Название | Werd ich noch jung sein, wenn ich älter bin |
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Автор произведения | Reiner Schöne |
Жанр | Философия |
Серия | |
Издательство | Философия |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783862870554 |
Das war auch so ein peinlicher Anachronismus in der klassenlosen Gesellschaftsordnung des Arbeiter- und Bauernstaates, in der ich aufwuchs. »Klub der Intelligenz«. Aber da liefen Filme, die der Normalbürger nicht zu sehen bekam; ich glaube, das waren so kleine Nischen, die vom allgemeinen Staatsspieß verschont wurden.
Ich wurde immer kühner und traute mir alles zu, musikalisch. Der Drummer einer Weimarer Tanzkapelle war krank, und die Jungs hatten eine Mugge. Ich wurde gefragt, ob ich aushelfen könnte. Ich hatte noch nie am Schlagzeug gesessen, hütete mich aber, das bekannt zu geben. Ich dachte, so schwer kann das doch nicht sein.
Es war ein bäuerlicher Schwof irgendwo bei Weimar auf einem Dorf. Die Besetzung der Combo war denkwürdig: Trompete, Akkordeon, Klavier und ich am Schlagzeug. Kein Bass, keine Gitarre, wie sollte so ein Line-up grooven, bitte!?
Ich fiel den Muggern schon mal unangenehm auf, weil ich bat, mir beim Aufbau des Schlagzeugs zu helfen. Ich fummelte mit den Becken, der Hi-Hat und dem anderen Drum Kit rum wie eben einer, der keine Ahnung hatte von der Materie. Dann wurde eingezählt, und ich stolperte durch die erste Nummer. Die Bauern kamen aus dem Takt auf dem Tanzboden, und ich kriegte böse Blicke. Von den Bauern und von der Kapelle; ich wollte in ein Mauseloch kriechen. Ich hatte doch immer gut zuhört, ich hatte meine Platten studiert, wusste, wie Art Blakey trommelte und Max Roach. Theoretisch.
Es wurde eine denkwürdige Blamage über vier Stunden, und ich wundere mich heute noch, dass die Thüringer Landbevölkerung mich nicht verdroschen hat; hatte ich ihnen ihren Tanzabend doch gründlich versaut.
Und dann saß ich eines Tages im »Westcoast Jazzclub« auf dem Hollywood Boulevard und sah Miles Davis live und in Farbe. Am Tisch vor mir saß Bill Cosby, der damals »Tennisschläger und Kanonen« drehte und der späteren Generationen als Dr. Huxley in der Bill Cosby Show ein Begriff wurde. The Master von ,Birth of the Cool’ kam auf die Bühne, die Band spielte das Thema, Miles spielte sein Solo und verschwand. Die anderen spielten ihre Soli, Miles kam zurück auf die Bühne, spielte mit der Band das Thema, aus, Applaus. Das ging den ganzen Abend so. Kein Wort aus dem Munde des Meisters. Jedesmal dasselbe Strickmuster. Er spielte wie ein Gott, meistens mit dem Rücken zum Publikum und schwieg. Wenn er überhaupt auf der Bühne war.
Julian Cannonball Adderley (m.) und Nat Adderley (r.) ritzen Autogramme ein.- Monterey Jazzfestival 1969 (Foto: Ina Berneis)
Drei Wochen später sah ich ihn wieder. Nach dem Gig beim Open Air Jazzfestival in Monterey/California sprach ich ihn an und bat ihn, ein Autogramm in meine Gitarre zu ritzen. Er nahm die Gabel (!), die ich ihm gab, ritzte sein »Miles Davis« ein und flüsterte irgendwas.
»I’m sorry?« Ich hatte kein Wort verstanden. Er hatte eine derart heisere Stimme, man hätte eh nichts verstehen können.
Sein Autogramm war in schönster Gesellschaft. Vorher hatten sich das gesamte Modern Jazz Quartet und die Adderley Brothers auf meiner Gitarre verewigt, Julian Cannonball Adderley, der oft mit Miles Davis gespielt hatte und Brother Nat, der so schöne Weisen wie den »Worksong« geschrieben hatte.
Viele Jahre später, Ende der Achtziger, sah ich Miles wieder. Bei einer Vernissage seiner Bilder in Beverly Hills. Düstere Werke. Seine Musik hatte nie solche depressiven Gefühle bei mir geweckt. Seine Musik gibt mir eher Wärme, Ruhe, gute Gefühle.
Wann immer ich im Studio heute einer Trompeter aufnehme, sag ich immer: »Nimm dein Horn und spiel wie Miles Davis.«
11. Mai 2004
Heldenvater
Ich hab einen Korken im Mund und versuche, Schiller zu sprechen. Ich bin mir noch nicht mal sicher, ob ich merke, wie komisch das Ganze ist. Demostenes, der altgriechische Orator, hatte sich Kieselsteine in den Mund gesteckt und gegen die Wellen des Meeres angekämpft, um seine Artikulation fit zu machen für seine großen Volksreden weiland auf dem Peloponnes. Und darunter muss ich heute leiden.
