Werd ich noch jung sein, wenn ich älter bin. Reiner Schöne

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Название Werd ich noch jung sein, wenn ich älter bin
Автор произведения Reiner Schöne
Жанр Философия
Серия
Издательство Философия
Год выпуска 0
isbn 9783862870554



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große Wohnküche. In meiner Erinnerung war sie jedenfalls groß. Wir wurden den Hauseigentümern einfach aufgedrängt, sie mussten in die obere Etage und wohnten genauso beengt wie wir unten.

      Die Nachkriegszeit war Partyzeit, man feierte das Überleben; es wurde getanzt, was das Zeug hielt, und es wurden abartige, berauschende Flüssigkeiten konsumiert. Die Erwachsenen arbeiteten hart und feierten noch härter Meine Mutter war der Hit jedes Betriebsfestes; sie steppte mit Frack und Zylinder auf den Tischen. Ich kenne leider nur Fotos und Augenzeugenberichte von diesen ihren Aktivitäten; auch als Weihnachtsmann auf den Kinderweihnachtsfeiern war sie später nicht minder gefragt. Sie hat ihr musisches Talent mit einigem Erfolg auf ihre beiden Söhne vererbt. Mein Vater war stolz auf seine Frau; er, stets der Kavalier alter Schule und immer picobello angezogen und frisiert - letzteres hat er leider nicht auf mich übertragen können – verließ das Haus nie ohne Hut und Krawatte. Unsere Eltern waren oft weg abends. Und meine Mutter war stolz auf ihre beiden Jungs: »Die sind im Bett und sind ganz brav,« sagte sie immer.

      Die braven Jungs aber spielten Fußball in der Küche, und der alte Lösch kam mit hochrotem Gesicht die Treppe runter und schiss uns zusammen. Mit Recht, wir waren laut; der selbst gebastelte Fußball donnerte an die Küchentür, eins der beiden Tore. Als er weg war, waren wir leise und machten mit Zeitungspapier und Feuerholz ein geräuschloses Lagerfeuer auf den Küchenfliesen; Karl May hatte bereits seine Spuren hinterlassen.

      Die große Mutprobe war dann, nackig ums Viertel zu rennen. Dazu mussten wir aber erst aus den nicht ganz niedrigen Fenstern im Erdgeschoss klettern. Raus war nicht so schwer, aber beim Reinklettern kriegte die Kniescheibe den einen oder anderen blutigen Kratzer ab. Nackig um den Block, am hellerlichten Sommerabend, das war wirklich eine Mutprobe, die wir beide bestanden haben. Sie wurde oft wiederholt.

      Wenn man Glück hatte, kam man an eine leere Tankhülse ran, die die Flieger offenbar abgeworfen hatten; so zwei bis drei Meter lange Blech-Zigarren. An der Seite wurde eine Öffnung ausgeschnitten, wer konnte, ließ sich die scharfen Ränder mit Holz verkleiden, damit man sich nicht verletzte, und dann wurde das Boot zu Wasser gelassen. Die »Boote« waren natürlich nicht sehr seetüchtig, weil sie ja einen runden Boden hatten. Sie sahen aus wie Mini-U-Boote. Wer einen Handwerker in der Familie hatte, der hatte auch einen Kiel unterm Kahn, das war das Non Plus Ultra.

Zwei Fotos

      Unsere Mutter hatte die charmante Neigung, ihre beiden Jungs zum Kinderfasching wechselweise in das Mädchen zu verwandeln, das sie so gerne noch gehabt hätte.

      Irgendeiner meiner Freunde hatte so ein Hülse aufgetrieben. Wir hievten sie auf unseren Familienhandwagen. Die Ilmbrücke zwischen Ehringsdorf und Oberweimar wurde gerade repariert. Wir organisierten ein paar Brocken Teer, Reste des Belags, einen alten Eimer und zogen mit der Fracht zu unserem Garten. Wir nannten ihn unser Feld, weil er nur an zwei Seiten durch die Nachbargärten eingezäunt war und weit weg von unserm Hause lag. Auf dem Feld wurde ein Feuer angefacht, der Teer kochte, unser Boot kriegte einen Rostschutz, und mein Vater am nächsten Tag einen Anfall, weil wir nicht nur das Boot geteert hatten, sondern auch die Zwiebeln, die Tomaten, die Bohnen; der halbe Garten trug Spuren der Aktion. Und leider auch der Handwagen.

      Inzwischen hatten wir unser Boot zu Wasser gelassen; der Stapellauf konnte beginnen. Das Kanu war wie erwartet unstabil, das Reinklettern war nicht ganz leicht, man gab mir das Paddel, ich paddelte drei Meter … und kippte um. Ich konnte mich zwar befreien und kam wieder hoch, aber unsere Titanic sank langsam und verschwand in der Ilm. Und da blieb sie dann, wir hatten die Nase voll von der Aktion Paddelboot. Inzwischen molekular verrostet, treiben seine Partikel durch die Gewässer des Freistaats Thüringen.

