Werd ich noch jung sein, wenn ich älter bin. Reiner Schöne

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Название Werd ich noch jung sein, wenn ich älter bin
Автор произведения Reiner Schöne
Жанр Философия
Серия
Издательство Философия
Год выпуска 0
isbn 9783862870554



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Augen. Unbemerkt.

      »Zeit für dich.« Er geht zum Truck, kramt unter der Rückbank und holt ein Paket Trockenfutter raus, öffnet eine Wasserflasche, füllt eine Schale und füttert den Hund aus der Hand. Ganz weit weg fliegt ein Flugzeug nach Osten. Ein kleines Gebet, dass das Flugzeug auch da landet, wo es landen soll. Just a little prayer. Dunkel heben sich die Joshua Trees gegen den Wüstenhimmel ab, gegen die Milchstraße; nachts schlafen die Klapperschlangen, er hofft, nicht auf eine zu treten. Die Chance ist gering, tatsächlich einem Wüsten-Rattler zu begegnen, Schlangen weichen aus, weiß er. Das Heulen eines jagenden Kojotenpacks macht die Hündin nervös, sie sucht seine Nähe und knurrt. Warnend; aber mehr ängstlich, er kennt sie seit sechs Jahren, da gibt’s eigentlich nur noch Vertrautheiten zwischen ihnen.

      Er liegt da und sieht ganz tief in die Milchstraße hinein. Lichtjahre weit weg ist er, ganz tief eingeschmolzen ins Universum. Komisch, immer wenn er am Mittelmeer den Sternenhimmel sah, überkam ihn ein unstillbares Fernweh, ein schmerzendes Fernweh! Nicht jetzt, nicht heute, da ist nur Frieden und Ruhe. Er ist in der Ferne, in der Welt, er ist angelangt am anderen Ende seines Regenbogens. Go West. Wie die Siedler, die Pioniere der vergangenen Jahrhunderte in ihren Wagentrecks. Von Oklahoma nach Oregon. Von Kentucky nach California. Tausende Gräber säumen die Trails der Ochsenkarren, namenlos, ohne Grabsteine, ohne Blumen. Siedler, die ihre Heimat verlassen hatten, die mit den Indianern in Frieden lebten, bis die US Kavallerie dem ein Ende bereitete, Verrat und Bruch der Verträge politisch kalkuliert im fernen Washington.

      Die Hündin hat die Augen geschlossen, aber er weiß, dass sie nicht schläft, das gelegentliche Zucken ihrer Ohren verrät sie. Sie nimmt die Geräusche der nächtlichen Wüste wahr, analysiert sie, jederzeit bereit, Hund zu sein.

      Er spürt die Kraft, die aus dem Nichts kommt. Aus dem ,An Nichts Denken’. Wie lange hat er damit gewartet, sich überfordert, wie eine Maschine, die den Ölwechsel brauchte und nicht gewartet wurde!? Er hat funktioniert. Immer die Notwendigkeiten im Blick. Ob er vermisst wird, ob sie ihn suchen?

      Er spürt, wie er eins wird mit dem Universum, mit der Wärme seines Hundes, der Milchstraße und dem Mantra der Grillen. Ganz langsam sinkt er ein in den Boden, spürt die Wurzeln der Joshua Trees, den Frieden, den er endlich annimmt.

      Und dann sieht er den Engel, der vor ihm steht.

      20. Oktober 2001

      Bierflaschen und Wasserflöhe

      Ich werde nie wieder das Geräusch der Bierflaschen vergessen. Leere Bierflaschen, die in den übereinander gestapelten Kästen wackelten; sie wackelten so heftig, dass es sich für immer in meine kleine Kinderseele einprägte. Die Kisten standen im Hausflur eines bebenden Hauses. Es war der 9. Februar 1945, und draußen ging die Welt unter.

      Meine Mutter wollte sich nette Wellen legen lassen um ihr schönes Gesicht herum und hatte mich mitgenommen zu ihrem Friseur. Sie war gerade unter der Haube, als die Sirenen mit ihrem markerschütternden Geheul anfingen. Auch das war ein Geräusch, das ich nie wieder vergessen würde. Weimar wurde von englischen und amerikanischen Bombern angegriffen. Es krachte und heulte, alles wackelte, ein Treffer nach dem anderen, und wir waren mitten drin im Inferno. Mein Bruder und der Rest der Familie waren in Ehringsdorf, meine Mutter betete, dass die anglo-amerikanischen Verbände den kleinen Vorort nicht so wichtig nehmen würden wie das große Weimar.

      Wer es noch rechtzeitig geschafft hatte, saß in einem der Luftschutzkeller; noch lange nach dem Krieg sah man an vielen Häusern die drei Buchstaben mit einem Pfeil nach unten: LSR. LuftSchutzRaum. Die meisten hatten eher einen psychologischen Effekt und waren Augenwischerei; es waren simple Keller; und wenn das Haus drüber einen Volltreffer kriegte, war man auch im Himmel. Wer »nur« verschüttet wurde, hatte einen Schaden fürs Leben. Wir saßen jetzt in so einem nutzlosen Keller und hörten im Hausflur die Bierflaschen scheppern.

      Dann heulten die Sirenen Entwarnung, die Luft war rein, die Bomber waren weg.

