Название | Werd ich noch jung sein, wenn ich älter bin |
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Автор произведения | Reiner Schöne |
Жанр | Философия |
Серия | |
Издательство | Философия |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783862870554 |
Ich war schon immer ein Geruchsmensch. Gerüche haben sich immer in Verbindung mit dem jeweiligen Ort eingenistet in mein Langzeitgedächtnis. Hier im Heim roch’s intensiv nach Kernseife, Bohnerwachs, Desinfektionsmittel und Suppe. Die Beleuchtung war funzelig, die Glühbirnen waren auf sparsame 25 Watt reduziert. Aber es war eh dunkel in diesen Jahren; ich habe oft meine Hausaugaben beim Scheine der gemütlichen Petroleumlampe gemacht, wenn mal wieder Stromsperre war, damit die volkseigene Planwirtschaft genügend Energie hatte, um den Kapitalisten im Westen zeigen zu können, auf welcher Seite der grünen Grenze der bessere Staat lag. Der Geruch einer Petroleumlampe ist mir bis heute vertraut und verbindet sich mit meiner Kindheit. Durchaus positiv.
Und dann kam der große Moment. Am Morgen nach dem Frühstück ging’s ans Meer. Da lag sie, die riesengroße Ostsee; die Wellen rollten, die Fischerboote waren an den Strand gezogen, und ein paar Fischer hatten ihre Netze gespannt und flickten sie. Es roch nach allem, was mein abenteuerlustiges Thüringer Kinderherz erfreuen konnte. Es war überwältigend. Hinterm Horizont ging’s weiter, aber das konnte ich nicht sehen. Wasser, Wellen, Meer soweit man sehen konnte. Ich stand da, staunte, und der frische Wind blies in meinen offenen Mund. Am intensivsten hatte ich den Seetang in der Nase; Salz, Seetang, Sand; die Möwen kreischten und stritten sich um die Brocken, die die Fischer liegengelassen hatten. Teergerüche von den Spanten der Boote mischten sich in all die die wunderbaren Düfte hier.
Seit ich sieben war, wollte ich Seemann werden. Ich war fast am Ziel. Das war das wahre Leben hier. Sechs Wochen lagen vor mir, sechs Wochen Leben am Meer. Ich vermisste nichts; nicht die Stimme der Mutter, keine Kracher vom Vater und keine brüderlichen Fantasien um Hunde und Schätze hinter der Wand am Bett. Weimar war unendlich weit weg, Heimweh kam überhaupt nicht auf.
Wir durchstreiften die Gegend. Es war eine unbekannte Welt mit Mooren, einem geheimnisvollen See, Buchenwäldern und jeden Tag wieder der Strand. Wir suchten Bernstein, wühlten im angeschwemmten Seetang herum; es war jedes Mal aufregend, wenn man wieder einen gelblichen Stein gefunden hatte; aber dann wars eben doch nichts anderes als das, ein Stein. Die Taschen waren voll von sandigen Muscheln, die nach einigen Tagen einen gefährlich rottigen Geruch verströmten.
Unter der Seebrücke wars immer spannend, die Wellen liebkosten die Pfeiler, und ich verliebte mich. Nicht in eine Meerjungfrau, sondern in Gerlinde. Im Bett neben mir lag mein neuer Freund Ulli, und wir merkten, dass wir uns beide in Gerlinde verliebt hatten. Gerlinde hat das nie erfahren; sie hätte uns beide haben können, aber wir waren viel zu schüchtern, um sie einzuweihen in unsere Schwärmereien. Wir wären eh zu jung für sie gewesen, sie war ja schon elf.
Es wurde langsam winterlicher, der Nikolaustag kam, und wir kriegten kleine Leckereien. Eine Nuss hatte es mir besonders angetan, eine Walnuss. Ich hatte noch nie in meinem Leben eine Walnuss gegessen, oder ich hatte doch und erinnerte mich an den köstlichen Geschmack, ich weiß es nicht mehr, jedenfalls schenkte ich dieser Walnuss meine unerwiderte Zuneigung. Ich knackte sie nicht, ich trug sie mit mir herum, roch an ihr, leckte sie ab, versuchte, sie in meinen neunjährigen Mund zu stecken. Was für eine Köstlichkeit! Die Erinnerung an diese eine Walnuss hat mich mein Leben lang begleitet.
Und dann, Wochen später, fasste ich mir ein Herz und knackte sie. Ganz langsam, Viertel für Viertel steckte ich sie in den Mund und genoss, wie ich nie wieder eine Walnuss genossen habe.
