Название | Psychotische Reaktionen und heiße Luft |
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Автор произведения | Lester Bangs |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783862870028 |
Im Gegensatz zu den vielen dümmlich trüben Albumhüllen der lahmen späteren Jahre, als die Bands einfach vergaßen, irgendwelche Informationen auf der Rückseite zu bringen, außer vielleicht Songtitel oder eine gefakte Kodachrome Naturstudie, die die Band zeigt, wie sie um einen sterbenden Mammutbaum oder ähnliches herumschleicht, war die erste Eruption von Count Five auf der Rückseite einfach voll gepackt mit allen wichtigen Informationen, wie Namen, Spitznamen, gespielte Instrumente und Alter der Bandmitglieder (der Älteste war neunzehn). Auch die Songtitel sahen vielversprechend aus: abgesehen von den beiden von The Who gekupferten Stücken, waren alles Originale, Titel wie ›Double-Decker Bus‹, ›Pretty Big Mouth‹ und ›The World‹, um nur die ersten drei zu nennen, klangen so, als sollte man sie nicht verpassen.
Aber Kinderchen, ich muss euch sagen, es kostete mich viele Wochen des Nachdenkens und so manche Stunde Schweiß, gebückt über den Verkaufstresen eines Plattenladens, bevor ich mir schließlich ein Herz fasste und die Platte kaufte. Warum? Tja, sie war so aggressiv mittelmäßig, dass ich ihr nur schwer widerstehen konnte, und gleichzeitig war ich mehr als vorsichtig, weil ich wusste, wie ungeschliffen sie sein würde. Erst viel später, als ich schon in den Kitschbottichen von Elton John und James Taylor ertrank, erkannte ich, dass Derbheit das wahrhaftigste Kriterium für Rock’n’Roll war, je härter das Gedröhne und Gekrache, desto mehr Spaß hatte man an dem Album und desto länger hörte man es. Zu diesem Zeitpunkt hätte ich mir einen Schneidezahn ausgeschlagen, den Schädel rasiert und praktisch jedes Opfer gebracht, um auch nur noch ein einziges weiteres Album dieser krachenden, hyänenschreienden Rasanz zu bekommen. Aber es war schon zu spät.
Ich versuchte immer wieder, die Psychotic Reaction LP zu kaufen. Ich ging rüber zum Unimart, total breit von Gras, Muskatnuss, Wodka, Romilar, oder kam mit glasigen Augen gerade von zehn Stunden auf Dexedrine runter, die ich damit verbracht hatte, ein paar Probleme in Geometrie abzuarbeiten (ich war ein richtiger kleiner Gelehrter, wenn ich die magische Medizin genommen hatte, die in dir einen manischen Wissensdurst hervorruft), ich probierte jede Taktik aus, um meine Widerstandsfähigkeit zu schwächen, aber nichts funktionierte. Fuck, ich hatte eine scheiß gespaltene Persönlichkeit! Und zwar wegen eines scheiß Count-Five-Albums! Vielleicht war ich dichter an der Irrenanstalt, als ich mir je hatte träumen lassen! Auf der anderen Seite, wegen was sonst sollten ich oder einer meiner Altersgenossen schizoid werden, wenn nicht wegen eines lausigen Rock’ n’Roll-Albums? Mädchen? Ach Quatsch, zu direkt, zu einfach, zu irrational. Drogen? Klar, aber wenn, dann machten die mich schizoid – ›Du zahlst dafür, dass du mit uns rumspielst, Junge!‹ –, nicht mein eigenes Wrack dualistischer Seelenqualen. Nein, nicht mehr und nicht weniger als eine Platte, ein Rock’n’Roll-Album von entsprechendem Stellenwert wie Psychotic Reaction (wer rastete schon bei einer Stonesplatte aus, von den Beatles ganz zu schweigen) konnte meine Ohrlappen pulverisieren, meinen Boden durchlöchern. Ich wusste es, weil ich schon mal einen ganz ähnlichen Desorientierungsanfall beim Question Mark and the Mysterians-Album hatte! Ich war bei einem Freund, total auf Romilar, und er hatte das Nervenwässerchen Colt 45 intus, und ich sagte: ›Tja, ich hab mir heute das Question Mark and the Mysterians-Album gekauft‹, und plötzlich floss das Gleichgewicht aus meinem Kopf wie das Wasser nach dem Tauchen aus den Ohren, ein zielloser Strudel begann durch meinen Schädel zu wirbeln und wurde allmählich immer schneller, obwohl ich nicht hätte sagen können, ob es einfach ein Luftzug draußen war oder etwas direkt zwischen Fleisch und Knochen. Ich hatte mein Leben vor Augen, echt kein Scheiß – ich meine damit nicht, dass bei mir ein Film von der Geburt bis zu diesem eher unangenehmen Moment des existentiellen Schwindels ablief, sondern ich sah mich, wie ich unzählige Plattenläden betrat und wieder verließ, ein Heidengeld blechte, in einer endlosen Kette stand, das Schlagen und Klingeln der Registrierkassen im Ohr, die Summen in Höhe von $ 3,38 und $ 3,39 und $ 3,49 und den anderen Preisen, die ich auswendig kannte, zweifelsohne ganz der vorbildliche amerikanische Konsument, obwohl ich nie ein vollwertiges Mitglied war, ich sah Mülleimer randvoll mit den Hüllen (in die die Läden ihre Alben verschweißen), um nicht beim Klauen erwischt zu werden, wenn man aus dem Laden latscht. Ich sah mich bei Tausend Gelegenheiten, wie ich mit raschen, zielgerichteten Schritten auf mein Auto zugehe, den Schlüssel im Zündschloss drehe und in meiner frisierten Karre durchstarte, total high in der Vorfreude auf all die Offenbarungen, die in fünfunddreißig oder vierzig Minuten explodierenden Sounds liegen würden, sobald ich zu Hause angekommen war, mit dem ewigen Versprechen, dass dieses eine Mal die Gitarren wie TNT abgehen und ein galvanisches Brutzeln im Gehirn freisetzen würden – KABUMM!!! – und dir wenigstens einmal die Schädeldecke bis in den Himmel geblasen wird. Dein Gehirn glänzt an der Decke, klebt dort wie gegipste Stalaktiten, während dein durchgedrehter Körper herumrennt und wütende, wenig menschliche Wortfetzen herausschreit, in unberechenbaren Kreisen herumhüpft und abgehackte Silben ausspuckt wie ein Freak in einem sehr weit fortgeschrittenen Stadium des Superstar-Syndroms.
