Werd ich noch jung sein, wenn ich älter bin. Reiner Schöne

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Название Werd ich noch jung sein, wenn ich älter bin
Автор произведения Reiner Schöne
Жанр Философия
Серия
Издательство Философия
Год выпуска 0
isbn 9783862870554



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dem Verfall preisgegeben, ein Geisterhaus, ein Denkmal verfehlter Bundespolitik, leider), da sagte Marianne zu mir: »Immer wenn einer unserer Freunde abgehauen ist nach drüben, war das für uns ein schmerzlicher Verlust. Es war, als ob er gestorben wäre.« Das ging mir schon sehr nahe und hat mein Fluchttrauma von 1968 noch schlimmer gemacht.

      Der Mittelpunkt der neuen Bewegung war das Kino International. (Wenn man bedenkt, wie sehr die Chefideologen bemüht waren, die volkseigene Republik zu isolieren, wie sehr sie ihre eigenen Hirne zu- und uns eingemauert hatten, dann war »International« der glatte Hohn).

      Alle hatten freien Zugang zur Bühne, jeder konnte seine Songs singen, es war ein unglaublicher Nährboden, kreativ zu sein, seine Meinung zu singen. Innerhalb der – oft eingehaltenen – Grenzen versteht sich. Da waren sie alle, Perry Friedman, der Kanadier mit seinem Banjo, Kurt Demmler, Hartmut König, Klaus Schneider, Bettina Wegner, Dorit Gäbler, Lutz Kirchenwitz. Ich sang meine Songs, alte und neue Blues, und dann fand ich zwei Texte, die mich elektrisierten. Das war Zeitgeist.

      »Paul’s Dream«, ein englischer Text von Paul Jones und »Der Ledernackenblues« von Günter Kunert. Ich setzte die Texte in Töne; ich war erst am Anfang meiner Fähigkeiten als Songwriter, Liedermacher, oder wie auch immer das genannt wurde; Texte schrieb ich erst später, im Westen.

      Mit den beiden Songs ging ich zu Amiga, der konkurrenzlosen, staatlichen Plattenfirma. Der A&R Chef hieß Hoffmann und empfing mich ganz unkompliziert.

      Ich setzte mich auf die Kante seines Schreibtisches, griff mir die Gitarre und legte los. Offenbar gefiel ihm, was er hörte.

      »Hast du ‘ne Band?« wollte er wissen.

      »Nein.«

      »Moment,« er griff zum Hörer und telefonierte ein paar Minuten. »Jetzt hast du ‘ne Band. Nächste Woche Dienstag seid ihr im Studio, ist das in Ordnung?«

      Und wie das in Ordnung war. Meine erste Single.

      »Ist das dann Mono oder Stereo?« Soviel Fachkenntnisse hatte ich bereits.

      »Natürlich Stereo, zwei Spuren haben wir schon.«

      Auch die Beatles und die Stones waren kaum weiter, die ersten Platten, die Musikgeschichte geschrieben hatten in den Swinging Sixties waren in Mono, später gabs zwei Spuren, das war dann Stereo, dann vier Spuren; die Aufnahmetechniken wurden immer komplizierter, unsere deutsche »Haare« LP zwei Jahre später mit Harold Faltermeyer noch als Tonassistent (!) wurde auf acht Spuren aufgenommen, unser deutsches »Jesus Christ Superstar« Doppel-Album von 1972 hatte schon sechzehn Tracks, und dann ging’s über vierundzwanzig, zwei Maschinen kombiniert ergaben achtundvierzig, bis wir heute bei unendlich angelangt sind. Musik wird dadurch nicht besser. Man braucht nur wochenlang, um die ganzen Tracks zu mischen.

      Wir probten die beiden Songs, dann ging’s ins Studio. Ich denke mal, dass wir einen Take, sicher nicht mehr als zwei brauchten, dann waren »Pauls Traum« und der »Ledernackenblues« im Kasten und ein paar Wochen später auf dem Markt, um einen kapitalistischen Terminus zu verwenden.

      Horst Bonnet, Regisseur an der Komischen Oper, hatte eine ganz verwegene Idee, 1967. Er besetzte mich als Prinz Orlowsky in der »Fledermaus«. Eine Rolle, die normalerweise von Altistinnen gesungen, von Frauen. Aber er kannte meine Bluesröhre, er kannte meine Arbeit am »Musicman« am Metropoltheater, er wollte einen Mann für diese androgyne Rolle. Liegt ja auf der Hand. Aber das war hoch, verdammt hoch, wie sollte ich das in den Griff kriegen. Außerdem war das ein Operette. Mann, worauf lass ich mich da ein!? Aber eine Operette an Walter Felsensteins Komischer Oper. Eine der großen Bühnen des Musiktheaters. Es wäre der Ritterschlag für mich.

