Für immer mein. Joe Schlosser

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Название Für immer mein
Автор произведения Joe Schlosser
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783862871049



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zu tätigen.

      Mechthild Kayser entschied sich für einen sonnigen Platz vor dem Piano, neben dem Litfass einer der ältesten Szenekneipen des Viertels. Die freundliche Bedienung brachte ihr den Cappuccino, und nun sah sie zwischen kleinen Schlucken auf das gegenüberliegende Italo-Eiscafé, an dessen Fenster für den Außerhausverkauf sich schon eine kleine Schlange gebildet hatte. Sie streckte ihre Arme nach oben und reckte sich. Als sie sich wieder nach vorne beugte, musste sie sich eingestehen, dass der Winter ihr ein paar Pfunde zuviel am Bauch beschert hatte. Obwohl ihr ein über die Terrasse schweifender Blick verriet, dass es anderen nicht besser ergangen war, beschloss sie dennoch, wieder häufiger für Bewegung zu sorgen und ihre Figur wieder auf Vorderfrau zu bringen.

      Ein wenig hatte sie ein schlechtes Gewissen, dass sie ihr Mobiltelephon zu Hause gelassen hatte, denn als Leiterin der Bremer Mordkommission sollte sie eigentlich immer erreichbar sein. Sie dachte an ihre Kollegen des Kriminaldauerdienstes, die bei diesem Wetter in ihrer stickigen Einsatzzentrale hockten und nach Mitteln und Wegen suchten, wegen irgendeines Falles das Büro verlassen zu können. Aber dieser Gedanke verflog schnell wieder. Sie hatte dieses Wochenende frei und wollte es genießen. Bloß nicht an den Job denken. Sie wollte ein paar Pläne schmieden und sich überlegen, was sie unternehmen könnte. Ein Kinobesuch schien eine gute Möglichkeit zu sein, einem langweiligen Fernsehabend zu entkommen. Cinema und Schauburg lagen beide im Viertel und hatten als alternative Kinostätten immer etwas Interessantes zu bieten. Und bis zum Abend könnte sie ihre Balkonterrasse aufräumen und für den bevorstehenden Sommer herrichten. Das waren gute Ideen. Sie legte Geld auf den Tisch und machte sich auf den Weg nach Hause.

       „Guten Morgen, mein Geburtstagskind!“

      Eine gekünstelt erhobene Stimme drang in den Raum. Er war zwar schon einige Zeit wach, erwartete aber heute an seinem Geburtstag eine besonders hingebungsvolle Weise des Aufweckens. Doch sie blieb aus. Mit einem „Beeil dich!“ war seine Mutter schon wieder aus seinem Zimmer verschwunden. Sie war immer so hektisch, immer in Eile und hatte immer etwas vor. Allerdings nie mit ihm, ihrem Sohn. Er wusste schon, was ihn erwartete, wenn er von der Galerie im ersten Stock der Villa die breite Treppe in die Halle hinunterstieg und dann ins Esszimmer kam.

      An einem Ende des massiven Esstisches für zwölf Personen stand sein Frühstücksgedeck. Wie immer der blaue Becher mit Kakao und eine Brötchenhälfte mit bitterer Orangenmarmelade, eine andere mit einer großen Scheibe Mettwurst. Oder genauer gesagt mit „Salami“, wie seine Mutter ihn bei jeder Gelegenheit verbesserte. Auf der anderen ihm abgewandten Seite des Tisches stapelten sich Geschenke.

      Er fragte sich, warum die Geschenke nicht auf der vorderen, zuerst sichtbaren Seite des Tisches präsentiert wurden. Das ist doch an einem Geburtstag das Wichtigste − und nicht das Frühstück. Aber er erwartete sowieso keine Überraschungen. Seine Mutter vertrat die Ansicht, dass zum Geburtstag Wünsche genau erfüllt werden sollten, und Überraschungen, die am Ende nicht gewollt waren, nur unnütze Geldausgaben seien. So war sie mit ihm vor einer Woche in die Innenstadt von Essen gefahren und hatte alles gekauft, was er sich wünschte und von dem sie meinte, dass es an der Zeit sei, dass er es sich wünschte.

      Langsam und freudige Erwartung vortäuschend, ging er ans andere Ende des Tisches. Seine Mutter stand etwas abseits des Geschehens und lächelte ihm ermunternd zu. Sie war schon jetzt zufrieden mit ihren Geschenken, die sie ausgesucht hatte. Jedem konnte sie bei nächster Gelegenheit voller Stolz aufzählen, was er dieses Jahr alles Wichtiges erhalten hatte.

      Vor seinem Stapel Geschenke brannten auf einem hölzernen Ring zwölf Kerzen, die jeweils eines seiner erreichten Lebensjahre darstellen sollten. Am Rand des Ringes stand in Hellblau „Alles Gute zum Geburtstag“ geschrieben. Wahrscheinlich damit seine Mutter es nicht selber sagen musste. In der Mitte des Kerzenkreises stand eine dickere Kerze, das sogenannte Lebenslicht, wie seine Mutter ihm erklärt hatte. Und wie immer musste er, bevor er seine Geschenke in Augenschein nahm, alle Kerzen ausblasen und sich im Geheimen etwas wünschen. Ihm fiel nichts ein, aber er blies trotzdem. Die Erfahrungen mit den letzten Geburtstagen hatten ihm das Vertrauen in dieses Ritual genommen. Warum er beim Ausblasen auch immer sein Lebenslicht mit auslöschen musste, leuchtete ihm nicht ein. Aber er fragte nicht noch einmal. Im vergangenen Jahr hatte er auch keine Antwort erhalten und musste sich stattdessen von seiner Mutter als dummen Jungen bezeichnen lassen.

