Humboldts Innovationen. Группа авторов

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Название Humboldts Innovationen
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Жанр Документальная литература
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Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783940621542



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Naturphilosophie Schellings und Hegels42 stellte. Virchow vertrat selbstbewusst seine Ansichten einer Medizin auf der Grundlage von Mechanik und Physik, was zwar eine interessante Innovation war, jedoch damals auf wenig Gegenliebe stieß. Seiner wissenschaftlichen Karriere konnte das noch keinen Schaden zufügen, auch weil Virchow sich gerade mit der Herausgabe des „Archivs für pathologische Anatomie und Physiologie und für klinische Medizin“ einen Namen gemacht hatte.

      Nach der Beauftragung durch die preußische Regierung packte er umgehend seine Sachen, um sich auf den Weg zu machen. In Oberschlesien wurde er alsdann mit der „Sozialen Frage“ konfrontiert. Überall sah er die Folgen von Volkselend und ausbeuterischen Arbeitbedingungen in den Fabriken. Ganze Familien konnten ihre Kinder nicht ernähren, Krankheiten entwickelten sich zu Seuchen. Doch aus der Sicht Preußens gehörte dies zum normalen Lauf der Industrialisierung, den man weder aufhalten wollte noch konnte. Virchow, der sehr neugierig auf die Erfahrung in Oberschlesien gewesen war, war schockiert. Das erlebte Elend machte ihn wütend. Irgendwer musste für die Menschen dort doch eintreten. In seinem abschließenden Bericht legte er der Regierung eine „volle und unumschränkte Demokratie“ sowie „Bildung mit ihren Töchtern Freiheit und Wohlstand“ ans Herz, da dies seiner Meinung nach der einzige Ausweg aus der gesellschaftlich verschuldeten Krankheit des Volkes sei. Virchow charakterisierte die Epidemie in Oberschlesien als künstliche Seuche, geschaffen durch die gesellschaftlichen Umstände, an denen die Regierung ihre Mitschuld trage.43 Dies war eine ungeheuerliche Anschuldigung zum damaligen Zeitpunkt und dann auch noch durch einen von der Regierung beauftragten Arzt. Es war eine höchst explosive Behauptung, die Virchow da vorbrachte. Wie konnte ein Angestellter des Preußischen Staates so unverfroren in die Hand beißen, die ihn eigentlich füttern wollte? Doch wirklich ernst genommen wurden seine Schlussfolgerungen aus der Untersuchung der Epidemie nicht. Zudem konnte man auch gar nicht „angemessen“ reagieren, da in Berlin bereits ganz andere Dinge drunter und drüber gingen. Kaum war Virchow nach Berlin zurückgekehrt, wurde er sofort von den Ereignissen um die Märzrevolution aufgesogen, die bereits seit dem 6. März 1848 in Berlin brodelten.

      Doch die Forderungen nach einem einheitlichen, parlamentarischen Nationalstaat als auch der Lösung der Sozialen Frage ließen Virchow gerade nach den Erlebnissen in Oberschlesien nicht unberührt. Er ging selbst auf die Barrikaden und schlug sich auf die Seite der radikalen Linken. Im Zuge dieser Verwicklungen wurde für Virchow die Forderung nach einer Lösung der sozialen Missstände und der Beginn eines „sozialen Zeitalters“ immer wichtiger. In seiner eigenen Wochenzeitschrift „Die medicinische Reform“, die er zusammen mit dem befreundeten Psychiater Rudolf Leubuscher kurze Zeit herausgab, forderte er u.a. eine einheitliche medizinische Gesetzgebung, ein Reichsministerium für die öffentliche Gesundheitspflege und eine radikale Reform des Gesundheitswesens. Sein anfänglich ausschließlich medizinisches Glaubensbekenntnis ging immer stärker in seinen politischen und sozialen Überzeugungen auf. „Wer kann sich darüber wundern, dass die Demokratie und der Sozialismus nirgend mehr Anhänger finden, als unter den Aerzten? Dass überall auf der äussersten Linken, zum Theil an der Spitze der Bewegung, Aerzte stehen? Die Medicin ist eine sociale Wissenschaft, und die Politik ist weiter nichts, als Medicin im Grossen.“44 Virchow kämpfte für seine Ideen und er fand eine Vielzahl von Mitstreitern, die er im Laufe der Zeit immer und immer wieder motivieren konnte, sich auf seine Seite zu schlagen und seinem „sozialen Zeitalter“ anzuschließen. Trotz allem Enthusiasmus erwiesen sich seine ersten politischen Unternehmungen jedoch zunächst als Fehlschläge und Virchow, bereits unbeliebt durch seinen Oberschlesien-Report, hatte nun den Bogen gehörig überspannt. Das hauptstädtische Pflaster wurde ihm entschieden zu heiß. Man hatte ihm bereits sein Amt als Prosektor an der Charité45 entzogen und so nahm er dankbar den Ruf an die Universität in Würzburg an.

