadler, Josef in seiner Literaturgeschichte der deutschen Stämme und Landschaften (1912/1928) dankbar aufgegriffen hat. Sauer forderte von einer kulturwissenschaftlichen Germanistik, dass sie zu jedem Dichter einen verlässlichen Stammbaum erarbeiten müsse; Familiengeschichte der Schriftsteller zu betreiben sei unverzichtbar. Die regionalen Literaturgeschichten sollten ausgearbeitet und zu einer stammheitlichen Literaturgeschichte synthetisiert werden. Die Literaturgeschichte müsse sich dabei der Forschungsergebnisse der Volkskunde „bedienen“15. Der Volkskunde selbst wird zur Aufgabe gemacht, eine Charakterologie des deutschen Volks zu erarbeiten. Eine Literaturgeschichte von oben müsse durch eine „literaturgeschichtliche Betrachtungsweise von unten“16 ergänzt werden. Auch hier dienen die Detailargumente wieder der Konstruktion und Befestigung einer deutschnationalen Weltanschauung. 1925 veröffentlichte Robert PetschPetsch, Robert seinen Aufsatz Volkskunde und Literaturwissenschaft, worin er Sauers Rektoratsrede nach immerhin 18 Jahren noch eindringlich und gehaltvoll nennt.17 Petsch sucht den direkten Anschluss an SauersSauer, August Anregungen und an NadlersNadler, Josef völkisch-nationale LiteraturgeschichteLiteraturgeschichte.18 Das Ziel einer volkskundlich-literaturgeschichtlichen Wissenschaft sieht Petsch in einer „nationalen Selbsterkenntnis“19, welche diese Kombinationswissenschaft leisten könne. Im gleichen Jahr erscheint auch Lutz Mackensens Beitrag Volkskunde und Literaturgeschichte, worin er klarstellt, dass der Volkskundler vom Fach die poetischen Werke als Quellen benutze, woraus er sein Material schöpfe.20 Nach dem Zweiten Weltkrieg ist es zunächst Max Lüthi, der in seinem Beitrag Volkskunde und Literaturwissenschaft (1958) das freundliche Nachbarschaftsverhältnis dieser Disziplinen betont. Beide Wissenschaften sollten sich gegenseitig aushelfen und einander als Hilfswissenschaften dienen.21 Er bescheinigt der LiteraturwissenschaftLiteraturwissenschaft ein neues Interesse am Alltäglichen und Durchschnittlichen. Lüthi bilanziert, die Literaturwissenschaft habe aufgehört, „eine bloße Elitekunde zu sein, sie nähert sich, wenn nicht den Methoden, so doch dem Gegenstand nach, der Volkskunde an“22. Nicht ganz ohne Unterton stellt er diese Wendung zum Mittelmäßigen auch und gerade in der Volkskunde fest. Germanistik als Kulturwissenschaft23 – so wurde Anfang der achtziger Jahre ein Beitrag zu einer aktuellen Diskussion überschrieben. Und am Ende kam ein Plädoyer für Deutsch als Fremdsprache heraus, das in der Zwischenzeit an vielen Universitäten als fünftes Teilfach der Germanistik neben der Älteren deutschen Literaturwissenschaft, der Neueren deutschen Literaturwissenschaft, der Linguistik und der Didaktik institutionalisiert wurde und bereits wieder durch den Hype um die Digital Philology bedroht ist.
Dieser knappe Rückblick zeigt, dass dem Gedanken einer gemeinsamen Fachgeschichte von Volkskunde und LiteraturwissenschaftLiteraturwissenschaft eine entschiedene Absage zu erteilen ist. Denn der Wissenstransfer verlief weitgehend einseitig, nämlich von der Volkskunde zur Germanistik, aber kaum umgekehrt. Die oft beklagte eurozentrische Ausrichtung der Kulturwissenschaften – zu denken wäre hier etwa auch an die Kontroverse zwischen Hans Peter DuerrDuerr, Hans Peter und Norbert EliasElias, Norbert24 – hat ihren argumentativen Ausgang in dem erstmals 1782 erschienenen Buch Versuch einer Geschichte der Kultur des menschlichen GeschlechtsVersuch einer Geschichte der Kultur des menschlichen Geschlechts von Johann Christoph AdelungAdelung, Johann Christoph. In der Vorrede heißt es dort:
„Cultur ist mir der Uebergang aus dem mehr sinnlichen und thierischen Zustande in enger verschlungene Verbindungen des gesellschaftlichen Lebens. Der ganz sinnliche, folglich ganz thierische Zustand, der wahre Stand der Natur ist Abwesenheit aller Cultur, und je mehr sich die gesellschaftliche Verbindung diesem Stande nähert, desto geringer und schwächer ist auch die Cultur. Zur Cultur gehören vornehmlich fünf Stücke: 1. Abnahme der Leibesstärke und Verfeinerung des thierischen Körpers. […] 2. Allmählige Abnahme der sinnlichen oder dunkeln Begriffe und ihrer Herrschaft, und 3. eben so allmählige Zunahme der deutlichen Begriffe, oder der vernünftigen Erkenntniß, […] 4. Verfeinerung und Milderung der Sitten; und 5. […] Bildung des Geschmackes“25.