      Als wir dann nach vielen Jahren endlich eine größere Wohnung gefunden hatten, zogen wir nach Weimar. Ich war in der siebenten Klasse und hatte überhaupt keine Lust, meine Freunde in Oberweimar zu verlassen, meine Klasse, ich wollte an meiner alten Schule bleiben. Also stand ich jeden Morgen eine halbe Stunde früher auf, um rechtzeitig da zu sein. Manchmal mit dem Rad, manchmal zu Fuß, im Winter oft auf Skiern. Ich musste jeden Morgen an Goethes kleinem Gartenhaus im Park vorbei; auf dem Nachbargrundstück gabs einen Schäferhund. Dieser verdammte Hund kam immer durch die Haselnusshecke auf mich zu, blieb drei Meter vor mir stehen und bellte bösartig auf mich ein. Das machte mir Angst. Und dann hab ich mir von meinem Konfirmationsgeld eine ganz und gar unchristliche Waffe gekauft; einen Hirschfänger mit Blutrinne. Den hab ich dann immer bei mir getragen und dachte mir, wenn der Misthund mich jemals angreift, dann ist er tot. Ich war kampfbereit.

Einschulung

      Einschulung

      Der Hund musste das gespürt haben. Er hatte Angst vor mir und blieb fürderhin immer hinter seiner Hecke. Er wagte sich nicht mal mehr zu bellen. Das war mein Kalter Krieg; Einschüchterung durch Aufrüstung.

      Das Leben bringt es mit sich, dass man das Nest verlässt und sich in der Welt herumtreibt. Man sieht seine alten Freunde nur noch selten. Bei gelegentlichen Klassentreffen, bei den - immer zu kurzen - Besuchen zu Hause. Man driftet auseinander. Mit manchen mehr, mit manchen weniger, und manchmal verliert man Freunde auch. Das ist schmerzlich.

      Aber manchmal sitzt man zusammen, redet von den ersten Jahren, den gemeinsamen Erlebnissen; das Bier zischt über die Bratwürste, die auf dem Grill duften und langsam knusprig werden; und dann wird man ganz still, horcht in sich hinein, und die Bilder kommen wieder. Das sind leise, glückliche Momente, in denen ich mich immer fühle, als wär ich maximal, na sagen wir mal zwölf.

      Als ob die Zeit stehen bleibt.

      Killarney, Irland, 7. Juli 2007

      Die Walnuss

      Es war vier Uhr morgens, sehr früh für einen Neunjährigen. Mein Vater trug meinen Koffer zum Bahnhof, und der Bahnhof war weit weg, ein paar Kilometer entfernt von meinem warmen Bett. Auch meine Mutter ließ es sich nicht nehmen, den Jüngsten zum Zuge zu bringen; mein Bruder durfte weiter schlafen. An ein Taxi war nicht zu denken, außerdem hätte es um die Zeit in Weimar sowieso keins gegeben. Selbstverständlich hatte keiner in unsrer Nachbarschaft ein Auto. Und noch fuhr kein O-Bus um diese Stunde.

      Es war ein kalter Herbstmorgen, meine Mutter zog die Schultern hoch und fror. Über Nacht war Schnee gefallen, sehr früh in diesem Jahr, unsere Schritte knirschten auf der weißen Pracht und noch war kein Mensch auf den Beinen, um die Wege zu räumen. Wir liefen schon eine Weile auf der Belvederer Allee Richtung Stadt und waren kurz vor der Helmholtzstraße, da ließ mein Vater einen krachen. Kein verklemmter, heimlicher Furz; ein richtig lustvoller Kracher war das.

      »Aber Vati!« Meine Mutter wollte ihre erzieherische Aufgabe nicht vernachlässigen, aber da sie eine wunderbar humorvolle junge Frau war, übertönte ihr Glucksen den ohnehin gespielten Vorwurf. Ich wollte noch einen nachlegen und drückte, um meinen Vater zu entlasten, aber es wurde nichts. Nicht mal ein Rohrkrepierer gelang mir.

      Eine abenteuerliche Reise lag vor mir; alleine, ohne Familie, sechs Wochen ohne vertraute Stimmen und vor allem ohne die geheimnisvollen Abendgeschichten, die wir uns immer erzählten, mein Bruder und ich. Wir hatten hinter’m Kopfende unserer Betten wundersame Gänge voller fantastischer Wesen und Abenteuer. Und da war jeden Abend was los, auch unsere Hunde waren immer dabei. Jeder hatte einen. Hunde, die unserer Fantasie entsprungen waren, und die man als Kind einfach brauchte.

      Am Bahnhof wurde ich der Obhut irgendwelcher Erwachsenen übergeben, die sich auch um meine Weggefährten kümmerten, und dann stiegen wir ein in einen kalten Zug mit harten Holzbänken; die Koffer wurden in die altmodischen Gepäcknetze gehievt, und mit Geheul und fürchterlicher Rauchentwicklung zockelte der Zug nach Norden. Einen ganzen Tag lang ratterten wir durch ein kleines Land, das sich gerade von den Bombenschäden zu erholen versuchte. Die frühen Fünfziger waren eine emsige Zeit für die Überlebenden des Grauens.

      Nach endlosen Stunden rumpelte der Zug ein in Sellin auf der großen Insel Rügen; ich kann mich nicht erinnern, wie oft wir umsteigen mussten, aber es waren mit Sicherheit einige Male. Es war schon wieder dunkel, unser kleines Grüppchen tippelte Richtung Kindererholungs-heim, und ich merkte sofort,