Psychotische Reaktionen und heiße Luft. Lester Bangs

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Название Psychotische Reaktionen und heiße Luft
Автор произведения Lester Bangs
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783862870028



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das Gefühl hauptsächlich dem Streben danach –, aber es bleibt auch immer die Wahrnehmung: WAS, wenn er das WORT ERGRIFFE; es gibt Zeiten, da scheint das WORT ganz in der Nähe zu schweben. Und dann gibt es Zeiten, wo wir merken, dass das WORT direkt neben uns war, dass die profansten, über Gebühr beanspruchten Phrasen transformiert werden: Nehmen wir »love« aus »Madame George.« Aus der relativen Stille heraus das WORT: »Snow in San Anselmo«. »Darauf läuft es hinaus«, will Van sagen, und das meint er auch (sind seine Interviews nicht faszinierend?) Was er nicht sagt ist, dass er in dieser Schneeflocke ist, isoliert durch den Song »And it’s almost Independence Day«.

      Ihr fragt euch jetzt wahrscheinlich, wann ich endlich auf den Punkt komme und über Astral Weeks spreche. Es gibt in der Tat jede Menge Astral Weeks, über die ich nichts erzählen möchte, und zwar weil es, unabhängig davon, ob ihr es gehört habt oder nicht, nicht fair wäre, euch meine, von lapidarer subjektiver Metaphorik geprägte Interpretation aufzudrängen, und weil ich in vielen Fällen auch gar nicht weiß, wovon er spricht. Er aber auch nicht: »Es überrascht mich nicht, dass die Leute meine Songs unterschiedlich interpretieren«, sagte er einem Interviewer des Rolling Stone. »Ich möchte nicht den Eindruck vermitteln, ich wüsste, was das alles bedeutet, dem ist nämlich nicht so ... Es gibt Zeiten, in denen ich selbst vor einem Rätsel stehe. Ich sehe mir an, was ich gemacht habe, und, ja, da ist es eben und es fühlt sich gut an, aber ich kann nicht mit Sicherheit sagen, was es bedeutet.«

      There you go

      Starin’ with a look of avarice

      Talkin’ to Huddie Ledbetter

      Showin’ pictures on the walls

      And whisperin’ in the halls

      And pointin’ a finger at me

      Ich habe nicht die leiseste Ahnung, was das »bedeutet«, obwohl ich mich auf eine Art annähern möchte, die so indirekt und ausweichend wie der Text selbst ist. Weil man sowieso Schwierigkeiten bekommt, wenn man sich vornimmt, genau zu erklären, was ein mystisches Dokument, denn nichts anderes ist Astral Weeks, bedeutet. Es bedeutet zum einen, dass Richard Davis Bass spielt, was die Songs und die Texte mit einer Lyrik bereichert, die mehr sind als nur großartiges musikalisches Können: sein Spiel ist mehr als inspiriert, es hat ihn etwas berührt, etwas aus dem Reich der Wunder. Das ganze Ensemble ist so, die Streichersektionen von Larry Fallon, die Gitarre von Jay Berliner (er spielte auch bei Mingus’ Black Saint and the Sinner Lady), Connie Kays Schlagzeug. Van und sie klingen so, als würden sie die Gedanken des anderen nicht nur lesen, sondern in ihnen schwelgen. Die Tatsachen mögen ganz anders aussehen. John Cale machte zur gleichen Zeit in einem angrenzenden Studio ein Soloalbum und er sagte, dass »Morrison mit niemandem arbeiten konnte. Also ließen sie ihn schließlich allein im Studio. Er spielte alle Stücke mit einer akustischen Gitarre ein und später spielten sie den Rest auf anderen Tonspuren dazu.«

      Cales Geschichte mag stimmen oder nicht, aber die Fakten sind hier ohnehin nicht allzu hilfreich. Fakt: Van Morrison war zweiundzwanzig oder dreiundzwanzig Jahre alt, als er diese Platte aufnahm; das ist Lebzeiten her. Astral Weeks hat nichts mit Fakten, sondern mit Wahrheiten zu tun. Sofern sich Astral Weeks überhaupt kategorisieren lässt, handelt es sich um eine Platte über Menschen, die vom Leben zugedröhnt sind, vollständig überwältigt, eingezwängt in ihrer Haut, ihrem Alter, ihrem Selbst, gelähmt von dem ungeheuren Ausmaß dessen, was sie in einem Moment der Vision begreifen können. Eine kostbare und eine furchtbare Gabe zugleich, geboren aus einer grausamen Wahrheit, denn was sie sehen, ist von unendlicher Schönheit und zugleich unendlich entsetzlich: die unbegrenzte menschliche Fähigkeit, je nach Laune zu erschaffen oder zu zerstören. Es hat weder etwas mit fernöstlicher Mystik noch mit psychedelischer Vision jenseits des Smaragds zu tun noch mit der Baudelaireschen Wahrnehmung der Schönheit des Abschaums oder der Groteske. Worauf es hinausläuft, ist vielleicht für einen Augenblick das Wissen um das Wunder des Lebens, mit seiner unvermeidlichen Begleiterscheinung, ein kurzer, Schwindel erregender Blick auf das Ausmaß der möglichen zu erleidenden Verletzungen und auf das Ausmaß der Verletzungen, die man zufügt.

