Название | Für immer mein |
---|---|
Автор произведения | Joe Schlosser |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783862871049 |
Die beiden Frauen schlenderten eingehakt und leichtfüßig den Dobben hinunter und standen nun vor dem Cinema. In einer halben Stunde lief ein Film über ein klarinettespielendes Mädchen, das taubstumme Eltern hatte. Die Problematik des Films gefiel den beiden, und sie kauften Eintrittskarten. Die Zeit bis zum Beginn des Films verbrachten sie im zum Kino gehörenden Café und plauschten mit Carola, der Besitzerin.
Benjamin lag auf seinem Bett und starrte an die Decke.
Das Hühnerfrikassee lag ihm schwer im Magen. Aber das hatte er auch so gewollt, und er fühlte sich wohl damit. Nach der dritten Portion hielt ihn seine Mutter zur Mäßigung an, doch zu diesem Zeitpunkt hatte er sowieso schon genug.
Jetzt auf dem Bett zu liegen und der Verdauung Zeit zu verschaffen, war schon die richtige Entscheidung gewesen. Allerdings war diese Ruhezeit nicht auf seine Völlerei zurückzuführen, sondern auf die unsägliche Anordnung seiner Mutter, dass von Mittag bis drei Uhr nachmittags Ruhe im Hause zu herrschen habe. Er wusste, dass Kleinkinder mittags ihren Schlaf brauchten. Aber er war zwölf Jahre alt, und ihm war klar, so wie es ihm sein Innerstes sagte, dass er jetzt eigentlich draußen toben wollte und müsste. Gleichermaßen war ihm dadurch klargeworden, dass seine Mutter diese Regel aufrechterhielt, um sich nicht mit ihm beschäftigen zu müssen. Er hatte mehrfach Versuche unternommen, sie dafür zu begeistern, mit ihm etwas zu unternehmen. Aber alle Versuche scheiterten. Irgendwann hatte sich ihm erschlossen, dass sie nichts mit ihm anzufangen wusste. Ja sogar, dass er ihr im Wege stand.
Es war ihm leichter gefallen zu akzeptieren, dass sein Vater nicht erreichbar war, da ihn seine Fabrik so beschäftigte, dass er für nichts anderes Zeit hatte. Aber im Urlaub, wenn sich die Fabrik nur beizeiten einmal per Fax oder mit einem Anruf meldete, nahm er sich die Zeit, mit ihm auf Nachtwanderungen zu gehen, Hirsche im Morgengrauen zu beobachten oder einfach nur mit ihm zu schwimmen oder Tennis zu spielen. Dann fühlte er, dass sein Vater ihm verbunden war. Sie kamen sich zwar nicht wirklich nahe, aber er spürte, dass sich sein Vater dies sehr wohl wünschte und wollte − wenn er es aus welchen Gründen auch immer, nicht wirklich zustande brachte. So konzentrierten sich seine Bedürfnisse nach Liebe und körperlichen Kontakt anfangs auf seine Mutter, die ja nicht arbeiten musste und eigentlich immer zu Hause war. Aber sie konnte oder wollte einfach nichts mit ihm anfangen. Wenn er sie berührte, wurde sie steif. Nichts Weiches oder Gemütliches war an ihr.
Je größer er wurde, desto offensichtlicher wehrte sie ihn ab. Sie vermittelte ihm das Gefühl, dass es unanständig war, sich körperlich nahe zu kommen. Aber er ließ nicht locker. Er konnte sich nicht vorstellen, dass seine eigene Mutter ihn nicht wollen würde. Je häufiger sie ihn zurückstieß, desto größer wurden seine Anstrengungen, ihr seine Liebe zu zeigen und ihr zu gefallen. Aber alles blieb ohne Erfolg. Es musste irgendwie auch an ihm liegen.
Also änderte er sein Verhalten und hielt sich von ihr fern. In der Hoffnung, dass dies der Weg zur Liebe seiner Mutter sein könnte, begann er sich schweren Herzens nicht mehr um sie zu kümmern. Es bereitete ihm große Qualen, obwohl es genau das zu sein schien, was sie von ihm erwartete. Aber sie beantwortete sein Verhalten nicht mit der von ihm erwarteten plötzlich aufflammenden Zuneigung, dem Bewusstsein, dass sie Versäumnisse zugelassen hatte, sondern sie genoss die Entfernung.
Irgendwann war sie ihm fremd geworden. Zeitweise empfand er sie wie Besuch im Haus. Das Einzige, was er sicher wusste, war, dass er sie wollte. Er liebte sie, und in seinen Träumen wollte er sie immer um sich haben. Sie sollte ständig für ihn erreichbar sein und nur darauf warten, dass er zu ihr kam, um ihn dann erleichtert in die Arme zu nehmen, weil sie schon dachte, er würde sie verschmähen. Aber sie beschäftigte sich nur mit sich selbst. Das war die schreckliche Wahrheit. Der Erhalt ihrer Schönheit war ihr wichtig. Dafür tat sie alles. Fitness-Studio, Kosmetikerin, Frisör. Immer die elegantesten Klamotten. Sie hatte eine schlanke, tolle Figur, schöne, blonde Haare. Ihre Zähne blitzten, wenn sie ihr hollywoodreifes Lachen in die Welt jagte. Andere Männer beneideten seinen Vater um sie.
