Humboldts Innovationen. Группа авторов

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Название Humboldts Innovationen
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Жанр Документальная литература
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Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783940621542



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Internationalisierung elementar. So weitumfassend wie das römische Reich, so international musste auch das Mitarbeiternetzwerk sein. Mommsen guter Name kam ihm zu Hilfe. Er rief, und alle kamen – so bedeutend war sein Name schon. Aus Italien, Frankreich, Spanien, England und vielen anderen Ländern fanden sich Wissenschaftler zur Teilnahme bereit.8

      Für die Geldbeschaffung mussten neue Strategien entwickelt werden, da nicht einmal die Berliner Akademie ein Projekt dieses Ausmaßes stemmen konnte. Bei den notwendigen Verhandlungen mit dem preußischen Staat half es Mommsen, dass er 1857 zunächst auf eine Forschungsprofessur an der Berliner Akademie und 1861 dann auf eine ordentliche Professur an der Friedrich-Wilhelms-Universität berufen worden war, neben Bonn die renommierteste Universität Preußens. Sein Stern als Historiker stieg und stieg, nicht zuletzt wegen seiner 1854-1856 verfassten „Römischen Geschichte“: Im Fokus des Werkes, das sich an ein allgemeines Publikum richtete, steht die späte Republik. Cäsar, das Genie, dient dem Fortschritt, weil er erkennt, dass die Zeit für eine Ablösung der überkommenen Senatsherrschaft reif ist.9 Das Scheitern der 1848er-Revolution wird durch die Glorifizierung Cäsars literarisch kompensiert. Dies alles legte Mommsen dem staunenden Publikum nicht in drögen wissenschaftlichen Reflektionen dar, sondern in einem lebhaften, ja geradezu journalistischen Schreibstil. Das Buch wurde ein großer Publikumserfolg und begründete den Ruhm des Autors. Ausdruck fand dies in der Verleihung des Literaturnobelpreises 1902.

      Das so gewonnene Prestige bei erfolgreichen Verhandlungen mit dem Staat einzusetzen, scheute Mommsen sich nicht. Mittlerweile konnte er es sich sogar leisten, mit einem Weggang zu drohen. Mehr als einmal kam es zu derlei Bleibeverhandlungen, die einzig dem Zweck dienten, die finanzielle Situation des Unternehmens zu verbessern. Neben der direkten finanziellen Unterstützung durch den Staat sorgte Mommsen für weitere Finanzspritzen. Dies galt erst recht, als die Effektivität der Großorganisation offenbar wurde und Mommsen weitere Unternehmungen nach der gleichen Machart aufzog. Zu den neuen Methoden der Geldbeschaffung zählte es beispielsweise, die Reichsadministration zur kompletten Übernahme dieser Wissenschaftsunternehmen zu bewegen. Weiterhin führte aber auch eine deutlich gesteigerte Kooperation in- und ausländischer Akademien zu verbesserter Ressourcenallokation. Unnötige Mehrfacharbeit konnte dadurch effizienter als bislang bekämpft werden.10 Bei Organisation und Geldbeschaffung half es Mommsen, dass er gute Kontakte in das zuständige Ministerium besaß. Zudem war er aber auch Mitglied in unzähligen wissenschaftlichen Kommissionen aller Art und so stets bestens informiert.

      Der erste Band des CIL erschien 1863. Das Inschriftenunternehmen hielt sein Versprechen: Es verbesserte die Kenntnisse der römischen Geschichte in vielerlei Hinsicht. Dieser Wissenszuwachs betraf alle Aspekte des römischen Lebens: politische, militärische, soziale, wirtschaftliche etc. Nichts entging Mommsen und seinen Mitstreitern. Nichts war uninteressant. Alles konnte von Bedeutung sein. Die Bedeutung erwuchs dabei nicht nur der einzelnen Inschrift als solcher, denn auf die Detailforschung aufbauend ließen sich im Vergleich übergeordnete Zusammenhänge erschließen.11 Die Methode hatte sich bestens bewährt. Das Unternehmen leistete ganze Arbeit.

      Mit dem CIL revolutionierte Mommsen die Altertumswissenschaft aber auch noch in einer anderen Hinsicht. Wissenschaft war nun nicht mehr das Werk eines Einzelnen, sondern das arbeitsteilige Werk eines Unternehmens. Diese Neuerung war Mommsen bewusst: „Wir dürfen hier das Verdienst in Anspruch nehmen, dass wir nicht auf den Lorbeeren einer älteren Generation ruhen, sondern in frischem Schaffen fortfahren, auch wenn wir dabei unser altes Haus selber einreißen müssen.“12 Gleichwohl war die neue Arbeitsweise nicht immer freudvoll: „Die Wissenschaft […] schreitet unaufhaltsam und gewaltig vorwärts; aber dem emporsteigenden Riesenbau gegenüber erscheint der Arbeiter immer kleiner und geringer.“13 Durch die Arbeitsteilung konnte dem einzelnen „Wissenschaftsarbeiter“ rasch der Blick auf das „große Ganze“ entgehen. Auch wegen der Langfristigkeit der Unternehmung schwand die Bedeutung des Einzelnen. Man arbeitete einige Zeit für Mommsen, trat irgendwann aus seinen Diensten und wurde durch einen Nachfolger abgelöst. Gerade das hatte Mommsen aber gewollt: „Die Organisierung der Arbeit, sei es durch Sammlung der Materialien oder der Resultate, sei es durch Schulung der hinzutretenden Arbeitsgenossen, nimmt immer weiteren Umfang an und fordert vor allem jene Stabilität der Einrichtungen, die über die Lebensdauer des einzelnen Mannes hinaus den Fortgang der Arbeit verbürgen.“14