      Eingeklemmt zwischen Verzückung und Seelenqual, fragt man sich, ob es sich nicht um dasselbe handeln könnte oder ob die beiden nicht in enger Beziehung zueinander stehen. In »T.B. Sheets«, seiner letzten, dieser Platte vorangegangenen Erzählung, sah Van Morrison ein Mädchen, das er liebte, an Tuberkulose sterben. Der Song war klaustrophobisch, erstickend, übermächtige »innuendos, inadequacies, foreign bodies«.

      Viele Leute konnten nichts damit anfangen, Greil Marcus hat es als Schrott bezeichnet, aber ich glaube, es hat bei ihm einen Nerv getroffen. Wie dem auch sei, der Punkt ist, dass gewisse Teile von Astral Weeks wie »Madame George« und »Cyprus Avenue« den Schmerz in »T.B. Sheets« aufgreifen und die Welt darin versenken. Denn der Schmerz, eine geliebte Person an einer grausamen Krankheit sterben zu sehen, mag schrecklich sein, aber er ist zumindest verstehbar, auf gewisse Weise messbar, und er führt irgendwo hin, denn es gibt einen Prozess: Krankheit, Verfall, Tod, Trauer, emotionale Besserung. Aber der schaurig-schöne Horror von »Madame George« und »Cyprus Avenue« besteht genau darin, dass die Leute in diesen Songs nicht sterben, wir sehen das Leben in voller Blüte und das Leiden dieser Menschen, das ist keine Krankheit, sondern ihre Natur, es sei denn, Natur ist eine Krankheit.

      Ein Mann sitzt im Auto auf einer mit Bäumen gesäumten Straße und beobachtet, rettungslos verliebt, wie ein vierzehnjähriges Mädchen von der Schule nach Hause läuft. Ich habe mich mit Freunden schon fast geprügelt, weil ich darauf beharre, dass sich viele der frühen Werke Van Morrisons mit dem sich geradezu zwanghaft wiederholendem Thema der Pädophilie beschäftigen. Hier haben wir etwas, das unmittelbar und genau dies ist und doch weit darüber hinausgeht. Er liebt sie. Deswegen ist er hilflos. Zitternd. Paralysiert. Rasend. Hoffnungslos. Die Natur macht sich über ihn lustig. So wie sich nur die Natur über die Natur lustig machen kann. Oder ist Liebe in erster Linie natürlich? Egal. Am Ende des Songs erreicht er eine Art halluzinogene Ekstase; die Musik schmerzt und schmachtet in den letzten Zügen. Das ist der höchste Schmerz, zum Zuschauer verdammt zu sein. Und vielleicht gar nicht so weit weg von »T.B. Sheets«, außer dass es romantisch irgendwie einfacher ist, da zu sitzen und zuzusehen, wie jemand, den man liebt, stirbt, als jemanden in der Blüte seiner Jugend und Gesundheit zu sehen und zu wissen, dass man ihn nie nie haben kann, dass man noch nicht mal mit ihm reden kann.

      »Madame George« ist der Strudel des Albums. Wahrscheinlich eines der einfühlsamsten Musikstücke, die je gemacht wurden, es bittet uns – nein, arrangiert es –, das Elend einer, wenn ich es ganz brutal ausdrücke, liebeskranken Drag Queen mit so intensivem Gefühl zu sehen, dass wir, wenn der Sänger sie verletzt, dasselbe tun. (Morrison hat in einem Interview immerhin gesagt, dass der Song nichts mit einem Transvestiten zu tun hat, zumindest seines Wissens nicht, wie er schnell hinzufügte, aber das ist Schwachsinn.) Die Schönheit, Sensibilität, Heiligkeit des Songs liegt darin, dass ihm nichts Sensationslüsternes, Ausbeuterisches oder Geschmackloses anhaftet; so gesehen hat Van Recht, wenn er behauptet, der Song handle nicht von einer Drag Queen, genau wie meine Freunde bei der Pädophilie Recht hatten, nicht ich: er handelt von einer Person, wie alle großartigen Songs, wie alle große Literatur.

      Der Schauplatz ist derselbe wie im vorangegangenen Stück, »Cyprus Avenue«, offensichtlich ein Ort, wo Leute sich gehen lassen, von Sehnsucht in selbstzerstörerische, blicklose Konfrontation mit ihrem Schicksal getrieben. Ein Elementarplatz gnadenlosen Urteils – Wind und Regen spielen in beiden Songs eine Rolle. Interessanterweise ist es auch ein Ort des noch grausameren Urteils der Kinder über Erwachsene, in beiden Fällen Objekte der Liebe, die ihren erwachsenen Möchtegern-Liebhabern absolut indifferent gegenüber stehen. Die kleinen Jungs von Madame George sind geradezu verächtlich – wie die Straßenkinder in Tennessee Williams’ Plötzlich letzten Sommer, die schließlich den homosexuellen Cousin in einem kannibalistischen Akt töten –, sie sind nur zu gerne dabei, wenn es Musik, Partys, Drinks und Hasch umsonst gibt, und spucken allzu schadenfroh auf Georges Zuneigung, wenn der Stoff ausgeht und der alles begrabende Winter nicht nur mit Wind und Regen, sondern mit Graupel, Hagel und Schnee Einzug hält.

      Am merkwürdigsten erscheint jedoch, dass genau jene Charakteristika – Alter, Trunksucht, die Jungs, die sein Geld nehmen und seine Liebe wegwerfen –, die George so erbärmlich wirken lassen, etwas im Herzen des Jungen anrühren,