Für immer mein. Joe Schlosser

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Название Für immer mein
Автор произведения Joe Schlosser
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783862871049



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Ausländern, vornehmlich Türken, günstigen Wohnraum in der Stadt. Zeitgleich zu den großen gesellschaftlichen Umwälzungen etablierte sich in diesem Stadtteil neben dem hohen Anteil von Ausländern die intellektuelle Elite der sogenannten Roten Kaderschmiede Uni Bremen und bildete die Basis für die subkulturelle Entwicklung eines ganzen Stadtteils. Die kritischen Schülerbewegungen der voruniversitären Zeit trafen für sie gewinnbringend auf das große studentische Potential, das ihren Forderungen Nachdruck verlieh. Und umgekehrt. Demonstrationen und zunehmend gewalttätig verlaufende Auseinandersetzungen mit der Obrigkeit waren die Folge. Die von der Stadt ignorierte Forderung der Jugend nach einem Freizeitheim in ihrem Stadtteil führte zur Besetzung eines leerstehenden Gebäudes im Viertel. Obwohl die Stadt nachgab und eine erhebliche Summe für den Aufbau eines Jugendzentrums den Besetzern zur Verfügung stellte, scheiterte das Projekt. Statt das Geld für die Renovierung des Gebäudes zu nutzen, versoffen und verkifften einige der älteren Besetzer die Kohle. Anschließend, nachdem sich die für das Zentrum kämpfenden Jugendlichen enttäuscht zurückgezogen hatten, kam zwangsläufig die Räumung durch die Polizei.

      Aus der Erfahrung mit dieser Entwicklung wurden klügere Versuche unternommen, kulturelle und politische Zentren zu entwickeln. Spätere Besetzungen führten nach harten Auseinandersetzungen mit Politik und Polizei zu der Etablierung heute nicht mehr wegzudenkender kultureller Einrichtungen, die mittlerweile zum guten Ruf Bremens beitragen und feste Bestandteile des überregionalen Stadtmarketings geworden sind. Die Stadt hatte beizeiten ihre Pläne für die Mozarttrasse aufgegeben und überließ den Stadtteil wieder sich selbst. Die Auseinandersetzungen nahmen ab. Erkämpftes konnte sich etablieren. Die von der Stadt eingangs aufgekauften und mittlerweile maroden Häuser wurden vergleichsweise zu Spottpreisen an die Menschen zurückgegeben. Günstige Modernisierungskredite halfen, sie wiederherzustellen und zu erhalten. Aus so manchem ehemaligen Hausbesetzer wurde ein frischgebackener Hausbesitzer.

      Alternative Lebensformen wurden ausprobiert und wieder verworfen. Einige erinnerten sich noch an die Kommune am Osterdeich und die anlässlich einer Party in einer Badewanne voll Götterspeise sitzende, nackte Schöne. Kunst- und Kulturschaffende fanden in diesem Viertel nicht nur die geistige Freiheit, die sie zum Arbeiten benötigten, sie fanden auch die Räume, die sie brauchten. Mit dem Beginn des Sanierungsstopps war auch das Ende einer Vielzahl kleingewerblicher Betriebe im Stadtteil eingeleitet worden, und leerstehende Werkstätten und kleine Fabrikationshallen wurden einer neuen Nutzung durch Künstler und nach neuen Lebensformen Suchenden zugeführt. Politische Alternativen aus dem Spektrum der Linken und der Ökologiebewegung fanden hier ihr neues, akzeptiertes Zuhause und entwickelten sich zu wahrnehmbaren Instrumenten. Gepaart mit einem großen Maß an Toleranz und dem starken Willen, in einem aktiven Miteinander einen Stadtteil zu gestalten, wurde dieser Teil Bremens zusehends zu einem der politischen und kulturellen Herzen der Stadt. Vorbehalte gegenüber dem Staat und Feindschaft gegenüber den Vertretern der Obrigkeit gehörten hier ebenso zum guten Ton wie die Entwicklung von Hilfsprojekten für die Abhängigen der harten Drogenszene, die hier ebenfalls eine Heimat gefunden hatte.

      In den heißen siebziger und achtziger Jahren eskalierte das Verhältnis zwischen Staat und politisch fortschrittlich Denkenden, und das Viertel wurde zum Unruheherd und Ausgangspunkt vieler immer wieder gewalttätig verlaufender Auseinandersetzungen mit dem Staat und dessen Polizei. Zeitweise war es Streifenwagen der Polizei untersagt, bestimmte Straßen zu durchfahren, in denen in besetzten Häusern schon die Pflastersteine gestapelt auf ihre „Empfänger“ warteten.

      Die vermeidbar größte Provokation erfuhr die linke Szene durch eine Rekrutenvereidigung der Bundeswehr im angrenzenden Fußballstadion an der Weser. Zwei Tage dauerten die Kämpfe zwischen Polizei und den aus der ganzen Republik angereisten Demonstranten. Die Verluste waren auf beiden Seiten hoch. Hunderte von Verletzten waren das Ergebnis. Jahrelang wurde dieser Auseinandersetzung vom 6. Mai 1980 noch durch die Linke mit einer Besetzung der mitten im Viertel gelegenen Sielwallkreuzung gedacht. Jedesmal eskalierte die Situation, und alter Hass wurde neu ausgetragen.

