Название | Autopsie |
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Автор произведения | Viktor Paskow |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783943941555 |
»Auf geht’s, Jungs.«
Stefan, Dančo, Sergi, Žoro der Bassist und Naso die Pauke stiegen aufs Podium. Nach gewissem Zögern schloss sich ihnen auch Bojan an, er nahm vorsichtig Harrys Porträt vom Stuhl, küsste es, stellte es auf das Tischchen neben der Bühne und setzte sich hinter die Hammondorgel.
Naso zählte vier Takte mit den Drumsticks ab, Sergi hob das Flügelhorn an, spielte die ersten drei Töne forte, und die anderen stimmten gemeinsam im vierten ein: »Oh, when the saints«.
Sie donnerten los wie sechs von Musik, Hitze und Maisschnaps wild gewordene Neger aus New Orleans, und von der Bühne floss die heiße Lava der Lebensfreude, des schwarzen Leids, der Begeisterung, des Protests, der Exaltation, des Triumphs, der orgiastischen Trauer, der Besessenheit, des Wahnsinns ... die Heiligen marschierten! Sie marschierten! Marschierten in geschlossenen Reihen vor meinen Augen vorbei, ihre Heiligenscheine wackelten unter Nasos Trommelfeuer, und Harry sah uns vom Porträt aus mit seinen fröhlichen Augen an, die gleichsam schrien: »Let’s go, monkeys! Ihr könnt viel mehr!«
Einer nach dem anderen stiegen alle auf die Bühne, um ein Abschiedssolo an Harry zu richten. Die Atmosphäre heizte sich auf, die Augen der Frauen begannen zu funkeln, die Musiker tobten und wurden immer wilder.
Kiro der Barkeeper zündete die Kerzen auf der Theke und auf den Tischen an und löschte die Beleuchtung. Die langen Schatten der auf der Bühne Spielenden und auf der Tanzfläche Tanzenden verstrickten sich auf groteske Weise an den Wänden. Es roch nach Schweiß, Parfüm, Tabakrauch, Ouzo, Gin, Instrumentenfett und Wein.
Irgendwann nickten Benny und Žoro der Kontrabass mir zu, ich solle zu ihnen hinaufsteigen.
Ich befreite mich aus Inas Umarmung, nahm das Saxophon von Stefan, blies zwei, drei Töne, um das Rohrblatt zu testen, und stieg hinauf.
»Das nächste Stück«, verkündete Benny am Mikrophon, »ist eine Einladung an alle, die die Buchtel mochten und die mit irgendetwas musizieren können. Mit dem Kamm, mit dem Mund, mit den Fingern. Jeder, wie er kann. Los geht’s, Naso!«
Die Tanzfläche leerte sich.
Es trat Stille ein.
Im glühendheißen Halbdunkel begann Naso auf der kleinen Trommel einen forschen, abgehackten Sechsachteltakt abzuzählen.
Beim dritten Takt setzte dumpf und geheimnisvoll Žoro der Kontrabassist ein: eine Achtelnote ... Pause ... eine Achtelnote ... Pause ... zwei Achtelnoten ... Pause ...
»Bolero« von Ravel.
Benny beugte sich zum Mikrophon hinüber, setzte die Flöte an die Lippen, und aus ihnen floss jene endlose Melodie, die aus dem Nichts kommt – geheimnisvoll, sinnlich, warm wie eine spanische Nacht, voll unsichtbarer Gefahr und dunkler Leidenschaft, voll zauberhafter Beschwörung und der Vorahnung von etwas, das sich einschleicht, lauert und unwiderruflich ist ... voll trauriger Mahnung und finsterer Feierlichkeit, ein Messer, Nacht und böses Blut! – ein und dieselbe stolze Melodie ohne Modulationen, die von jedem folgenden Instrument feierlich aufgenommen und wiederholt wird, sich immer lauter und immer finsterer hinaufschwingt, der Rhythmus der kleinen Trommel wird immer abgehackter und immer schärfer, bis sich am Ende die Instrumente in einem Forte zusammenfinden, in der zu riesigen Ausmaßen aufgeblasenen Sphäre der Melodie: exaltiert, schaudernd und verdammt ... dann donnern alle gemeinsam im Finale los, in der einzigen unheilvollen Modulation dieses furchterregenden Stücks, in dem Melodie, Rhythmus und Tanz gleichzeitig in den schwarzen Schlund des endlosen Nichts stürzen.
