Psychotische Reaktionen und heiße Luft. Lester Bangs

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Название Psychotische Reaktionen und heiße Luft
Автор произведения Lester Bangs
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783862870028



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phantasieren. Ich male mir dann aus, dass sie weniger an die Lobpreisungen und das Bedauern denken, das ihrem vorzeitigen Ableben folgen würde, als ihre Waisen beklagen: all die flüchtigen Sätze, Seiten, Stücke, all die aufbewahrten Dinge, sogar nach einem obskuren System abgelegt, das kein anderer je verstehen würde. Wenn ich meine eigene Ablage betrachte, die zweifelsohne weitaus besser organisiert ist, als Lesters jemals war, erschaudere ich bei dem Gedanken an all die unkorrigierten Rezensionen, vergrabenen Malapropismen und Fehler, die dort auf jemanden warten, der versuchen könnte, etwas aus ihnen zu machen. Lester muss dieselben Gedanken gehabt haben, und all das, was ich getan habe, ist etwas anderes als das, was er getan hätte, hätte er gewusst, dass er am 30. April 1982 sterben würde.

      Was ich getan habe, ist der Versuch, die Arbeit zu finden, die sofort für sich allein steht und eine Geschichte erzählt. Man kann dieses Buch als Anthologie lesen, hin- und her- und dann wieder zurückspringen, aber für mich ist es eine Geschichte. Die Geschichte von dem Versuch eines Mannes, seinem Hass auf die Welt und seiner Liebe zu ihr gegenüber zu treten und einen Sinn in dem zu finden, was er in der Welt und in sich selbst entdeckte. Dass diese Geschichte abgeschnitten wurde, schmälert sie nicht; macht sie nicht zu einer verarmten Fabel. Dass die Geschichte abgeschnitten wurde, bedeutet, dass sie schmerzhaft ist. Während ich mich durch die geschriebenen Worte meines Freundes arbeitete, war ich so von dem Leben in dieser Arbeit gefangen, dass sein Tod für mich gar nicht real war. Während ich mich dem Ende des Buchs näherte, Formulierungen drehte und wendete und bei der Wahl zwischen dem einen oder anderen Stück schwankte, war das Bedürfnis ihn anzurufen und um Rat zu bitten, physisch. In diesen Momenten war er weniger tot als jemals zuvor und zugleich doch viel mehr, als er je sein wird.

      Berkeley, 7. Juni 1986

      Teil Eins

      Zwei Testamente

      Psychotische Reaktionen und heiße Luft

      Eine Geschichte unserer Zeit (1971)

      Astral Weeks (1979)

      Psychotische

      Reaktionen

      und heiße Luft

      Eine Geschichte unserer Zeit

      »Kommt her, meine flachsköpfigen Enkelkinder, und lasst euch von mir altem Knaben auf den Knien wiegen. Solange ihr mich noch erkennt, ihr kleinen Verrückten. Ihr wisst, die Glocke hat geschlagen, es ist an der Zeit. So verfällt mein altes Hirn ins Grübeln, ah, welche erbauliche Geschichte aus vergangenen Zeiten soll ich heute erzählen?«

      »Was sollte eigentlich die ganze Aufregung um die Yardbirds?«

      »Ah, die Yardbirds. Genau. In der Tat, das waren Zeiten. 1965, ich war ein ungestümer junger Draufgänger, gerade zum ersten Mal verliebt, und sie schob fortwährend meine Hand weg und rümpfte die Nase: ›Ich würde gerne, aber ich bin doch kein Flittchen.‹ Die Mädchen waren tatsächlich so zu meiner Zeit ...«

      »Ach, hör mit dem senilen Gewäsch auf und mach mit deiner Scheiß Altertumsforschung weiter oder wir hüpfen dir vom Knie und machen Action! Alter!«

      »Schon gut, Kinder, schon gut, bleibt nur bei mir, kein Grund zur Aufregung ... also, wie ich schon sagte, wir schrieben das glorreiche Jahr 1965 und ich verzehrte mich nach Klängen, die mein Gehirn ein wenig verzerren würden. Versteht ihr, es passierte nicht viel außer vielleicht ›I’m Henry VIII, I am‹ – nein, ich will das nicht ausführen, ich weiß, es klingt gut, aber glaubt mir ... wir steckten mitten in einer musikalischen Rezession, die damals, als es noch keine Pauschalreisen zwischen den Sonnensystemen gab, von Zeit zu Zeit einfach auftrat ... ich kann mich noch an einen weiteren äußerst traurigen Durchhänger erinnern, der bis weit in die Anfänge der Siebziger anhielt ... außer, dass dieser so lange dauerte, dass wir verdammt kurz davor waren, völlig auszutrocknen und Platten komplett zu boykottieren, bis Barky Dildo and the Bozo Huns auftauchten, um unsere Seelen zu retten ...«

      »Oh Mann, wie konntest du nur auf die Typen abfahren? Das war der reaktionärste, verkackteste Trend der ganzen Geschichte. Was ist denn so toll daran, Geige wie eine Kreissäge zu spielen und den Katzendarm hektisch kläffen zu lassen? Jammen ist klasse, aber diese Typen haben sogar im Viervierteltakt gespielt und Tonarten gewechselt! Deswegen fragen wir dich, Opa, was für eine Scheiße ist das denn?«

