Название | Autopsie |
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Автор произведения | Viktor Paskow |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783943941555 |
Sieglinde war verrückt wie eine ganze Herde wild gewordener Ziegen. Absolut irre. An jenem Abend saß sie zusammen mit einer dünnen Statuette im »Einäugigen« am Nebentisch, blond und lockig wie ein Albinoafrikaner, mit bis zum Bauchnabel aufgeknöpftem, kariertem Männerhemd, aus dem freimütig zwei kleine, wie Weihnachtskugeln runde Brüste hervorschauten.
Die beiden ließen sich mit Bier und Doppelkorn volllaufen, steckten sich die Zungen in die Ohren, Nasenlöcher und Münder und begrapschten sich, dass die Wände wackelten. Sie waren vollkommen betrunken.
Der »Einäugige« war bis unter die Decke gerammelt voll mit echten und selbsternannten Musikern, Künstlern, Literaten, Regisseuren und ehemaligen Spitzeln, die aus Gewohnheit herkamen oder einfach, weil sie sonst nirgends hinkonnten. Unter den beiden kahlen, grünlichen Lampen, die von der Decke hingen, breitete sich ein Schleier von dichtem Zigarettenrauch aus. Jeder bemühte sich, seinen Nachbarn zu überschreien. Aus der Anlage dröhnte primitive Diskomusik. Niemand schenkte Sieglinde und der Statuette Beachtung. So ein Anblick war in diesem Teil von Berlin nichts Besonderes. Das Publikum war viel zu egozentrisch und mit sich selbst und seiner eigenen Verrücktheit beschäftigt. Nur die dicke Kellnerin mit dem Sumoringerbizeps kam von Zeit zu Zeit, um die leeren Gläser abzuräumen, knallte angewidert die neuen Halben auf den Tisch und zog sich würdevoll zurück. Die beiden machten hinter ihrem Rücken unanständige Gesten, streckten ihr die Zunge raus und kicherten wie Hexen.
Christoph und ich saßen am Nebentisch, gafften die Hündinnen an, und uns triefte der Speichel aus dem Mund:
»Hey, seid ihr schwul?«, rief uns die Kleine zu.
»Ich bin schwul. Aber er hier nicht«, antwortete Christoph schnell.
»Warum nicht?«, empörte ich mich. »Tief in mir drinnen bin ich schwul!«
»Nein, bist du nicht! Du bist Bulgare und viel zu primitiv.«
»Ihr glotzt uns schon die ganze Nacht an und habt einen Ständer«, meldete sich Sieglinde. Ihre Stimme war tief und leicht heiser. »Das ist doch keine Peepshow? Und wer zahlt am Ende die Rechnung?«
»Er hier wird sie bezahlen, weil er pervers ist. Ich bin nur eine gewöhnliche Schwuchtel«, erklärte Christoph.
»Gut, ich werde bezahlen. Können wir uns zu euch setzen?«
»Wenn du eine Runde Champagner ausgibst!«
Champagner ist ein hinterhältiges Getränk. Nach dem zweiten Glas sitzt du plötzlich vor der dritten Flasche. In deinem Gehirn zerplatzen die Bläschen. Deine Phantasie arbeitet wie ein Staubsauger. Sie saugt den ganzen Müll aus der Umgebung auf, und du hast das Gefühl, dass du Orchideen isst.
Am nächsten Morgen fanden wir vier uns nackt und bibbernd auf Christophs Matratze in seiner Katastrophenwohnung in der Borodinstraße wieder. Nur eine Querstraße von seiner jetzigen Höhle entfernt. In diesem Viertel tragen alle Straßen Namen von Komponisten.
Im Zimmer lag nur diese riesige Matratze ausgebreitet. Ein Tisch, ein Stuhl und der Kontrabass mit dem Notenständer standen in der Ecke.
Von hier ging ein kleiner Korridor aus, der in einer Zwei-mal-zwei-Meter-Küche endete. Es folgte ein Miniaturklosett mit kaputter und verrosteter Schüssel, an dessen Tür Christoph mit einem Reißnagel sein Lieblingsbild gepinnt hatte: ein kahles und grinsendes Männlein mit einem riesigen erigierten Glied, auf dem es mit dem Bogen eines Kontrabasses spielt. Am unteren Ende der Matratze stand eine Kiste Champagner mit zwei vollen und zehn leeren Flaschen.
Mein Kopf schmerzte brutal. Ich hatte keinerlei Erinnerungen. Ich streckte mich, öffnete die eine Flasche und nahm einen kräftigen Schluck. In unseren Kreisen nennt man so was »Sektfrühstück«. Allmählich wurde ich klar. Die Dinge kamen an ihren Platz. Ich betrachtete die beiden Mädchen, die sich wie Kinder aneinanderklammerten. Ich überlegte.