Killarney, Irland, 30. Juni 2007
Ein Sommer an der Donau
Es war schon nach Mitternacht, als ich endlich in Rechtenstein ankam. Ich war zwölf und hatte eine endlose Bahnfahrt hinter mir. Ich hatte nicht nur ein Land diagonal durchquert, ein Land, das jetzt in zwei Teile geteilt war; man musste eine Grenze mit mürrischen Kontrolleuren überstehen, und man musste den Spagat von Ost nach West verarbeiten. Ich hatte vor allem Hunger wie ein Wolf und war müde wie Hund - und: ich war mutterseelenalleine.
Wo war Onkel Max?! Warum holte mich keiner ab?! Ich stand auf einem Dorfbahnhof irgendwo im Schwabenlande und fühlte mich verlassen von der Welt. Aber zwölf heißt nicht hilflos, irgendwo musste es ja hier Menschen geben. Irgendwer würde schon noch wach sein.
Ich schleppte meinen Koffer vom Bahnhof und ging zu einem Haus, das wie eine Wassermühle aussah. Stockdunkel alles. Also klopfte ich sanft an ein Fenster. Tatsächlich steckte der Müller seinen verschlafenen Schwabenkopf aus dem Fenster.
»Entschuldigen Sie die Störung, wie komm ich denn nach Mittenhausen?«
»Jetscht no? Mhm, da musst du durch de Wald. Da no.«
»Ist das weit?« fragte ich ein bisschen verzagt.
»Ha noi, des is it weit. So zwei Kilometer sind das, nit mehr. Mittehause hat nur drei Höfe, zu wem willscht du denn?«
Ich sagte es ihm. »Die wohnet da mittedrin, du wirscht es scho finde.« Er erklärte mir noch wortreich, worauf ich achten müsse und sagte Gute Nacht.
Und dann stand ich vor der Mühle wie das Männlein im Walde. Ich hatte ein bisschen gehofft, dass er mich hinbringen würde. Nun musste ich mich alleine auf den Weg machen. Ich tappste in den finsteren Wald hinein. Es hatte geregnet, meine einzige Orientierung in der mond- und sternenlosen Nacht waren die schwachen Reflektionen in den Pfützen. Auch als Erwachsener geht man nachts nicht gern alleine durch den Wald, für einen Zwölfjährigen war es Horror pur. Ich fühlte mich von aller Welt verlassen und betete, dass ich aus dem großen, dunklen Walde raus fände und mich vor allem nicht verirrte in diesen fremden Jagdgründen. Mir kamen all die Räubergeschichten in den Sinn, die man zu Hause unter der Bettdecke mit der Taschenlampe so gerne liest im sicheren Schlafzimmer. Wilhelm Hauffs »Wirtshaus im Spessart« war noch ganz lebendig in meiner Erinnerung, nun war ich selber mittendrin in so einer Gruselgeschichte.
Nach einer Ewigkeit wurde es ein bisschen heller, das musste das Ende des Waldes sein; jetzt nur nicht vom Weg abkommen. Links lag ein Bauernhof, an dem sollte ich noch vorbei. Aber da schlug auch schon der Hofhund an. Wenn der frei rum läuft, bin ich verloren, dachte ich, aber er kam nicht, er bellte nur böse, das war ja sein Job.
Der Koffer zog wie Blei, und ich schleppte mich ganz langsam weiter, bis ich an eine Art Gutshof kam. War ich am Ziel? Was mach ich jetzt? Am besten rufen.
»Onkel Maaaaaax!!!« Nichts. Noch mal. »Haaaaaallo! Tante Geeeeertrud!«
Ein Fenster ging auf. »Wer ist da?« Inzwischen bellte ein ganzes Rudel schwäbischer Hofwölfe um die Wette.
»Bist du das Onkel Max? Hier ist der Reiner aus Weimar.«
»Ja Junge, wo kommst du denn jetzt her mitten in der Nacht? Im Brief von deiner Mutter stand doch, dass du morgen kommst.«
Inzwischen wurde es hell, die Tür ging auf, der Albtraum hatte ein Happy End, und Tante Gertrud machte mir erst mal was zu essen. Und man konnte gar nicht verstehen, dass der Müller von Rechtenstein mich hatte allein durch den Wald gehen lassen. Aber nun war ich ja da.
Mein Onkel und meine Tante hatten Krieg, Vertreibung und Flucht aus Oberschlesien überstanden und waren hier an der Donau gelandet. Hatten wieder einen kleinen Hof und arbeiteten hart, um im neuen Land und Leben auf die Füße zu kommen.
Am Morgen strich ich mit meinen beiden Cousins durch die Gegend und war begeistert. Es gab da einen zerfallenden Turm vom alten Rittergut mit Fledermäusen