Vor diesem Hintergrund nimmt es nicht Wunder, dass am Ende dieser Ausführungen AdelungsAdelung, Johann Christoph Erkenntnis steht, trotz fortschreitender Aufklärung sei einzig Europa „Lieblingssitz der Cultur“26. Im Jahr 1799 tritt Johann Friedrich ReitemeierReitemeier, Johann Friedrich mit seiner Schrift Über die höhere Kultur, deren Erhaltung, Vervollkommnung und Verbreitung im StaatÜber die höhere Kultur, deren Erhaltung, Vervollkommnung und Verbreitung im Staat; oder Grundsätze von der zweckmäßigen Einrichtung der Volksschulen, Gymnasien, Universitäten und Gelehrten Gesellschaften an die Öffentlichkeit. Für den Verfasser bedeutet die höhere KulturKultur die Kultur der Höheren im Gegensatz zur Kultur der unteren Volksklassen.27 Bemerkenswert ist immerhin, dass ReitemeierReitemeier, Johann Friedrich in seinem Kulturkonzept eigene Kapitel den Themen LektüreLektüre und Bedingungen der Schriftstellerei, ferner den DistributionsformenDistribution von LiteraturLiteratur wie beispielsweise den gelehrten Gesellschaften und dem Buchhandel sowie der Zensur widmet. Saul AscherAscher, Saul formuliert in seinen Ideen zur natürlichen Geschichte der politischen RevolutionenIdeen zur natürlichen Geschichte der politischen Revolutionen (1802), das erfüllt ist von einem postrevolutionären Pathos, ein Junktim zwischen der Kultiviertheit eines Staatswesens und dem Stand der Entwicklung eines revolutionären Geistes.
„Im völligen Besitz der Kultur können wir ein Volk oder einen Staat betrachten, wenn alle Kräfte des menschlichen Geistes durch ihn in freie Thätigkeit versetzt, und er sich selbst überlassen, wie ein zweiter Prometheus, auf dem Boden, der ihm sonst öde und verlassen schien, den erhabenen Sitz der Gerechtigkeit und der Freiheit hinzaubert, und ihn in Vertrauen auf seine eigenen Kräfte gegen alle Anfälle jener Ungeheuer, die sich vom Unheile der Menschheit nähren, schützt“28.
Dies ist einer der seltenen Versuche, die Kulturentwicklung mit der Entwicklung freiheitlicher Grundrechte zu verknüpfen. Gustav KlemmsKlemm, Gustav Allgemeine CulturwissenschaftAllgemeine Culturwissenschaft (1855) widmet sich hingegen den genuin volkskundlich orientierten Themen wie Feuer, Nahrung, Getränke und Narkotika als Merkmale kultureller Entwicklung.29 Auch kritische Stimmen fehlen nicht am Ende der AufklärungAufklärung, die den fortschrittsgläubigen Optimismus grundsätzlich in Frage stellen und die sich weigern, Natur gegen Kultur und KulturKultur gegen Natur auszuspielen. Friedrich Maximilian KlingerKlinger, Friedrich Maximilian etwa bezweifelt vehement die sozialdisziplinierende und zivilisatorische FunktionFunktion der Kultur. Am Beispiel der Leidenschaften könne man zeigen, so führt er in seinen Betrachtungen und Gedanken über verschiedene Gegenstände der Welt und der LiteraturBetrachtungen und Gedanken über verschiedene Gegenstände der Welt und der Literatur (1803/05) aus, dass es nicht die KulturKultur sei, welche die Auswüchse elementaren Naturrechts verhindere, sondern lediglich die Angst vor Bestrafung. Bei aller Einsicht in die Notwendigkeit kulturbedingter und kulturbedingender Vernunftarbeit plädiert KlingerKlinger, Friedrich Maximilian doch auch für einen gelegentlichen, freilich kontrollierten Verzicht auf Kultur. „So gut nun die Kultur für die Kühlern und Vernünftigern ist, so ist es doch nicht übel, dass wir uns zu Zeiten aus dem Stande der Wildheit etwas rekrutiren oder auffrischen; wir würden sonst gar zu artig, gar zu duldsam werden“30. Diese unkonventionellen Positionen bleiben aber singulär.
Friedrich NicolaiNicolai, Friedrich betont