Werd ich noch jung sein, wenn ich älter bin. Reiner Schöne

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Название Werd ich noch jung sein, wenn ich älter bin
Автор произведения Reiner Schöne
Жанр Философия
Серия
Издательство Философия
Год выпуска 0
isbn 9783862870554



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wir Werbung dafür? Wer liest schon die Ankündigungen im Schaukasten vor der Kirche?! Da kam uns der geniale Geistesblitz. Wohin geht jeder mindestens einmal am Tag? Und hat Zeit und Muße, einen Hinweis zu lesen? Auf’s Klo.

      Wir schrieben mit der Hand so fünfzig Miniposter, verteilten sie an allen möglichen Ecken des Zeltplatzes, und auch in jeder der kleinen Bretterbuden mit dem Donnerbalken klebte die Mitteilung: Donnerstag, 20. August 1963, 20 Uhr – Reiner Schöne singt Spirituals und Blues in der Seemannskirche Prerow. Die Zettel prangten an der Innenseite der Klotüren, einen halben Meter vor den Augen der Erleichterung Suchenden.

      Es wurde ein Werbeerfolg der Spitzenklasse! Ich kam kurz vor halb acht in die Kirche, da waren schon ein paar hundert Leute da, einige saßen beim Altar auf den Seitenbänken, ergo hinter meinem Rücken.

      »Setzt euch mal lieber woanders hin, so seht ihr mich ja nur von hinten,« bat ich.

      »Ach so, wir dachten, Sie singen da oben mit der Orgel.« Von wegen Orgel. Dann bin ich noch mal raus gegangen, und als ich mit dem Pfarrer und seiner Familie um acht die Kirche wieder betrat, dachte ich, mich trifft der Schlag. Die Kirche war rappelvoll, über 600 Leute waren gekommen, überall standen und saßen sie, und natürlich war auch der Altarraum hinter mir wieder voll.

      Ich kriegte Panik. Da hatte ich mir ja was eingebrockt. Ich hatte noch nie in meinem Leben alleine ein Konzert bestritten, kein Mikrofon, kein Verstärker an der Gitarre, nur ich und meine große Klappe. Ich war buchstäblich von der eigenen Latrinenpropaganda überrollt worden. Die einzigen Mikrofone, die ich sah, waren die von Radio DDR, Sender Rostock, der den Abend mitgeschnitten hat. Ein Ü-Wagen stand vor der Tür.

      Also gut, ich nahm meinen ganzen Mut zusammen und redete und sang und erklärte den Leuten, was Spirituals sind, Gospelsongs; wo der Blues herkommt und haute in meine kleine schäbige Gitarre. Die Stimmung war unbeschreiblich. Das Publikum war voll auf meiner Seite, es war ein Riesenerfolg, und meine Angst machte einem Glücksgefühl Platz, das ich heute noch abrufen kann.

      Aber dann, am Ende, bat ich die Leute aufzustehen und mit mir das Vaterunser zu beten. Gemurmel, Verunsicherung, nanu, was ist das denn?! Und natürlich wurde das Ganze nie gesendet, dem Sender war das zu viel christliches Gedöns, da kam sicher der Anschiss von der Partei, und die Bänder verschwanden im Archiv. Wenn überhaupt. Schade, da hätt ich heute gerne eine Kopie davon.

      Ich kriegte dann noch eine Menge Einladungen, in anderen Kirchen zu singen und wanderte mit der Gitarre auf dem Rücken von Ort zu Ort. Ich fühlte mich wie Paulus, der Wanderprediger.

      Ein paar Wochen später in Putbus auf Rügen. Null Werbung; es saßen genau sieben alte Damen in der Kirche. Sieben! Hier gabs offensichtlich keine Toilettenhäuschen. Ich zog mit der Schar der sieben Aufrechten gleich nebenan in die kleine Kapelle und legte los. Eine Achtzigjährige sah die ganze Zeit grimmig aus und kuckte so verquält.

      »Ist es Ihnen zu laut?« fragte ich freundlich. Sie legte die Hand ans Ohr und rief zurück; »Wie bitte?« Mit der Lautstärke einer Schwerhörigen. Kleines Gelächter. Aha, das wars.

      Viele Jahre später, so 1988 war das, ich hatte noch immer keine Greencard, wohnte aber schon seit ein paar Jahren in Los Angeles, und jede Einreise aus Europa wurde zum Eiertanz; ich wollte natürlich mein Sechs-Monats-Visum wieder haben. Was immer von der Gnade der Einwanderungs-Beamten abhing. Jeder, der schon mal in Amerika war, kennt den Zirkus und die oft nicht sehr freundlichen Gesichter an den Schaltern. Man fühlt sich ausgeliefert und hilflos. Da ist immer der Verdacht von Illegalität, will der etwa hier bleiben? Und arbeiten? Also stellen sie einem tausend blöde Fragen.