      Als der wächserne Duft der erloschenen Kerzen verflogen war, wandte er sich seinen Präsenten zu. Eine Carrera Autorennbahn: die hatte er sich ausgesucht und galt unter seinen Mitschülern als unbedingt erforderlich. Ein echtes Statussymbol. Der Rest der Geschenke stellte die Entscheidungen seiner Mutter dar. Ein neuer Schultornister – den alten hatte er schon versteckt, weil er nicht wollte, dass er weggeworfen wurde –, eine kleine Dampfmaschine mit Geräten, die man an sie anschließen konnte – seine Mutter fand, dass es dafür an der Zeit war, weil sein Vater schließlich eine Fabrik hatte – und dann noch ein einreihiger Kinderanzug aus braunem Stoff mit kurzen Hosen. Dazu zwei Niltestoberhemden und eine schon fertiggebundene, schrecklich gemusterte Krawatte an einem Gummibandverschluss.

      „Wer am gesellschaftlichen Leben teilnehmen will, hat bestimmte Formen einzuhalten!“ hatte seine Mutter ihn mit schriller Stimme ungeduldig angekeift, als er sein Unbehagen über diese Idee äußerte. Und der Verkäufer eines der bekanntesten Herrenausstatter der Stadt konnte das Ansinnen seiner Mutter ungehindert vollenden. Weiterer Widerstand war sinnlos. Er ließ diese Prozedur von Anprobieren, Verwerfen, wieder Anprobieren über sich ergehen und wartete auf das erlösende Signal seiner Mutter, in diesem Fall ein jubelndes „Das ist es!“

      Keines der Geschenke war eingepackt. Wozu auch. Geldverschwendung, meinte seine Mutter. Er wüsste ja sowieso, was er bekommen würde. Trotzdem hätte er gern voll Wonne Geschenkpapier zerrissen und zerknüllt. Benommen stand er nun vor den Geschenken und wusste nicht so recht, was er tun sollte. Er drehte sich langsam um und ging auf seine Mutter zu, drückte sich an sie und bedankte sich. Immer, wenn er die seltene Gelegenheit bekam, mit seiner Mutter körperlich in Kontakt zu treten, hoffte er auf das Wunder, dass ihn endlich das Gefühl ihrer Liebe erreichte. Aber auch diesmal kam bei ihm nichts an.

      „Alles Liebe und Gute zum Geburtstag“, sagte sie schnell und mit dem Tonfall eines Bilanzbuchhalters, der der Gesellschafterversammlung gerade die Notwendigkeit einer Konkursanmeldung mitteilt, und schob ihn schon wieder von sich. Der enge Kontakt mit ihm schien ihr unangenehm zu sein.

      „Bevor du mit Spielen anfängst, wirst du aber erst mal frühstücken!“ Dann eilte sie schon zur Tür. Und mit den Worten „Ich muss zum Frisör. Ich weiß schon gar nicht mehr, wo mir der Sinn steht!“ dabei nervös mit den Armen wedelnd, war sie schon verschwunden.

      Er setzte sich ans andere Ende des Tisches und blickte beim Verzehren des Marmeladenbrötchens auf seine Geschenke.

      Eine Hand streichelte sein Haar, und er hörte hinter sich die Stimme von Berta, der Haushälterin. „Hier, mein Junge. Das ist für dich. Alles Gute zum Geburtstag“, sagte sie mit warmer Stimme. Sie beugte sich zu ihm herunter, küsste ihn zärtlich auf die Wange und reichte ihm ein kleines Paket. Es war in buntes Geschenkpapier mit Mickey-Maus-Figuren eingeschlagen und mit einer dicken, roten Schleife verziert.

      Sein Herz begann zu rasen, und voller Aufregung schob er den Frühstücksteller beiseite, um Platz zu schaffen für das Paket. Langsam und genussvoll entfernte er die angeklebte Schleife und legte sie langsam und kontrolliert, wie ein Oberkellner Bestecke auf dem Tisch platziert, beiseite. Dann löste er vorsichtig die Klebefilmstreifen ab, bemüht, das schöne Papier nicht zu beschädigen, und zog dann einen kleinen Karton aus der halbgeöffneten Verpackung heraus.

      Er konnte seine langsamen Bewegungen beim Öffnen des Kartons kaum aushalten, wollte aber unbedingt den Moment des Erkennens hinauszögern, um weiterfühlen zu können. Der Deckel war nun offen. Vor ihm lag eine kleine Taschenlampe, wie sie Höhlenforscher auf dem Kopf trugen. Sie war aus verchromten Metall und mit einem roten Plastikrand eingefasst. Am Gehäuse waren breite Gummiriemen angebracht, die dazu dienten, die Lampe wie eine Mütze auf dem Kopf zu tragen.

      „Oh danke, Berta!“ rief er aus, sprang von seinem Stuhl hoch und drückte sich an ihren dicken Bauch. Seine in ihre Schürze vertiefte Nase nahm den Geruch von gekochtem Hühnerfleisch wahr, und ein