      Mittlerweile hatte sich das Viertel beruhigt. Die Bevölkerungsstruktur hatte sich enorm gewandelt. Aber ein Teil des unruhigen Geistes, der hier einmal herrschte, konnte sich halten. Immer noch gab man sich progressiv, fortschrittlich. Fast die Hälfte der Bevölkerung wählte hier Grün. Linke Gruppen waren hauptsächlich hier präsent. Alternatives fand noch immer ein akzeptierendes Umfeld. Vieles, was einmal am Rande der Gesellschaft entstanden war, hatte sich in den gesellschaftlichen Alltag integriert. Aus ehemaligen Krawallbrüdern waren etablierte Viertelbewohner geworden. Einige prahlten noch damit, wie sie in den wilden Zeiten in den vordersten Reihen der Kämpfer für Freiheit und soziale Gerechtigkeit gestanden hatten. Bei näherer Betrachtung war dem natürlich nicht immer so. Wer dabei war, weiß, wie viel davon wirklich wahr und was der Legendenbildung zuzuschreiben ist. Aber dabei gewesen zu sein, gehörte für viele zum guten Ton. Eine Romantisierung der wilden Zeit hatte sich breitgemacht. Jeder wollte ein bisschen mitgemischt haben, aber niemand würde heute so weit gehen und eingestehen, dass er Steine auf Polizisten geworfen oder Schaufenster demoliert und Auslagen geplündert hatte.

      Diese Quartiersromantik hat in den zurückliegenden Jahren nicht nur mittlerweile finanzstark gewordene Vertreter der ehemaligen Studentenschaft im Viertel belassen, sondern auch viele Pseudo-Linke und angeblich Progressive angelockt, die ein bisschen vom Flair der vergangenen Zeiten an ihre Brust heften und sich mit der Aura des Revolutionären umgeben wollten. In vielen Fällen waren sie spießiger als die eingesessenen Bürgerlichen. Heute gilt es in manchen Kreisen eben als schick, in diesem lebhaften Viertel zu wohnen. Die Preise sind mit die höchsten in der Stadt. Die Nachfrage nach Häusern und Mietwohnungen ist ungebrochen hoch. Die zugezogene Schickeria hat gleich ihre teuren Boutiquen und nobel eingerichteten Bistros mitgebracht. Preiswerte Wohnungen sind so gut wie verschwunden, und ein Investment in Immobilien lohnt sich hier immer noch. Manch einer der klugen Revoluzzer hat rechtzeitig investiert, und Spekulationen dieser Art sind alle aufgegangen. In enger Zusammenarbeit zwischen Stadtteilpolitik und Bevölkerung ist es gelungen, die heruntergekommenen, dunklen Ecken aufzuhellen, Bars, Bordelle und illegales Glücksspiel in Hinterzimmern verrauchter Ganovenkneipen zu verdrängen und die Zahl der Spielhallen und gastronomischen Betriebe zu beschränken.

      Mechthild Kayser ließ sich am Blumenstand gerade einen bunten Strauß mit gefüllten Rosen, ihren Lieblingsblumen, binden, als sie von der Seite angesprochen wurde. „Haste mal nen Euro für’n armen Säufer?“

      Leicht erschrocken über die unerwartete Ansprache, drehte sie sich um und trat dabei einen halben Schritt zur Seite. Mit freundlich lächelndem Gesicht und die geäußerte Bitte mit geöffneten Händen unterstreichend, stand vor ihr ein viertelbekannter Penner, den alle nur den Ein-Euro-Mann nannten. Man sah ihm an, dass er ein weicher Mensch war. Er muss einmal ein wirklich gutaussehender Mann gewesen sein, dachte Mechthild Kayser beim Betrachten seiner Gesichtszüge und kramte in ihrem Portemonnaie nach der erbetenen Münze. Der Ein-Euro-Mann wohnte in einem Verschlag in einer billigen Absteige, in der hauptsächlich Drogenabhängige residierten. Niemand wusste, was ihn einst aus der Bahn geworfen und in den Alkoholismus getrieben hatte. Aber alle wussten, dass er gutmütig und zurückhaltend war. Trotz seines heruntergekommenen Aussehens schien er darauf zu achten, eine bestimmte Stufe des sozialen Abstiegs nicht zu unterschreiten. Nie sah man ihn völlig betrunken und besudelt irgendwo herumliegen. Nie fiel er durch Aggressivität auf. Der Ein-Euro-Mann bedankte sich höflich und schlenderte mit seinem Spruch auf den Lippen zum nächsten Passanten.

      Mechthild Kayser bezahlte und verstaute ihre Rosen in ihrer Umhängetasche. Wohlwissend, dass sie damit die Lebenszeit ihrer Blumen erheblich verkürzen würde, ließ sie die Blüten vorne aus der Tasche in die Welt des Viertels blicken und wünschte, dass sich auch andere an ihrer Farbenpracht erfreuen würden. Das wohlige Gefühl und die fröhlichen Menschen um sie herum ließ in ihr den Wunsch wachsen, sich ebenfalls auf einer der Kneipenterrassen niederzulassen und einen leckeren Cappuccino zu schlürfen. Sie schlenderte weiter die Steintorstraße entlang, kam an einem Café vorbei, das zwar noch Plätze frei hatte, aber für sie nicht in Betracht kam. Es gehörte einer ehemaligen Bremer Unterweltgröße. Als diese Anfang der achtziger Jahre das Haus erwarb, kursierten in der Polizei die verrücktesten Annahmen, was hinter diesem Kauf wohl stecken könnte. Einige gingen sogar davon aus, dass von diesem Haus aus ein unterirdischer Tunnel bis zur nahegelegenen Sparkasse gegraben