      Diesmal war ich an eine sehr korpulente schwarze Lady geraten. Das hatte ich immer vermieden bisher, ich kannte genug schwarze Rassisten, die mir kleinem White Boy das Leben schwer machen wollten. Also Miss Officer machte keinerlei Anstalten, mir das Leben leicht zu machen, die Einreise. Irgendwann wurde’s mir zu bunt und ich sagte ganz cool: »By the way, Ma’m, I used to sing Gospels in East German churches.«

      Pause, sie kuckte mich an, und ein Lächeln erhellte ihr Gesicht: »Oh really?« Sie knallte mir den ersehnten Stempel aufs Papier, gab mir meinen Pass zurück und sagte strahlend: »Have a nice time in America.«

      Thank you Mahalia.

      Irgendwo an der Ostsee, 8. November 2007

      Orpheus steigt herab und rein in den Hootenannyklub von Ostberlin

      Ich war ihnen geradezu in die Arme gelaufen. Ich war für sie genauso der Jackpot, wie sie für mich. Möglicherweise wären sie auch ohne mich ausgekommen; für mich jedenfalls war’s der Sechser im Lotto; von dem Tag an war mein Leben nicht mehr dasselbe; es war besser. Sehr viel besser.

      Irgendwann am Ende der Steinzeit, im Frühsommer 1965 hatte ich den festen Vorsatz, mein sicheres Leben aufzugeben. Ich wollte raus. Raus aus der Geborgenheit des Theaters der kleinen Städte. Meine Perspektive war, nach dem Engagement am Gerhart-Hauptmann-Theater Görlitz/Zittau, meinem ersten gleich nach der Schauspielschule, nach Rudolstadt zu gehen, von dort nach Meiningen, dann nach Karl-Marx-Stadt, um nach vielen Jahren – vielleicht - irgendwann im Mekka der Theaterkunst anzukommen: In Berlin, der Hauptstadt der DDR.

      Aber es gab eine Abkürzung. Ich hörte, das Fernsehen hätte ein Ensemble; ich meldete mich zum Vorsprechen an, neudeutsch Casting und trampte nach Berlin. Ich hatte von einem Stück gehört, das in Rostock lief. Es spielte in den Südstaaten Amerikas, und ein Bluessänger namens Val Xavier war die Hauptfigur: Tennessee Williams’ »Orpheus steigt herab«. Ich war elektrisiert; der Blues, das war seit langem meine Musik. Ich hatte mir blaue Gitarren-Licks aus den Fingern gesaugt, ich lernte von Westplatten, an die man schwer rankam, aber man kriegte sie. Das war die ideale Rolle fürs Casting in Adlershof, dem Sitz des Fernsehfunks der DDR. Da könnte ich ganz legitim die Schauspielerei mit der Musik verbinden und denen zeigen, dass ich auch singen kann. Und Gitarre spielen. Ein guter Plan.

      Ich kam, sah und spielte meine Szene aus dem Stück, streichelte und peinigte die Saiten meiner Gitarre, intonierte die Blue Notes, wie ich sie von Ray Charles und Jimmy Witherspoon gelernt hatte, von Snooks Eaglin und Joe Turner, Sonny Terry und Brownie McGhee, von allen meinen schwarzen Helden der schwarzen Rillen im Vinyl; der Blues und ich waren eins.

      Hubert Hölzke, Regisseur und offenbar der Chef der Kommission sah mich an und schwieg. Dann kamen die Worte, die ich mein Leben lang nicht wieder vergessen sollte: »Sie schickt uns der Himmel.«

      Ich verstand nichts.

      »Wir suchen seit Monaten einen Mann, der Blues singen und Gitarre spielen kann. Der beides ist, Schauspieler und Sänger. Wir haben ihn gerade gefunden.«

      »Was haben Sie vor?« fragte ich noch immer ahnungslos.

      »Wir wollen »Orpheus steigt herab» fürs Fernsehen machen, aber wir hatten bis vor fünf Minuten keinen Val Xavier. Haben Sie Zeit im August, September?«

      Ich fiel aus allen Wolken. »Ja,« sagte ich, wie aus der Pistole geschossen. »Aber ja.«

      Ich hatte natürlich keine Zeit, ich war verdammt noch mal unter Vertrag, ich musste im August auf der Freilichtbühne mindestens drei Rollen spielen, wie sollte ich das hinkriegen!?

      »Ihre Partnerin wird Gisela May sein.«

      Das wird ja immer besser: Gisela May! Ich musste das machen, ich musste raus aus meinem Theatervertrag. Ich sagte zu allem Ja und Amen, was mir der Regisseur sagte und fuhr verwirrt nach Zittau zurück. Mit der Bahn, das leistete ich mir jetzt.

      Und ich werde es den Zittauern nie vergessen, sie ließen mich raus, sie verbauten mir nichts. Nur noch ein paar Vorstellungen Open Air, dann Adios und ab in die große weite Welt. Nach Ostberlin.

      Aber erst mal machte ich eine gründliche Recherche. Als diplomierter Absolvent des Schauspielstudios des Deutschen Nationaltheaters zu Weimar hatte ich ja gelernt, wie man sich auf eine Rolle vorbereitet. Da galt’s erst mal den Überbau, den Unterbau, den historischen Hintergrund, die gesellschaftlichen Verhältnisse, das Wo und Wohin, das Warum und Woher zu sichten, zu klären; das ganze kopflastige Gebäude, um eine Rolle zu erarbeiten; ergo, bevor man die erste Zeile Text lernte, musste erst mal