Aber das ist nur Phantasie. Die echte Vision, der wirklich durchgeknallte Flash war genauso wie die Wirklichkeit, nur dass sie in einem endlosen Loop immer weiter spielte. Die wahre Geschichte ist, so schnell wie möglich nach Hause zu kommen, um die Apokalypse losbrechen zu hören, durch die Eingangstür zu fallen und die Cellophanhülle ›zu Ihrer Sicherheit‹ aufzureißen, die Platte herauszunehmen – ah, sieh nur, die Rillen, total lackschwarz, noch ohne jeden Schmierfleck, glänzend und neu und so scheiß unberührt, dann die Farbe des Labels, seine glühende Aura, die schon einen zarten Hinweis auf die Klänge gibt, die dieser Scheibe entströmen werden. Oder handelt es sich lediglich um eine langweilige monochromatische Oberfläche, wie eine Schulmauer (wie bei RCA und Capitol, nachdem irgendein Depp sie neu gestaltet hat – ein Beispiel für künstlerische Zurückgebliebenheit)? Und schließlich legt man die Platte auf den Teller, eine perfekte Sekunde dreht sie schwerelos, gefolgt von dem Moment der Wahrheit, Nadel in Rille, und endlich Sound.
Was dann kommt, ist oft so dermaßen unspannend, dass es selbst den rationalsten Menschen in tiefe Verzweiflung stürzt. Bäh! Die ganze Musikwelt ist voller Einfaltspinsel und Scharlatane, mit Ausnahme von einigen wenigen Genies und einsamen Eulenspiegeln.
All das sah ich vor mir, während ich inmitten der Agonien des weichgespülten Question Mark and the Mysterians-Sounds saß, und mehr noch, ich sah mich selbst als verwirrten alten Knacker, der eine Ausgabe des 96 Tears-Albums in den Händen hält, und mit dem hängenden Unterkiefer eines Mannes, der am Ende seines vergeudeten Lebens steht und ins Leere starrt. Und im nächsten Moment, die Uhr muss praktisch still gestanden haben, sagte mein Freund offensichtlich höchst erstaunt: ›Du hast Question Mark and the Mysterians gekauft?‹
Ich glotzte ihn stumpf an. ›Klar‹, sagte ich, ›warum nicht?‹
Mir ist schon klar, dass das ziemlich pathologisch klingt – obwohl ich das, bevor ich es hier ausgesprochen habe, nie so empfunden hatte –, und die Freudschen Anklänge sind vermutlich kinderleicht zu sehen. Aber was ich nicht verstehe ist, was das alles zu bedeuten hat? Nicht, dass ihr den Eindruck bekommt, dass das Kaufen und Hören von Platten per se bei mir immer mit derartigen Wahn- und Desorientierungsanfällen oder einem besonderen Maß an Besessenheit und Zwangsneurose einhergeht. Es ist nur einfach so, dass Musik für mich schon immer mit einem fluktuierenden Fanatismus gekoppelt war – genau genommen, seit ich in der ersten Klasse zum ersten Mal ›Der Sturm‹ aus der Wilhelm Tell Ouvertüre in einem Fernsehkartoon hörte. Und beim Autofahren während meiner Oberschulzeit, als Songs wie ›There Goes My Baby‹ im Radio liefen und als ich in der fünften meinen ersten Plattenspieler bekam und zum ersten Mal Sachen hörte wie John Coltrane und Charlie Mingus’ The Black Saint and the Sinner Lady und die Stones und Feedback und Trout Mask Replica. All das waren Meilensteine. Jeder einzelne briet mein Gehirn nur noch mehr, besonders die Erfahrung, die ersten Male ein Album zu hören, das so absolut, so Gehirn verdrehend war, dass man ehrlich sagen konnte, danach nicht mehr derselbe zu sein. Black Saint and the Sinner Lady hat das bei mir ausgelöst, und noch ein paar andere Alben. Es gibt Erlebnisse, an die man sich sein ganzes Leben lang erinnert, wie der erste richtige Orgasmus. Und der ganze Sinn dieser absurden, mechanischen Beschäftigung mit aufgenommener Musik ist das Streben nach diesem unbezahlbaren Moment. Es ist also nicht so, dass Musik den Verstand aus den Angeln hebt, sondern eher so: wenn einen schon irgendetwas die