      Auch sein Beginn in Würzburg, Haeckel konnte sich nur zu gut daran erinnern, war nicht ganz so einfach, wie erwartet. Als er im November 1849 seine Arbeit am Juliusspital aufnahm, war sein Ruf ihm bereits vorausgeeilt und man beäugte den Rebellen aus Berlin äußerst kritisch. Bevor man ihn anstellte, musste er versichern, dass er „bei sich etwa ergebener Gelegenheit nicht auch Würzburg zum Tummelplatz seiner früheren kundgebenden radikalen Tendenzen“46 machen würde. Virchow gelobte keine radikalen oder revolutionären Ausbrüche, sondern versprach: „Ich habe keine Absichten, Politiker der Profession zu werden. – Bis jetzt habe ich keinen politischen Ehrgeiz“.47

      In seinen „sieben fetten Jahren“ in Würzburg schuf Virchow den größten Teil seines gesamten medizinischen Vermächtnisses. Er gab 1851 die „Jahresberichte über die Leistungen und Fortschritte der gesammten Medicin“ heraus, sowie vier Jahre später das „Handbuch der speciellen Pathologie und Therapie“, welches die Grundidee der modernen Medizin prägte, dass Krankheiten allein auf der Störung von Körperzellen basieren und Zellen somit die kleinsten autonomen Einheiten des gesunden und kranken Lebens sind. Sein medizinisches Werk war vollbracht. Die Jahre in Würzburg hatten ihn zu einem allseits anerkannten Pathologen und Professoren mit einem hoch angesehenen Kollegium gemacht. Seine Studenten verehrten ihn für seinen Forschergeist und seine modernen politischen Auffassungen, die er natürlich auch weiterhin nicht verschwieg, wenn er sie auch nicht so offen zu Schau trug, wie in Berlin. Nur hin und wieder ließ er sich noch zu kleinen politischen Spitzen hinreißen. In Haeckels Augen wurde er zum Prototyp eines objektiven, sachlichen und nüchternen Wissenschaftlers. In einem Brief an seine Eltern schrieb der Assistent: „Kann Virchow wohl je so eines entzückenden Genusses sich erfreuen wie ich ihn so oft in meiner subjektiven Naturbetrachtung, sei es einer schönen Landschaft oder eines allerliebsten Tierchens oder einer niedlichen Pflanze genießen? Sicher nicht! Auch müsste es schrecklich auf der Welt sein, wenn alle Männer so nüchtern und verständig wären […].“48 Auch an die Verbohrtheit und die stoische Gelassenheit, mit der sich Virchow der Dinge annahm, konnte sich Haeckel nur zu gut erinnern. Schließlich widersprach dieser Wesenszug des Professors seinem eigenen von Grund auf. Vermutlich wurden sie deshalb auch nie richtig warm miteinander. Dennoch hoffte Haeckel, dass eben diese Eigenschaften des Arztes irgendwann auch auf sein eigenes hitziges, unruhiges und emotionales Gemüt abfärben würden. „Alles sieht er so fabelhaft ruhig, ungerührt und objektiv passiv an, daß ich seine [Virchows] außerordentliche stoische Ruhe und Kaltblütigkeit täglich mehr bewundern lerne und bald ebenso hoch schätzen werde wie die außerordentlich klare Schärfe seines Geistes und den Überfluß seines Wissens. Wenn er meinem überschäumenden Sprudelgeist nur etwas abgeben könnte.“49 Und obwohl Haeckel Virchows Distanz und Gefühlskälte immer sehr bedauerte und in seinen Briefen auch oft kritisierte, lobte er vor jedermann die „göttliche Ruhe, seine Kälte und Konstanz mit der er [Virchow], immer gleich bleibend, alle Dinge höchst objektiv und klar auffasste.50 Gerühmt wurde er außerdem von seinen Studenten für seine Gradlinigkeit und seine Fähigkeit, Kritik an seiner Person zu respektieren.

      1856 bat man ihn, an die Charité in Berlin zurückzukehren. Man wollte dem rebellischen Arzt von damals eine weitere Chance geben, nun, da er einiges an Bekanntheit erlangt hatte. Außerdem war die Revolution von 1848 jetzt eine geschlossene Akte. Die Monarchie war wieder gefestigt und man war sich sicher, dass Virchow sich seine revolutionären Hörner endlich abgestoßen hatte. Zu diesem Zweck schuf man ihm und seinen Mitarbeitern ein eigenes Pathologisches Institut an der Charité. Bereits zwei Jahre später konnte er vor den Berliner Ärzten seine Vorlesung über „Die Cellularpathologie in ihrer Begründung auf physiologischer und pathologischer Gewebelehre“ halten, aus welcher noch im selben Jahr sein weltbekanntes Werk: „Die Cellularpathologie“ hervorging. Mit diesem innovativen Konzept prägte er eine vollkommen neue Krankheitslehre. Zudem war der sture Arzt ein leidenschaftlicher Sammler pathologischanatomischer Präparate. Virchow bezeichnete sie als sein „liebstes Kind“, denn für ihn waren sie eine Dokumentation des erreichten Wissensstandes seines Fachgebietes. Inspiriert durch britische Ärzte, die ebenfalls medizinische Präparate sammelten, wollte er seine Sammlung vergrößern und ausbauen, um sie später auch der Öffentlichkeit vorführen zu können. Sein aufklärerischer Gedanke hinter dieser Anhäufung von Feucht- und Trockenpräparaten war so einfach wie einleuchtend: Er wollte der breiten Bevölkerung das Wissen und Verständnis um Gesundheit und Krankheit anschaulich machen, denn dies war in seinen Augen ein wesentlicher Bestandteil der menschlichen Kultur. Heute ist das eine der natürlichsten Vorstellungen der Welt. Zu