Название | Für immer mein |
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Автор произведения | Joe Schlosser |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783862871049 |
„Aber nicht ohne die Fahne!“ lallte Ayse ziemlich laut und bestellte an der Theke noch zwei Irish Flag, ein Teufelszeug aus verschiedenen Likören in den irischen Nationalfarben. Sie kippten den Schnaps hinunter, und Mechthild wusste, dass der morgige Sonntag mit Kopfschmerzen beginnen würde. Aber das war jetzt egal. Sie war schon lange nicht mehr so ausgelassen gewesen und war glücklich, mit Ayse auch eine Freundin für solche Gelegenheiten zu haben. Auch die Chefin der Mordkommission brauchte mal etwas Ablenkung. Vielleicht mehr als alle anderen.
Kichernd schlenderten sie den Ostertorsteinweg entlang und erreichten die Sielwallkreuzung, wo sie sich trennten.
Ayse wohnte in der Verlängerung des Ostertorsteinwegs im Steintor über einer Kneipe. Sie hatte es nicht weit, und Mechthild brauchte sich keine Sorgen um den sicheren Heimweg ihrer Freundin und Kollegin machen. Überfälle auf Frauen waren im Viertel die Ausnahme. Dazu war hier einfach zu viel los. Auch morgens um vier oder fünf Uhr waren hier am Wochenende noch wahre Menschenmassen unterwegs. Und Leute, die sich notfalls, vielleicht auch aus weniger edlen Motiven, hilfreich einmischten, gab es hier genug. Ayse lebte gerne hier. Sie war jung und brauchte ein lebhaftes Viertel mit Kneipen und Geschäften um sich herum. Trotzdem suchte sie eine neue Wohnung. Sie hatte nicht bedacht, dass in der Kneipe genau unter ihrem Schlafzimmer ein Flipper stand und seine Spielgeräusche ihr nachts den Schlaf rauben würden. Es war allerdings nicht so leicht, etwas Neues zu finden. Wohnungen im Viertel wurden selten inseriert. Hier bekam man eine neue Bude durch Verbindungen. Der sicherste Weg war, in bestimmten Kneipen von seinem Wohnungswunsch und seinem geregelten Einkommen zu tratschen, und das möglichst flächendeckend und immer darauf bedacht, dass man Anhaltspunkte hinterließ, wie man denn gefunden werden könnte. Gegenüber Bullen gab es traditionell immer noch Vorbehalte, falls man nicht einen passenden, politischen Hintergrund hatte. Aber welcher Bulle hatte den schon. Und sie war dafür sowieso zu jung. Trotzdem hatte sie keine Lust, irgendeinem Makler ihr Geld in den Rachen zu stopfen, um in einen der Neubauten zu ziehen, die ausschließlich für die neue Schickeria gebaut wurden.
Als Mechthild an ihrem Haus ankam, merkte sie, wie betrunken sie war. Die irische Flagge ließ grüßen. Der Schlüssel wollte einfach nicht so recht ins Schloss der Haustür, und sie fluchte leise vor sich hin. Aber dann klappte es doch. Im Gehen streifte sie auf dem Flur ihre Kleider ab und legte sich ins Bett. Zähneputzen fiel heute aus. Bevor sie das Licht löschte, warf sie schnell noch einen Blick auf das Photo ihrer Tochter auf dem Nachtschrank. Das Photo zeigte ihre Anna, als sie ein Jahr alt war. Vier Jahre hatte sie sie schon nicht mehr gesehen. Traurigkeit stieg in Mechthild auf, aber das wollte sie jetzt nicht. Bloß keinen Depri kriegen. Nicht, wenn sie etwas getrunken hatte. Sie kippte den Rahmen mit dem Bild nach unten auf den Nachtschrank, murmelte „scheiß Alkohol“ und schlief glücklicherweise gleich ein.
Benjamin wachte ziemlich benommen auf. Er kannte das schon. Die Schlaftabletten waren viel zu stark für ihn, und er hätte sicher auch ohne sie gut schlafen können.
Er hatte Kopfschmerzen, und ihm war schwindelig. Für einen kurzen Moment glaubte er sich daran zu erinnern, Berta in der Nacht aus seinem Bett schlüpfen gesehen zu haben. Aber dieser Gedanke verflüchtigte sich schnell. Ein Traum. Er war immer noch nicht richtig wach. Er drehte sich um und schüttelte die Bettdecke mit seinen Beinen auf. Kühlere Luft drang an seinen Körper, und er versuchte noch einmal einzuschlafen, in der Hoffnung, dass er später mit einem klareren Kopf aufwachen könnte. Aber es ging nicht. Er setzte sich auf die Bettkante und vergrub das Gesicht in seinen Händen. Er kam sich vor, als wenn er über Nacht Schwerstarbeit geleistet hätte. Er drückte sich von der Bettkante hoch und schlurfte in sein kleines Badezimmer. Als er zum Pinkeln auf dem Klo saß, stellte er fest, dass er seine Schlafanzughose falsch herum anhatte. „Scheiß Tabletten“, sagte er leise zu sich selbst.
Mechthild Kayser war es nicht gewohnt, lange zu schlafen. Genauso wenig war sie daran gewöhnt, zu viel Alkohol zu trinken. Trotzdem war es in den vergangenen Jahren immer mal wieder vorgekommen. Jetzt rächte es sich zum wiederholten Mal, dass sie zu wenig Rücksicht auf sich nahm.