Benny spielte das Thema und machte mir Platz. Ich machte einen Schritt nach vorn, biss ins Mundstück, wartete darauf, dass mir Žoro die zwei Achteltakte auf dem Bass abzählte, und nahm mein Thema im mittleren Register auf: ein warmer und gerundeter Ton, ein ruhiger und langer Luftstrom, eine immer noch weiche Replik auf die Flöte in Mezzoforte.
In diesem Moment stand Ina von ihrem Platz am Ende des Séparées auf und bewegte sich wie unter Narkose, oder als würde sie jemand fernsteuern, in Richtung Tanzfläche.
Sie blieb in der Mitte des Kreises stehen, stemmte die Hände in die Hüften, beugte den Kopf vor und schüttelte ihn.
Ihr Haar ergoss sich auf ihr Gesicht und verdeckte es.
An der Stelle, wo ich zu den Triolen gelangte, die ich in kaum merklich verlangsamtem Tempo spielte, begann sie, sich wie im Traum um die eigene Achse zu drehen und ihr Jackett mit fast unsichtbaren Zuckungen der Schultern auszuziehen, die genau der Stilistik der Triolen entsprachen.
Als ich das Thema beendete, fiel ihr rotes Jackett weich zu Boden.
Sergi stieg auf die Bühne.
Im Saal herrschte so dichtes Schweigen, dass man es wie Teig mit den Händen kneten konnte.
Sergi hob das Flügelhorn an und spielte erneut das Solo der Flöte – mit geschlossenen Augen und einem Ton wie eine Kugel funkensprühenden schwarzen Pechs im Mondschein.
Nach den ersten beiden Takten, sie drehte sich immer noch langsam um sich selbst, knöpfte Ina ihre schwarze Bluse ganz auf und warf den Kopf in den Nacken. Die dichten Wellen ihrer marsroten Haare ergossen sich auf ihre nackten Schultern, und ihre Brüste, die nur zur Hälfte von den schwarzen Körbchen des BHs bedeckt wurden, erstrahlten im weichen, gelblichen Licht der zwei Dutzend Kerzen.
Sergi beendete seinen Part, und Dančo der Posaunist nahm seinen Platz ein.
Während er sanft den Zug der Posaune bewegte, wobei er mein Thema mit krankhafter Leidenschaft wiederholte, fiel Inas Bluse von ihren Schultern und sie nestelte am Reißverschluss ihres Rocks herum.
Ihre Schenkel bewegten sich im Takt der Achtelnoten und der Pausen des Kontrabasses, und wenn das ein Striptease sein sollte, dann war es der seltsamste Striptease, den ich je gesehen hatte ... vor unseren Augen spielte sich eher eine liturgische Pantomime ab, ein tragisch-erotischer Tanz, ganz im Geiste von »Bolero«.
Nur noch mit schwarzem BH, Hüftgürtel, schwarzen Strümpfen und schwarzen hochhackigen Schuhen bekleidet, begann Ina anfangs scheu, später immer nervöser und konvulsivischer ihre Schenkel, ihre Brüste und den unteren Teil ihres Bauchs zu streicheln.
Ihre Schuhe flogen zur Seite davon.
Benny und ich stimmten gemeinsam ins Thema ein, das in seinem Klang und seiner Dynamik immer aggressiver, in seiner Idee immer zermürbender wurde. Ihr BH fiel, und ihre Brüste begannen frei und unersättlich, über der schmalen Taille zu schwingen.
Mein Zwerchfell verkrampfte sich.
Ich wünschte, sie würde das nicht tun.
Gleichzeitig war ich ganz ergriffen von der Tragik ihres Sex-Appeals, ich erkannte, dass diese erotische Darbietung ihr Solo war, ihr letzter Gruß an die Buchtel, ihr Teil des gemeinsamen Musizierens, und dieser Wahnsinnskörper war tatsächlich ihr Instrument, auf dem sie besser spielte als wir alle zusammen.
Als wir »tutti« mit voller Kraft einstimmten und die letzten Takte unserer durchdringenden Melodie entfalteten, stand sie nur noch im Netzslip da und drehte sich mit ausgebreiteten Armen um die eigene Achse, immer schneller und schneller. Und in dem