Vielleicht steckte ja er hinter all dieser Qual. Vielleicht war er es, der wollte, das alles so ist, wie es war. Dass sie nur schön für ihn, ihn allein sein sollte. Dass sogar sein kleiner Sohn nicht daran teilhaben durfte. Dass sein Vater in seinem eigenen Sohn einen Nebenbuhler ausmachte, den es auszustechen galt. Aber Benjamin wusste, dass er zwar nicht mehr ganz klein, aber doch sicher nie und nimmer ein Mann war. Und er wollte seinem Vater nicht die Frau nehmen, er wollte nur eine richtige Mutter haben.
Sein Glück war Berta. Sie liebte ihn, das wusste er. Und sie kümmerte sich um ihn. Sprach mit ihm, sorgte sich und achtete auf ihn. Manchmal mehr als ihm lieb war. Alles wollte sie wissen. Manchmal quetschte sie ihn geradezu aus, um zu erfahren, mit wem er Umgang hatte, wer seine Freunde in der Schule waren, worüber sie sprachen und welche Pläne er für die Zukunft schmiedete. Manches war aber auch befremdend an ihr. Wenn er zum Vorlesen auf ihrem Schoß saß und sich gemütlich an ihren dicken Busen anlehnte, hielt sie das Märchenbuch nur mit einer Hand. Mit der anderen streichelte sie seinen Oberschenkel. Das war schön. Und aufregend. Sie war so warm. Und sie roch so gut. Aber ihr Streicheln war ihm auch nicht geheuer. Dennoch ließ er es über sich ergehen. Er war sich nicht ganz sicher, ob er sich falsch erinnerte, aber einmal, als er eine kurze Hose trug, dachte er, sie hätte seinen kleinen Schniedel berührt. Aber er wusste es nicht mehr so genau. Er war froh, dass er sich, wenn er es nötig hatte, in ihre Leibesfülle verkriechen konnte. Ohne sie konnte er in diesem Haus nicht überleben.
Der Abend war gekommen, und nachdem er den Nachmittag mit seiner neuen Carrera Autorennbahn verspielt hatte, war es Zeit für das Abendbrot. Im Esszimmer standen ein paar fertig geschmierte Brote für ihn bereit und wie immer ein Glas Milch.
Seine Mutter rannte seit geraumer Zeit aufgeregt durchs Haus. Während er noch vor dem Abendbrot spielte, sah er sie durch die geöffnete Kinderzimmertür zwischen Bade- und Ankleidezimmer in immer anderen Abendkleidern hin- und herrennen. Ab und zu hörte er die Stimme seines Vaters hinter ihr herrufen: „Nimm das blaue, das blaue sieht phantastisch aus!“ Oder kurze Zeit später: „Ja, das rote. Das rote ist es!“ An Vaters Stimme war zu hören, dass ihn das alles mehr als nervte. Dafür liebte Benjamin ihn.
Aber das änderte nichts. Aufgeregt probierte sie immer wieder andere Outfits an. Benjamin kannte diese Ritual. Fast jedes Wochenende wiederholte es sich. Sein Vater hatte ständig gesellschaftliche Verpflichtungen, und seine Mutter liebte sie. Es war Aufschwung in Deutschland, und seine Eltern waren dabei. Man zeigte, was man hatte.
Endlich war der Affentanz vorbei, und er wusste, was jetzt kommen würde. Seine Mutter eilte gehetzt zu ihm an den Tisch im Esszimmer. „Hier nimm! Das wird dir gut tun!“ sagte sie und reichte ihm wie immer, wenn sie am Wochenende ausgingen, diese Tablette.
Sie sah hinreißend aus. Sie trug ein bodenlanges, rotes, mit Pailletten besetztes Kleid mit einem tiefen Ausschnitt. Ihr Busen schien gewachsen zu sein, denn wie nie zuvor wölbte er sich oben über den Saum des Ausschnitts. Benjamin stellte fest, dass sie etwas Glitzerndes auf ihr Dekolleté gepudert hatte. Oh ja, sie war wunderschön.
Er sprang von seinem Stuhl auf und wollte sie in die Arme nehmen. Aber sie ergriff ihn bei den Schultern und hielt ihn sich vom Leib. „Nein, nein! Du machst alles nur kaputt!“ herrschte sie ihn an und drückte ihm die Tablette in den Mund. „Los jetzt. Wir haben keine Zeit mehr. Wir kommen sowieso schon zu spät!“
Widerwillig griff er zu seiner Milch und spülte die Tablette runter. Sie wartete, bis er die Schlaftablette hinuntergeschluckt hatte, und eilte dann aus dem Raum. Benjamin hörte noch seinen Vater etwas Unverständliches rufen, und dann schlug die Haustür zu. Vielleicht hatte er ihm jetzt doch noch zum Geburtstag gratuliert. Und er hatte es nur nicht richtig verstanden.
Abrupt war Stille im Haus.
Er stand regungslos neben dem Esstisch, und ein ungutes Gefühl überkam ihn. Er kannte nicht den Grund, aber immer, wenn seine Eltern auf ihre Partys gingen, war er irgendwie beunruhigt. So als stünde ihm etwas bevor, weil sie ihn im Stich gelassen hatten. Er wusste es nicht genau.
Berta kam ins Esszimmer und mahnte ihn, seine warme Milch auszutrinken. Obwohl sie ihm sonst sehr zugetan war und so manches Mal