      Und sollte man die nunmehr erprobte wissenschaftliche Großorganisation nicht auch für andere Projekte fruchtbar machen können? Der Erkenntniszuwachs war so durchschlagend, dass es geradezu auf der Hand lag, dem Referenzmodell CIL weitere Unternehmen folgen zu lassen, so z.B. die Prosopographie der römischen Kaiserzeit, die Kommission für Numismatik, die Erforschung des Obergermanisch-Raetischen Limes oder ein Wörterbuch der römischen Rechtsgeschichte.15 Auch dort folgte Mommsen dem für die Altertumswissenschaft neuen Totalitätsideal, nach dem sich die Wissenschaft nicht mehr allein auf die textlichen Überlieferungen zu beschränken, sondern alle Hinterlassenschaften der Antike in den Blick zu nehmen hatte, um antikes Leben umfassend zu erforschen. Ziel war die vollständige Historisierung des Altertums.

      Der Preis für Arbeitsteilung und vollständige Historisierung war aber die „Entfremdung“ des Wissenschaftsarbeiters von der Geschichte, da jeder nur noch seinen hochspezialisierten Arbeitsbereich bearbeitete. Insofern liegt eine gewisse Paradoxie darin, dass das Totalitätsideal zwar für einen Modernisierungsschub sorgte, durch die nachfolgende Zersplitterung der Wissenschaft in verschiedene Unterdisziplinen aber wiederum der durch das Totalitätsideal angestrebte umfassende Blick auf das Leben schwand. Diese Entfremdung wurde schon von Zeitgenossen wie Burckhardt oder Nietzsche kritisiert. Auch Johann Gustav Droysen beklagte sich über die „Fabrikarbeit“, welche die an den Unternehmen Beteiligten leisten mussten. Indes, Mommsen ließ sich davon nicht beirren. Zu groß waren die Erfolge. Die Spezialisierung war für ihn schlicht der Preis, den der Wissenschaftler dafür zahlen musste. Eindrucksvoll bestätigt wurde Mommsen im Übrigen durch die Reaktion fachfremder Wissenschaftler, die sein Organisationsmodell übernahmen. Mittels internationaler wissenschaftlicher Kooperation sollten sich nicht nur im Rahmen der Altertumswissenschaften Erfolge erzielen lassen. Für sämtliche Wissenschaften bis hin zu den Naturwissenschaften wurde das Modell stilprägend.

      Angesichts der schieren Stoffmenge, die es für all diese Projekte zu bewältigen galt, kann es nur verwundern, dass Mommsen noch Zeit fand, „en passant“ bahnbrechende Werke wie das „Römische Staatsrecht“ (1871-1888) zu veröffentlichen. Das „Staatsrecht“ erschien von 1871 bis 1888 und füllte über 3.000 Seiten. In diesem Werk präsentiert Mommsen die römische Verfassung über etwa 1.000 Jahre als geschlossenes juristisches System, um so zu deren Wesenskern vordringen zu können. Bis heute ist dieser kühne Wurf die Grundlage der verfassungsgeschichtlichen Forschung, der bislang durch kein anderes Werk adäquat ersetzt werden konnte.16

      Selbst für politisches Engagement fand Mommsen noch Zeit. Ein Leben im Elfenbeinturm der Wissenschaft konnte er sich nicht vorstellen. Es zog ihn stattdessen in den 1860er und 1870er Jahren in den preußischen Landtag, von 1881-1884 gar in den Reichstag, wo er sich als waschechter Liberaler und „Altachtundvierziger“ präsentierte. Wie in der Wissenschaft ging Mommsen auch hier keiner Kontroverse aus dem Wege. So schimpfte er auf den „Junker- und Pfaffenstaat“, engagierte sich im „Berliner Antisemitismusstreit“ gegen seinen Kollegen Treitschke und dessen Verdikt „Die Juden sind unser Unglück!“ und verzweifelte am fehlenden Bürgersinn der Deutschen. Auch das Alter bedeutete nicht das Ende von Mommsens politischer Partizipation.17 Exemplarisch dafür steht sein Verhältnis zur Sozialdemokratie, der gegenüber er sich lange Zeit ablehnend verhielt. Noch während seines zweijährigen Italienaufenthalts hatte er für die Armut der Arbeiter keinen Blick gehabt und es vorgezogen, sich stattdessen über den schlechten Erhaltungszustand der Inschriften zu echauffieren.18 Doch kurz vor seinem Tod vollzog er öffentlich einen Paradigmenwechsel und warf sein Renommee für eine sozialliberale Koalition in die Waagschale. Um einen politischen Strauß auszufechten, musste Mommsen nicht im Parlament sitzen.

      Ermöglicht wurde diese immense Produktivität durch ein schon zu seinen Lebzeiten unter Zeitgenossen legendäres Arbeitspensum. Mommsen war schlicht der „Kärrner“ – also derjenige, der die entbehrungsreiche Arbeit eines Fuhrmanns verrichtete. Im Falle Mommsen wäre es vielleicht