Diese nackte Maja mit den Schenkeln und den Brüsten war Sieglinde. Die Bildhauerin. Die Gelockte neben ihr mit dem knabenhaften Körper war Fine. Eine Ballerina.
Der schnarchende dicke Barockengel neben ihnen war Christoph.
Mein Freund und ein Genie.
Fine und Sieglinde waren Mann und Frau. Ich kann mich allerdings nicht mehr erinnern, wer der Mann war und wer die Frau. Welche Rolle spielten Christoph und ich in diesem Durcheinander? Hatten wir sie gevögelt? Hatten sie sich gevögelt? Nicht, dass Christoph und ich ... oh, nein! Nein! Nein! Nein!
... Ich hatte Fine wohl eine Festanstellung im Theater versprochen, wenn ... ach, zum Teufel mit Fine!
Ich schlüpfte schnell in Jeans, Pullover und Espadrilles und schlich mich möglichst schnell die baufälligen Stufen aus dem vierten Stock hinunter zur Eingangstür.
Drei Tage später fiel die morgendliche Probe aus, und ich machte mich auf den Weg zu Christoph, um zu sehen, ob sich nicht irgendein gemeinsamer Gig abzeichnete. Der Vorfall hatte keine Spuren in meinem Bewusstsein hinterlassen. Oder zumindest maß ich ihm keine Bedeutung zu.
Ich stieg die vier Stockwerke hinauf und schob die Tür auf, die Christoph nie abschloss. Wie sollte er sie auch abschließen, wenn das Schloss fehlte?
Im kleinen Korridor war niemand. Aus dem Zimmer war ein Singsang zu hören. Ich schaute hinein und sah Sieglinde, die nackt auf der Matratze lag, die Arme unter dem schwanengleichen Hals verschränkt, und ein Kinderlied vor sich hin trällerte.
»Wo ist Christoph?«
»Unten im Bad.«
Das Bad war im Keller installiert, und Christoph ging regelmäßig nackt hinunter, nur mit einem Handtuch bekleidet. Daran war nichts Schlechtes. Das Haus wurde nur von Künstlern bewohnt, die nicht weniger verrückt waren als er.
»Was machst du hier?«
»Ich erfülle meine Pflichten als Frau. Ich habe mich mit Christoph verlobt. Ich liebe ihn.«
»Und Fine? Ihr seid doch Mann und Frau?«
»Fine toleriert unsere Beziehung. Sie respektiert meine Persönlichkeit. Ich liebe auch sie.«
»Du kannst nicht Fines Mann und Christophs Frau sein!«, ich wurde ärgerlich. »Das ist Bigamie!«
»Wo liegt das Problem? Übrigens, du siehst mich lüstern an.«
Ich geriet durcheinander. Natürlich sah ich sie lüstern an. Welcher Mann würde die nackte Maja nicht lüstern ansehen?
»Wenn du Liebe machen willst, dann zieh dich aus und leg dich zu mir.«
»Ich dachte, du liebst Christoph?«
»Du kommst aus Südeuropa und bist primitiv. Wenn du ein Freund von Christoph bist, warum soll ich dir dann nicht einen Gefallen tun? Wo liegt das Problem?«
Christoph kam nackt herein, er schnaubte und verspritzte Wassertropfen.
»Sie schlägt mir vor, mich auszuziehen und mich zu ihr zu legen. Ein Freundschaftsdienst. Was sagst du dazu?«
»Ja, und? Oder gefällt dir meine Verlobte etwa nicht?«, er wurde wütend. »Ist dieser Körper etwa nicht vollkommen?«
»Mein Geist und meine Seele sind noch vollkommener«, erklärte Sieglinde.
»Sie stehen über allem Irdischen. Jetzt sprechen wir von der Verpackung. Also, was ist? Ist sie schön oder nicht?«
»Das niedrig gewachsene, schmalschultrige, breithüftige und kurzbeinige Geschlecht das schöne zu nennen, dies konnte nur der vom Geschlechtstrieb umnebelte männliche Intellekt fertigbringen!«, suchte ich bei Schopenhauer Hilfe.
»Oh mein Gott, der ist ja wirklich schwul!«, kreischte Sieglinde und spreizte die Beine weit. »Was stimmt nicht mit meinen Hüften?« Sie schüttelte ihre Schultern, und ihre Brüste begannen zu tanzen wie die Konkubinen vom Brocken in der Walpurgisnacht. »Was stimmt