      Wir machten einen Test. Der Kapellmeister saß am Flügel. Um mich zu begleiten, vor allem aber, um zu checken, ob das mit dem Bluesman auch wirklich geht. Ich sang so opernhaft ich konnte »Ich la-ha-de gern mir Gäste ein…,« ich dachte, ich leg denen jetzt einen Caruso hin, dass sie umfallen vor Begeisterung. Ich sang aus voller Brust so hoch ich konnte. Ich selber war begeistert; solcher Töne war ich fähig!? Wow.

      Der letzte Akkord verklang. Dann war Stille. Horst Bonnet sah den Kapellmeister an. Ein stummes »Und?«

      Der Meister nahm den Fuß vom Pedal. »Hm, interessant. … Klingt fast wie’n Schlager.«

      Scheiße, so beschissen war das? Ich wurde ganz klein.

      »Aber wir machen das, das wird interessant.« Er würde abends am Pult stehen, es war seine Verantwortung, es war sein Ja.

      Nun musste ich nur noch dem großen Häuptling vorsingen. Walter Felsenstein. Er war praktisch die Komische Oper. Seit 1947.

      Dieselbe Situation, ich sang wie ein Gott, der Professor hörte zu, und noch bevor der letzte Ton verklungen war, sprangen meine beiden neuen Gönner mir zur Hilfe; bevor Felsenstein was sagen konnte, sagten sie: »Herr Professor, Sie müssen wissen, der Reiner kommt vom Blues, er singt sonst Musicals, er…..«

      Felsenstein unterbrach ihren Wortschwall cool und sagte mit seinem Wiener Akzent: »Ich weiß gar nicht, was Sie wollen…« Mit Blick zu mir, »er ist doch a Prinz.«

      Ich hatte die Rolle.

      Dann brach alles zusammen, Horst Bonnet wurde krank, die Inszenierung wurde gestrichen, und ich kam nie dazu, mit Hans Nocker auf der Bühne zu stehen.

      Aber der Blues und meine Protestsongs machten mir nur wenig später die Mauer auf. Gerade so weit, dass ich durchschlüpfen konnte.

      Wieder war einer weg. Bereut hab ich’s nie.

      Irgendwo an der Ostsee, 8. November 2007

      In Wien spielen sie schlechtes Theater

      Keiner, der jemals in Magdeburg war, wird behaupten, dass die Stadt irgendeine Chance hätte, einen Schönheitswettbewerb zu gewinnen. Von den alliierten Bombern plattgemacht und im ausgeplünderten Nachkriegsdeutschland Ost wieder hochbetoniert. Auch der Nebel an diesem 16. Januar 1968 macht die City nicht attraktiver. Auch nicht das gesichtslose Interhotel, in dem ich gerade im Tiefschlaf liege.

      Und doch wird dieser Morgen mein ganzes Leben verändern, und die Industriestadt zwischen Berlin und der Nahtstelle zweier Galaxien wird ihren Platz in meiner Erinnerung finden.

      Das Telefon klingelt, und ich werde wach. Kurz nach acht. Der Wecker steht auf 9:00; muss das jetzt sein? Ich soll erst halb elf in der Maske erscheinen.

      »Ja?«

      »Guten Morgen, hier ist die Konzert- und Gastspieldirektion der DDR. Eine Frage, könnten Sie am 29. Januar in Westberlin einen Auftritt machen?«

      Pause. »Sind Sie noch da?«

      »Ja.« Ein tonloses Ja, mir bleibt die Stimme weg. »Was haben Sie gesagt?«

      »Hier ist die Konzert- und Gastspieldirektion der DDR. Könnten Sie am 29. Januar in Westberlin einen Auftritt machen?«

      Noch eine Pause. Ich fange an zu zittern, ich halte mich mit der freien Hand am Fensterbrett fest. »Moment, da muss ich erst mal in meinen Kalender gucken.«

      Ich weiß auch ohne Kalender, dass ich am 29. Januar frei hab, ich hab gar keinen Kalender mit, ich will nur Zeit gewinnen. »Ja, ich sehe gerade, das geht. Wo ist der Auftritt, haben Sie gesagt?« Ich will das magische Wort noch mal hören.

      »In Westberlin. Ich schicke Ihnen die Details in Ihre Wohnung, danke erstmal für die Zusage. Hier ist meine Nummer…«

      Noch eine Ewigkeit nachdem der Anrufer aufgelegt hat, stehe ich paralysiert am Fenster und schaue auf das sozialistische Einheitsgrau von Magdeburg. Dicke Rauchschwaden aus den Schornsteinen legen sich über die Stadt. Der Qualm der Braunkohle macht das Atmen da draußen schwer.

      Was war das eben? Ein Traum? Ich sehe auf meine Notizen und bin mitten drin in der Realität.

      Seit vier Jahren will ich weg, abhauen aus der DDR. Über Bulgarien, über Jugoslawien, durch die Spree schwimmen, über die Mauer, Schüsse, Albträume, wie, wo. Und dann kommt so ein Anruf von weniger als fünf Minuten, und die Tür geht auf. So einfach ist das plötzlich.