      Meine Mutter nahm mich an der Hand, und wir gingen ins Freie. Das erste, was ich sah, war das brennende Nationaltheater gegenüber vom Friseur. Aus den Säulen loderten haushohe Flammen, es war heiß wie in der Hölle. Überall war Rauch, die Menschen kamen wieder auf die Straße, und wir gingen nach Hause. Unsere Wohnung lag gegenüber vom Goethehaus am Frauenplan. Aber Goethes Haus hatte kein Dach mehr. Das Kaufhaus gegenüber hatte einen Volltreffer abgekriegt, und die Explosion hatte den ganzen Frauenplan beschädigt.

      Wir gingen in unsere kleine Wohnung. Auch hier nacktes Chaos. Die Fenster hatten keine Scheiben mehr; der Luftdruck hatte sie alle nach innen gedrückt, meine weinende Mutter lief über knirschende Glasscherben und Trümmerteile, die den gesamten Fußboden bedeckten. Bei jedem Schritt macht es kkrrcckk, kkrrcckk. Die Wohnung war unbewohnbar geworden.

      Ich weiß nicht mehr, wie wir zu den Großeltern nach Ehringsdorf gekommen sind, da waren jedenfalls alle am Leben und wohlauf.

      Ein paar Tage später stand eine Nachbarin in der Küche und rührte ihren Kuchenteig. Plötzlich kamen sie wieder, die Flugzeuge. Aber sehr hoch; die Sirenen blieben stumm diesmal. Wenn die Flieger in dieser Höhe ankamen, dann war kein Angriff zu befürchten. Sie konnte ihre Augen nicht abwenden, und ihr wurde angst. Eine unglaubliche Anzahl von Bombern flog hoch über Weimar Richtung Osten. Und sie dachte sich, mein Gott, wo die ihre Last abladen, ist das Leben zu Ende. Es war der 13. Februar, und ein paar Stunden später gab es Dresden nicht mehr.

      Im Mai war der Spuk vorüber, und vor unserem Haus in der Weimarischen Straße standen die Amis. Ein schwarzer GI kletterte von seinem Panzerspähwagen herunter und gab mir ein Stück Schokolade und einen Kaugummi. Leider kamen nach drei Wochen die Russen, die hatten solche Köstlichkeiten nicht; aber ein paar Jahre später hab ich von den Rotarmisten meine erste Zigarette gekriegt. Eine legendäre Papyrossi, kurze, kratzige Zigaretten mit Papiermundstück, das man einmal kreuz und einmal quer eindrückte, ehe man es sich zwischen die Zähne steckte. Die Variante für Arme waren Selbstgedrehte. Man baute eine kleine Tüte, sie musste aber aus dem Papier der »Prawda« sein - das garantierte den authentischen Geschmack - da kam dann Machorka rein, der raueste Tabak der Welt, mit Stängeln und allem. Kurzgehacktes sibirisches Homegrown. Ein Lungenzug genügte, um sich das Rauchen ganz schnell wieder abzugewöhnen.

      Im Goethepark gab’s ein paar Bombentrichter. Von Bomben, die den Fliegern offensichtlich daneben gegangen waren; warum hätten die Amis auch noch Goethes alte Buchen bombardieren wollen!? In diesen Trichtern stand das Grundwasser – es waren inzwischen kleine Biotope geworden. Voll von Leben. Wir waren aber nur an den Wasserflöhen interessiert. Man zog einen von Muttern ihr’n alten Strümpfen über einen runden Draht, befestigte einen langen Stock dran, und fertig war das Wasserflohnetz. Wasserflöhe wurden von unseren Aquariumsfischen sehr gerne gefressen, also hatten die Streubomben wenigstens einen Nutzen nach dem Krieg. Die Ruinen der Häuser waren lange Zeit begehrte, wenn auch gefährliche Abenteuerspielplätze; außerdem gabs da immer Schätze zu finden unter den Trümmern.

      Mein Bruder kam in die Schule, und ich sollte in den Kindergarten. Genau einen halben Tag hab ich’s ausgehalten. Ich war vier und fand das da alles blöd. Irgendwann drückte die Peristaltik, ich traute mich aber nicht zu sagen: »Ich muss mal.« Drei kleine Worte, die ungesagt, mir dann eine viel schönere Kindheit ermöglichten, als es so ein organisiertes Kindergartenleben jemals vermocht hätte. Unterwegs nach Hause passierte’s; ich konnte es nicht mehr halten, ich versuchte x-beinig zu retten, was zu retten war, aber nichts ging mehr; ich schiss mir in die Hose. Wenn ich nicht in diesem blöden Kindergarten gewesen wär, wäre das nicht passiert, war meine kindliche Schlussfolgerung. Nachdem mich meine Großmutter wieder sauber geputzt hatte, sagte ich trotzig; »Ich will nie wieder in den Kindergarten.«

Kinderfoto

      Mein Bruder Wolfgang und ich.

      Ich kriegte auch einen Schlüssel um den Hals und strolchte mit meinem Bruder durch Wald und Flur. Was war das doch für ein schönes Leben in Freiheit.

      Irgendwann 1946 mussten wir ausziehen aus dem großen gelben Haus in der Weijmarischen Straße in Ehringsdorf, um den neuen Herren Platz zu machen, den Bonzen der neuen Partei. Wir zogen nach Oberweimar in eine kleine