„Wider des besseren Wissens“, stöhnte sie und hielt sich ihren Kopf. Einige Stunden mehr Schlaf hätten ihren Kater sicherlich erträglicher gemacht. Aber es war nun mal so, wie es war. Sie quälte sich aus dem Bett, mischte sich in der Küche einen Aspirincocktail und hoffte auf Besserung. Der Morgen war kühl. Es war eben doch noch nicht Sommer. Sie zog sich einen Bademantel über und setzte sich in einen Sessel auf ihrem Balkon. Für einen kurzen Moment konnte sie sich daran erfreuen, dass sie ihn gestern für den Frühling hergerichtet hatte. Aber dann drückten sie ihre Kopfschmerzen in eine dumpfe Lethargie, und sie starrte teilnahmslos und das Ende ihrer Leiden erwartend einfach geradeaus auf die Rückfronten der an ihren Garten angrenzenden Häuser.
Das Viertel war noch nicht am Erwachen. Aus den verqualmten Kneipen drangen nach und nach die letzten Zecher der Nacht, erschrocken über die ihnen vorwurfsvoll entgegenschlagende Helligkeit. Vor dem Bistro Brasil hatte es eine Schlägerei gegeben. Wie Mechthild später den hausinternen Mitteilungen der Polizei entnehmen konnte, hatte ein zugekokster Postbeamter in seinem vermeintlichen Allmachtsrausch grundlos versucht, einen ehemaligen Anti-AKW-Kämpfer mit einem Tritt in die Genitalien niederzustrecken. Aber der kampferfahrene, heutige Soziologe konnte noch immer so einiges wegstecken, und der Postbeamte erlebte das, was Jahre vor ihm schon einige Polizisten erleben mussten und ihnen den Glauben an ihre Ausbildung in Selbstverteidigung genommen hatte.
Gegen Mittag und ziemlich durchgefroren noch immer im Sessel auf dem Balkon konnte Mechthild endlich wieder Entscheidungen treffen und ging duschen. Sie merkte, dass das Haarewaschen eigentlich noch ihre Kräfte überstieg, aber sie konnte sich zusammenreißen und war nachher froh, dass sie es zustande gebracht hatte.
Sie verließ das Haus und zerrte ihr Fahrrad durch die Pforte ihres Vorgartens. Dabei stellte sie sich recht ungeschickt an und blieb mehrmals mit den Pedalen irgendwo hängen. Wenn sie dabei einer gesehen hätte, würde der gleich bemerkt haben, dass sie gestern gezecht hatte, dachte sie bei sich. Aber sie schaffte es, glaubhaft elegant auf den Sattel zu kommen und fuhr eindeutig gerade los.
Die frische Luft tat ihr gut. Sie erreichte den Osterdeich und fuhr entlang der Weser bis zum Weserwehr. Einer in Beton neugebauten Weserquerung, die die frühere in das ehemalige Wasserkraftwerk integrierte Überführung ersetzt hatte. Auf der anderen Seite des Flusses musste sie sich entscheiden: große Runde oder lieber die kleine. Da sie heute ihren Kräften nicht so traute, entschied sie sich für den kürzeren Weg der Erholung und radelte Richtung Werdersee. Der auf dieser Weserseite gelegene künstliche See galt als Naherholungsgebiet und war zur Weser hin von unzähligen Kleingartenvereinen mit ihren Parzellen begrenzt. Am anderen Ufer stieg steil ein Deich empor, der sich schützend vor das dahinter befindliche Wohngebiet, die Neustadt, legte.
In der Stadt gab es ein ungeschriebenes Gesetz: Wer auf der einen Weserseite geboren war, zog niemals auf die andere. Nur sogenannte Zugezogene wechselten die Seiten. Woher diese Regel kam, wusste Mechthild nicht. Sie wusste nur, dass zu Zeiten der Räterepublik nach dem Ersten Weltkrieg die freiheitsliebenden Räteverbände von der Neustadtseite aus angegriffen wurden und an der alten Weserbrücke in Höhe der Altstadt erbitterten Widerstand leisteten. Vielleicht war das ein Grund. Vielleicht war diese Regel aber auch schon früher entstanden, und die Geschichte bewies damals nur einmal mehr, dass der anderen Weserseite nicht zu trauen war.
Oben auf dem Deich fuhr Mechthild an den Gebäuden der Bereitschaftspolizei vorbei. Hier hatte sie einmal ihre kriminalpolizeiliche Laufbahn begonnen, zu einer Zeit, als es für Frauen noch nicht möglich war, in den uniformierten Polizeidienst einzutreten. Damals war es noch etwas Besonderes, bei der Kripo zu sein. Auch sie fiel auf die von oben vermittelte Klassentrennung zwischen uniformierten Polizisten und den „Kriminalisten“ herein und stolzierte mit den verordneten Würden herum. In der täglichen Arbeit hatte ihr das später allerdings nicht geholfen. Schon früh bemerkte sie, dass eine Trennung der Dienste in der Polizei nicht hilfreich, sondern hinderlich war. Ein elender Konkurrenzkampf zwischen den Sparten wurde so entfacht. Auch viele sogenannte Kriminalisten gaben ihrer Eitelkeit nach und pflegten ihr Image der wahren Verbrechensbekämpfer auf Kosten ihrer