      »Schon gut, schon gut, ich weiß, ich schweife schon wieder ab. Ab jetzt halte ich mich ausschließlich an die nackten Tatsachen, und wenn einer von euch neunmalklugen Zwergen mich noch einmal unterbricht, klebe ich einem von euch den Mund zu.«

      »Wem denn?«

      »Zufallsprinzip, ihr Sprösse meiner Lenden, zufällig wie alles andere auch in dieser Scheiß Irrenanstalt von Welt, die ihr Typen da habt, und von der ich mich bald in Dankbarkeit verabschieden werde.«

      »Na gut, dann schramm dir doch die Fingerknöchel auf, damit du sie wieder in warmes Bier tauchen kannst, aber sag nicht, wir hätten dich nicht gewarnt. Du solltest wissen, dass du der einzige alte Sack hier bist, dessen Schrott sich Skewey, Ruey und Blooie überhaupt anhören ... und was soll diese Verabschiedungsscheiße überhaupt? Wer ist denn schon dankbar dafür, tot zu sein?«

      »Nun, tatsächlich gab es mal eine Zeit, wo eine Menge Betrogener das waren, aber das ist eine andere Geschichte. Ich beschränke mich jetzt auf die Yardbirds-Saga, anderenfalls schweifen wir noch in die Ozonschicht ab. Also hört jetzt zu und hört gut zu und wartet mit euren Fragen bis ich fertig bin.

      Wie ich bereits sagte, waren die Yardbirds einfach unglaublich. Sie kamen angestürmt und schmissen alle und jeden ganz entspannt aus der Spur. Sie waren einfach so verdammt gut, dass die Leute sie noch ein Jahrzehnt später imitierten und, wie ich hinzufügen möchte, reich dabei wurden, weil die Originalbesetzung der Genies nicht so lange zusammen geblieben war. Natürlich war keines ihrer Stiefkinder auch nur halb so genial, und im Laufe der Zeit wurden sie immer gekünstelter und gestelzter, bis 1973 eine Horde von abgemagerten Fatzkes namens Led Zeppelin ihr Abschlusskonzert gab und der Leadgitarrist von einem wütenden Strychninfreak aus dem Publikum mit einer selbst gebastelten Waffe ermordet wurde, und das in der achtundfünfzigsten Minute seines virtuosen, weltberühmten zweieinhalbstündigen Solos auf einem Basston. Dann haben sie sich den Leadsänger gegriffen, der so dermaßen auf Stechapfel war, dass er praktisch nichts mehr tun konnte, außer »Gleep gleep gug jargaroona fizzlefuck«-artige Texte zu keuchen, und ihm die Haare abgeschnitten, seine Mundharmonika zertreten, ihm bürgerliche Kleidung verpasst (ich glaube, es handelte sich um ein Paar übergroße lebenslängliche Ganzkörperkettenjeans) und ihn als Frachtgut aus der Stadt geschafft. Das letzte, was man von ihm gehört hat, war, dass er versuchte vor ein paar sentimentalen alten Kiffern »Whole Lotta Love« in irgendeinem Klub in Posemuckel zu singen. Zum Umfallen rührselig.

      Aber wisst ihr, obwohl die Yardbirds alles auf den Kopf stellten, haben sie nur ein paar Jahre existiert. Und einige der Trittbrettfahrer, die sie hatten! Mann, es hat mich schon geekelt, die Platten nur anzusehen! Als sie beispielsweise ›I’m a Man‹ rausgebracht und die Top Ten gestürmt haben, mit einer Mischung aus Bo Diddley (ah, das war der alte fette Kater, der mit diesem berühmten Shuffle Beat groß rauskam ... Ich glaube, der war schon wieder passé, bevor ihr geboren wurdet. Tja, als also das Konzept eines regelmäßigen Bassrhythmus komplett verschrottet wurde, wart ihr immer noch zu jung, um euch an den kulturellen Bürgerkrieg zu erinnern, der dann losbrach, als Jagger auf offener Straße Zagnose in einen Hinterhalt lockte und Beefheart in die Berge von Costa Rica abzischte, um sich dort zu verstecken, bis sich die Stimmung etwas abgekühlt hatte ...) und Feedback, sind allen die Wattebäusche aus den Ohren geflogen, bevor sie tot umfielen, weil dieses ganze verzerrte Elektrozeug, das euch in den Schlaf geschaukelt hat, als ihr noch in der Wiege gelegen habt, damals noch nicht gehört wurde, ein echtes Gehirnbeben. Manche Leute fanden das leicht anstößig, wie der blanke Nerv in einem Draht, der sie wie verrückt anblinkt, aber wir steilen Senkrechtstarter sind von Anfang an tierisch auf diese kulturelle Veränderung abgegangen. Wir haben nur auf jemanden gewartet, der vorbeikommt und die Weicheier platt macht, kick out the jams ... ach, diese Phrase! Tja, das ist auch so eine Geschichte. Hat einen netten messerwetzenden Klang. Ihr werdet bestimmt wieder lachen, aber wir hatten einen ziemlich kritischen Sprachstil, als ich noch