Ich bereite mich auf die Eignungsprüfung zur Schauspielschule vor. Nachdem mir Inge vor zwei Jahren die Seefahrerei gründlich ausgeredet hatte, biss mich irgendwann der Schauspiel-Bug, und nun will ich’s wissen. Inge sitzt zwar immer noch ein paar Bänke vor mir in derselben Klasse, aber unsre Lebensplanung sieht keine Gemeinsamkeiten mehr vor. Leider.
Ich bekämpfe mit Hilfe einer Professorin für Sprecherziehung meine Thüringer Vokale, und sie schickt mich auch noch zu einem veritablen Mimen zum Schauspielunterricht. Abitur mach ich so nebenbei, ich brauch eh immer nur von Pit abzuschreiben für meine exquisiten Zensuren. Von Pits Talenten haben zwei Bänke vier Jahre lang profitiert, und er hat’s später folgerichtig zum Universitätsprofessor gebracht.
So, und nun steh ich vor der altehrwürdigen Eichentäfelung des Boudoirs im Maria-Seebach-Stift, einem wunderbaren Altersheim für die Künstler des Deutschen Nationaltheaters Weimar, mit einem ordinären Flaschenkorken zwischen meinen Zähnen und darf erst mal nur ein einziges Wort hervorbringen. »Hört....«. Aber ein »Hört« von Schiller, also ein ganz besonderes »Hört«. Hintendran hängt nämlich eine ellenlange Rede, die Rede des Alten Stauffacher; der Kenner erkennt »Wilhelm Tell«. Wilhelm-Hinrich Holtz, der Kurator des Heims, der große Mime des Nationaltheaters, der Staatsschauspieler, hat mich vor drei Tagen unter seine Fittiche genommen und mir aufgetragen, diese Rede zu lernen. Ein Blick auf meine 1,95, und der Meister sagt: »Sie sind kein Jugendlicher Held, auch kein Jugendlicher Liebhaber, Sie werden Heldenvater.«
»???«
Mein Zuchtmeister erklärt mir die theatralischen Schubladen: Romeo wird vom Jugendlichen Liebhaber des Ensembles gespielt, Hamlet vom Jugendlichen Helden. Komische Alte kommt nicht in Frage für mich, aber ich nähere mich im Laufe der nächsten Wochen bedenklich dem Komiker. Was mir jetzt noch nicht so klar ist. Als ich begreife, was ein Heldenvater ist, wage ich einzuwerfen, dass ich doch erst Achtzehn sei. Argument abgeschmettert. Wilhelm-Hinrich ist Charakterkomiker und wiegt satte 200 Kilo. Ich bin erst bei 70 Kilo und bei meiner Länge sehe damit aus wie ein Ehringsdorfer Spargel. Der Meister ignoriert das: »Sie müssen an Ihre Zukunft denken!« Und so lerne ich sie auswendig, die Rede des alten Stauffacher auf der Rütli-Wiese, wo dann später geschworen wurde. Schiller hätte seine Freude an mir gehabt. Ich intoniere »Hört, was die alten Hirten sich erzählen« mit Pathos und allen falschen Tönen, derer ich mit meiner eben erst erwachten Theaterleidenschaft mächtig bin.
Wilhelm-Hinrich unterbricht immer wieder. Geduldig, aber entschieden. Stets voller Güte. Und korrigiert. »Hööört...« Sein ö ist mehrsilbig, es geht erst hoch, dann langsam runter, es dauert drei Sekunden. Mindestens. Der Korken zittert. »Hööört...« Ich bin begeistert. Das ist Theater! Davon bin ich noch weit entfernt. Am dritten Tag ist er zufrieden, ich darf jetzt weitersprechen.
Irgendwann sind wir durch. Nach vielen Wochen. Ich bin Deutschlands jüngster Heldenvater. Auch der dünnste. Pappa Wilhelm-Hinrich erklärt mich reif für die Aufnahmeprüfung, und ich fahre mit großen Erwartungen nach Babelsberg. Zur Filmhochschule. Natürlich haben wir noch, wie verlangt, zwei Ausschnitte aus anderen Rollen vorbereitet, aber meine große Nummer ist die Rede des alten Stauffacher vor’m Rütlischwur.
Ich werde auf die kleine Studiobühne der Schule gebeten, stelle mich vor und finde alles wahnsinnig aufregend. Das Adrenalin pumpt mich glücklich; ich bin dem Ziele ganz nahe.
»So, was sprechen Sie denn vor?« Sechs mir unbekannte Gesichter, Prüfer junger potentieller Schauspieltalente, wenden sich mir zu. Professionell, routiniert, schließlich bin ich nur einer von viele Prüflingen heute.
»Als erstes möchte ich eine Szene aus ’Wilhelm Tell’ vorspielen,« die Prüfer haben schon erwartungsvolle Fragezeichen in den Augen, »und zwar« – kleine Pause, um die Spannung zu steigern, mein Timing ist vom Feinsten – »die Rede des alten Stauffacher ‚Hört, was die alten Hirten sich erzählen’.«
Die Prüfer sind einiges gewöhnt, es gibt da die absurdesten Zurschaustellungen. Der Chef fragt, bisher nur rudimentär verwundert: »Warum haben Sie sich ausgerechnet diese Rolle ausgesucht?«
Und